Die Proteste in Brasilien sind die Fortsetzung des Widerstandes, der längst gegen die WM 2014 angefangen hatte. Im Kleinen. Aus aktuellem Anlass unser Artikel über Argemiro Ferreira de Almeida und die Hoffnung, dass der Widerstand die Zivilgesellschaft stärken könnte.
Es wirkt wie ein Kampf gegen Windmühlen. Und doch sieht Argemiro Ferreira de Almeida nicht aus wie ein Ritter der traurigen Gestalt. Der 48-Jährige ist unterwegs als Sprachrohr jener, die üblicherweise keine Stimme haben. Darum weiss Almeida: Manchmal ist ein Umweg nötig, um sein Ziel zu erreichen. In der Heimat Brasilien findet er oft kein Gehör, wenn er auf die Probleme aufmerksam machen will, die die Fussball-Weltmeisterschaft 2014 seiner Meinung nach mit sich bringt.
Demonstrationen im Hinblick auf Fussball-WM
In Brasilien sind aktuell gemäss Schätzungen mehr als 200’000 Menschen auf der Strasse, um friedlich für ein besseres Brasilien und für mehr Demokratie zu demonstrieren. Anlass zum Protest waren unter anderem die Kosten der Fussball-WM 2014.
Almeida kennt einen Weg, wie die Botschaft der Comites Populares da Copa, für die er unterwegs ist, trotzdem ankommt: Die Bürgerkomitees, die sich in den WM-Austragungsstädten spontan gebildet haben, verbreiten ihre Botschaft im Ausland. Von dort kommt sie wieder zurück – und das mit einem ganz anderen Gewicht. «Innerhalb von Brasilien ist der kritische Blick nicht gefragt», stellt Almeida nüchtern fest, der auf Einladung von Terre des Hommes Schweiz in Basel zu Besuch ist. Steigt aber der internationale Druck, bewegt sich manchmal doch etwas in Brasilien.
Die Fifa wird von Steuern entlastet
Zunächst aber tanzten Brasiliens Gesetzgeber vor allem nach der Pfeife des Weltfussballverbandes Fifa. Als Erstes musste die Verfassung dran glauben. Weil die Ansprüche der Fifa nicht mit allen brasilianischen Grundrechten vereinbar sind, werden diese teilweise vor und während der WM mit der «Lea Geral da Copa» ausser Kraft gesetzt oder angepasst. Unter anderem, um die Fifa, Sponsoren und jene Bauunternehmen, die WM-Ausschreibungen gewonnen haben, von Bundessteuern zu entlasten.
Am meisten beschäftigen Almeida aber jene Menschen, die ihr Haus verlassen müssen, weil es einem Bauprojekt im Weg steht, das mit der WM verknüpft ist. Mit 170’000 Brasilianern, die ihr Dach über dem Kopf verlieren, rechnen die Comites. Und natürlich trifft es die Ärmsten, die in Favelas hausen.
Pläne werden ungern gezeigt
Oft würden die Bewohner komplett unvorbereitet getroffen, sagt Almeida: «Es ist alles intransparent. In Salvador de Bahia ging es ein Jahr, bis uns die Stadt die Pläne für die Schnellstrasse gezeigt hat, die vom Flughafen ins historische Zentrum gebaut wird.» Stets habe die Verwaltung behauptet, sie kenne die Streckenführung noch nicht – so kurz vor der WM.
Für Almeida ist klar, das waren alles bloss Ausflüchte: «Es geht darum, die demokratische Diskussion zu verhindern.» Gemäss Verfassung müssten die Bewohner der betroffenen Gebiete nämlich öffentlich angehört werden.
Doch laut Almeida versuchen die Behörden, das tunlichst zu vermeiden: «Es kommt sogar vor, dass die Stadt Leute aus anderen Quartieren bezahlt, die dann an eine Anhörung gehen und Projekte durchbringen, die sie nicht betreffen.»
Favelas weg, Bäume hin, Grundstückpreise hoch
Almeida ist überzeugt, dass viele Räumungen nicht deswegen angeordnet werden, weil sie für den Bau von Stadien oder von Infrastruktur nötig sind: «Es geht darum, die armen Bevölkerungsschichten von gewissen Orten zu vertreiben.» Zum Beispiel in São Paulo, wo die Gegend um das neu gebaute WM-Stadion ein lohnendes Objekt für Immobilienspekulanten sei: «Dort werden riesige Gegenden umgebaut. WM-Besucher, die vom Flughafen zum Stadion fahren, sollen keine Favelas sehen. Dafür werden Bäume gepflanzt.» Und mit den Bäumen wachsen die Grundstückpreise in den Himmel.
Den betroffenen Favela-Bewohnern von São Paulo, oft Landflüchtlinge, wird als Entschädigung ein Busticket in ihre Heimatregion angeboten. Wer ablehnt, soll von der Stadt eine Mietsubvention über die nächsten drei Jahre erhalten: «Aber weil kein Vermieter glaubt, dass die Stadt bezahlt, findet niemand eine Wohnung. Es bleibt nur der Umzug zu Verwandten oder die Obdachlosigkeit.»
Und plötzlich lädt die Präsidentin zur Mitarbeit
Für die Comites ist dieses Vorgehen ein Verstoss gegen das Recht auf Wohnen, das in der brasilianischen Verfassung verankert ist. Darum sind sie an die UNO-Sonderberichterstatterin für das Menschenrecht auf angemessenes Wohnen gelangt. Ein kurzer Weg, Raquel Rolnik ist Brasilianerin. Im Mai 2012 gab der UN-Menschenrechtsrat im Zusammenhang mit der WM 2014 eine Empfehlung an Brasilien heraus: «Vertreibungen und Zwangsräumungen sollen verhindert werden.»
Und was den Comites mit ihrer Protest- und Lobby-Arbeit in Brasilien selbst nicht gelingen wollte, glückte via Druck über die UNO: Plötzlich lud Präsidentin Dilma Rousseff sie zur Mitarbeit ein. Seit Dezember 2012 sitzen zwei Vertreter der Comites in einer von Rousseff zusammengestellten Arbeitsgruppe, die untersucht, ob im Rahmen der WM Rechtsverstösse begangen worden sind.
Der Bericht der Gruppe soll im März erscheinen. «Es gibt einen Entwurf, in dem steht, dass gegen Gesetze verstossen wurde», sagt Almeida, «diese Feststellung wäre wichtig, weil die Regierung Fehler eingestehen müsste.» Ein ebenso wichtiges Ziel wurde bereits erreicht: «Wir sind als politische Organisation anerkannt, die die Zivilgesellschaft vertritt.»
Kleine Siege für die Comites
Nun ist möglich, worum Almeida in seiner Heimatstadt Salvador lange vergeblich kämpfte: Das lokale Comite Popular wird von der Secopa, der ausserordentlichen WM-Behörde, angehört. Es gab sogar schon kleine Siege: So hat der oberste Behördenvertreter den Strassenverkäuferinnen zugesichert, sie dürften an den WM-Spielen nun doch den Snack Acarajé verkaufen, der im Staat Bahia eng mit der afro-brasilianischen Religion verbunden ist. Und vielleicht werden die Putzkolonnen Stadion und Umland mit aus Pet-Flaschen gefertigten Besen reinigen, wie sie die Catadores genannten Müllsammler herstellen.
Das ist nichts verglichen mit den Umsiedlungen, den im Raum stehenden Korruptionsvorwürfen und den explodierenden Kosten für die WM. Doch eine von der Regierung anerkannte Bewegung, die Favela-Bewohner, Obdachlose, die Schwarzenbewegung, Müllsammler, Strassenverkäuferinnen und viele sozial engagierte Menschen verbindet – das gab es bislang noch nicht. «Erst durch den Druck, der durch die WM entstand, haben sich Gruppen zusammengeschlossen, die früher nicht zusammengearbeitet haben», sagt Almeida.
Und so könnte eine Veranstaltung, die sich über die Verfassung hinwegsetzt, am Ende die Zivilgesellschaft in Brasilien stärken. Weil jene, die bislang keine Stimme hatten, nun wissen, wie sie sich Gehör verschaffen müssen. Argemiro Almeida war im Januar schon mal beim Internationalen Olympischen Komitee in Lausanne. 2016 finden die Olympischen Sommerspiele in Rio statt.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 15.02.13