Aus der griechischen Staatsschuldenkrise sollten Europa und Griechenland vor allem eines lernen: Dass es für die komplexe Mischung von finanztechnischen Regelwerken, grundsätzlichen Fragen und historischen Voraussetzungen nur eine gemeinsame Lösung geben kann.
Seit Monaten verfolgen wir, was einige als griechisches, andere als europäisches Drama bezeichnen und was in jedem Fall ein sehr reales Drama für viele Menschen in Griechenland ist. Dieses Drama zieht sich hin von Termin zu Termin, sozusagen im Wochentakt von Gipfel zu Gipfel. Und dazwischen die vielen Meldungen darüber, wer mit wem telefoniert hat. Jedes Mal denkt man, dass es nun der letzte Gipfel sei, doch schon jetzt hören wir, dass es kommenden Sonntag wieder ein Treffen auf höchster Stufe geben wird und dies – nach den letzten Terminen – nun der allerletzte sei.
Am Mittwoch gab es in Strassburg zudem so etwas wie einen Parlamentsgipfel, was auch gut war, weil man feststellen konnte, dass die Schuldenkrise nicht nur Regierungskonferenzen beschäftigte. Der liberale Belgier Guy Verhofstadt rief in dieser Debatte dem griechischen Premier zu, er solle sich überlegen, als was er in die Geschichte eingehen wolle: als echter Leader oder als falscher Prophet, als verunglücktes Wahlergebnis, das zur Verarmung der eigenen Leute führte, oder als revolutionärer Reformer.
Die Geschichte ist in dieser Krise überall präsent: als Vergangenheit mit der Frage, wer wann mit den Fehlern begonnen hat, die heute ausgebadet werden müssen; als Gegenwart, weil man meint, dass jetzt gerade Historisches passiert oder entschieden werden sollte; und als Zukunft mit der Meinung, dass die Geschichte dem einen oder anderen schon noch Recht oder Unrecht geben werde.
Ein Grexit ist für die EU nicht systemrelevant
Kein Zweifel: Griechenland und Europa durchlaufen insofern «historische» Tage, als sie sich in einer Phase befinden, in der Entscheide von grösserer Tragweite gefällt werden. Weichenstellungen. Für Griechenland steht sicher mehr und stehen direktere Konsequenzen auf dem Spiel als für die EU. Der griechische Staatsbankrott, der wohl zum Austritt aus der Eurozone führen würde, erscheint im Moment für die Zone der Gemeinschaftswährung und für die EU ohne grössere Negativfolgen verkraftbar, er wäre, wie es im Fachjargon heisst, nicht systemrelevant.
Politisch wäre der Schaden freilich grösser. Die Dynamik der «immer engeren Union» (ever-closer union), wie in allen EU-Grundpapieren festgehalten, bekäme einen Dämpfer. Wir würden nicht nur wie bisher einen gewissen «Stillstand» erleben, sondern die Erfahrung machen, dass es auch Rückgang gäbe. Dies erscheint umso problematischer, als in Grossbritannien ebenfalls über Rückbau nachgedacht wird.
Der politische Schaden wäre so gross, wie man ihn triumphierend herbeireden will und wie man ihn nicht beschwichtigend wegreden kann. Und da gibt es in ganz Europa (inklusive der Schweiz) genug Leute, die in der aktuellen Krise gerne einen Beleg für die «Fehlkonstruktion» der EU sehen wollen. Es war eindrücklich zu sehen, wie der griechische Premier Tsipras am Mittwoch in Strassburg sowohl von der äusseren Linken als auch der äusseren Rechten (Le Pen/Farage) Unterstützung erhielt, weil diese Kräfte die EU demontieren wollen.
Für die radikale Linke steht allerdings nicht die EU an sich zur Disposition, für sie funktioniert sie nach falschen Prinzipien. Dieser Prinzipienstreit wird auch innerhalb von Nationen geführt und ist alt, mindestens so alt, wie die ausformulierte Kontroverse, ob man Spar- und Austeritätspolitik oder ob man «deficit-spending» à la Keynes betreiben soll. Und da ist es nicht so, dass die Geschichte der einen oder der anderen Position recht gegeben hat, weil es Beispiele für Erfolg und Misserfolg in der einen wie in der anderen Richtung gibt.
Wir haben nun schon recht viel Zeit zur Verfügung gehabt, um endlich zu begreifen, was in und mit Griechenland abgeht. Wir konnten jeden Tag etwas dazulernen. Was wissen wir jetzt? Und wissen wir «es» jetzt? Begreifen müssten wir eine höchst komplexe Mischung von finanztechnischen Regelwerken, grundsätzlichen Fragen, historischen Voraussetzungen, aktuellen sozialen Auswirkungen usw. Vielleicht möchten wir das einfach an sich begreifen, wahrscheinlich aber wollen wir wissen, auf welche Seite wir uns innerlich stellen sollen.
Auf welche Seite? Da haben wir schon das Problem, überhaupt die Seiten zu erkennen. Griechenland versus Europa? 18 geeinte Euro-Staaten versus ein widerborstiges Euro-Mitglied? Norden gegen Süden? Neoliberale plus verbürgerlichte Sozialdemokraten contra Marxisten? Merkel gegen Tsipras?
Hauruck-Geschichten sind keine Lösung
Und was bewirkt nun das Andauern der Krise? Waren wir am Anfang mit leichter Selbstverständlichkeit der Meinung, dass eben zahlen müsste, wer Schulden gemacht hat? Oder haben wir begriffen, dass die benötigten Kredite aus Europa fast ausschliesslich als Schuldendienste wieder nach Europa zurückfliessen und die Griechen selber davon real nichts haben? Und ist bei uns die Einsicht gewachsen, dass man einem Schuldner zuerst die Möglichkeit geben muss, Erträge zu erwirtschaften, die es ihm dann ermöglichen, Schulden abzubauen?
Oder bestätigen die tagtäglich eintreffenden Meldungen, dass absolut richtig ist, was wir schon immer gedacht haben, etwa in dem Sinn, dass der Kapitalismus skrupellos und ausbeuterisch das Recht des Stärkeren ausschöpft, oder dass die Schuldner ebenso skrupellos und ausbeuterisch auf Kosten anderer leben? Im «Speaker’s Corner» der TagesWoche hat SP-Nationalrat Cédric Wermuth den Moment für gekommen erklärt, den gordischen Knoten, an dem wir alle seit Längerem herumnesteln, zu zerhauen. Den gordischen Knoten? Eine griechische Metapher ist rhetorisch immer gut. Doch wird sie der aktuellen Problemlage auch gerecht?
Die Redewendung steht für eine kühne Handlung, die mit energischen und unkonventionellen Mitteln ein unlösbar scheinendes Problem zu überwinden vermag. Sie geht auf eine Alexander dem Grossen zugeschriebene Tat zurück, die darin bestanden haben soll, dass dieser Held im 3. Jahrhundert vor Christus die kunstvoll verknüpfte Verbindung an einem phrygischen Streitwagen mit kühnem Schwung seines Schwertes durchschlug. Als Alternative zu dieser Hauruck-Geschichte gibt es allerdings auch noch eine Legendenvariante, wonach der grosse Alexander nicht so martialisch und feldherrisch, sondern mit ziviler Schlauheit den Knoten zu lösen verstanden habe.
«Wir präsentieren ihnen unsere Argumente, sie antworten uns mit Regeln», klagt der neue griechische Finanzminister Tsakalotos.
Wer soll in der aktuellen Herausforderung den gordischen Knoten zerhauen? Ein solitärer Held à la Alexander wird es nicht sein können. Auch das griechische Volk kann das nicht. Es sieht so aus, dass die verschiedenen Seiten ihre, wenn auch kleinen, Handlungsspielräume nutzen müssten und sich so der Knoten in einer problemzentrierten Gemeinschaftstherapie lösen könnte. Lernen müssten dabei eigentlich beide Seiten. Es prallen allerdings unterschiedliche Verständnisse aufeinander, die in der Klage des neuen griechischen Finanzministers Efklidis Tsakalotos zum Ausdruck kamen, als er sagte: «Wir präsentieren ihnen unsere Argumente, sie antworten uns mit Regeln.»
Während die griechische Seite darauf achten muss, dass sie die zum Teil auch selbst erzeugten Erwartungen der sie unterstützenden Wählerschaft erfüllt, muss die Gegenseite vor allem darauf achten, dass die im Fall von Griechenland getroffene Lösung mit den für andere Euroländer geltenden Regeln vereinbar ist. Zudem müssen auf dieser Seite, speziell in Deutschland, ebenfalls Wählerschaften im Auge behalten werden.
Was heisst in unserem konkreten Fall denn ein Zerhauen des Knotens? Könnte das ein sogenannter Schuldenschnitt zum Beispiel mit einem Teilerlass von 30 Prozent sein, damit man, wie es heisst, «von vorne» beginnen kann, entweder mit der realen Stärkung der griechischen Wirtschaft oder mit der Wiederholung alter Fehler? Oder heisst Zerhauen, dass man sich so friedlich wie möglich trennt und als flankierende Massnahme wenigstens ein humanitäres Hilfsprogramm zur Verfügung stellt?
Jetzt ist Kompromissbereitschaft gefragt
Diese beiden Grobvarianten sind relativ kurzfristige Szenarien. Cédric Wermuth sieht aber – wie übrigens die griechische Regierungspartei Syriza – einen ganz anderen, ganz grossen gordischen Knoten vor sich und eine entsprechend grosse, beinahe herkuleische, jedenfalls doch einige Zeit beanspruchende Aufgabe: die Neuausrichtung der EU auf ein «Europa der Menschen» statt ein «Europa der Finanzmärkte». Dies aber ist sicher nicht zu lösen bis zu einem der wichtigen Fälligkeitstermine vom 20. Juli in der brennenden Schuldenkrise. Das Gegenargument: Einmal muss man damit beginnen.
Der im Europäischen Parlament vor die historische Verantwortung gestellte Tsipras würde sich sicher nicht selber für die Verarmung von Griechen verantwortlich sehen, natürlich auch nicht als falschen Propheten, aber durchaus als Reformer und echten Leader, was er mit seiner fast genialen Unverfrorenheit ja auch ist. Ihn könnte jedoch gerade die Überzeugung, eine historische Mission zu haben, daran hindern, den erfolgversprechenden Weg zu gehen, das heisst, nach den Erstauftritten der Unbeugsamkeit jetzt mit konkreter Kompromissbereitschaft Sparmassnahmen im erwarteten Ausmass anzunehmen und im Gegenzug die benötigte Erstreckung für den Schuldenabbau zu bekommen.