Wie demokratisieren wir die Direkte Demokratie?

Seit einigen Wochen scheint eine Diskussion um die «Reform der Volksrechte» in Gang zu kommen. Wer genau hinhört, erkennt Argumentationslinien, wie sie von denjenigen entwickelt werden, die sich von aktiven Bürgerinnen und Bürgern gestört fühlen und diesen das Handeln erschweren möchten.

(Bild: Nils Fisch)

Seit einigen Wochen scheint eine Diskussion um die «Reform der Volksrechte» in Gang zu kommen. Wer genau hinhört, erkennt Argumentationslinien, wie sie von denjenigen entwickelt werden, die sich von aktiven Bürgerinnen und Bürgern gestört fühlen und diesen das Handeln erschweren möchten.

Bevor man sich über die Medizin zu verständigen sucht, sollte man sich über die Diagnose verständigt haben. Dies ist freilich in der Medizin oft einfacher als in der Politik im Allgemeinen, ganz besonders aber in Fragen rund um die Demokratie.

Nicht mal bezüglich der Zahlen ist man sich einig. Der ehemalige Staatssekretär Jean-Daniel Gerber behauptet seit Monaten, das Parlament «werde recht eigentlich überschwemmt von Volksinitiativen». Andere reden in einer ähnlichen Metapher von der «Flut der Volksinitiativen».

Wer genau zählt und vergleicht, merkt aber schnell, dass in den vergangenen Jahren zwar viele Volksinitiativen lanciert wurden, die Spitzenwerte des vergangenen Jahrzehnts jedoch nicht erreicht werden. Zudem kommt etwa ein Viertel aller lancierten Volksinitiativen gar nicht zustande; und etwa ein Viertel derjenigen, welche die 100’000 gültigen Unterschriften schaffen, wird im Zuge der parlamentarischen Beratung wieder zurückgezogen, kommt also nicht vor das Volk. Sei es, weil sie, wie oft bei Verbands-Initiativen, eh bloss «Druck ausüben» wollten auf eine anstehende grosse Gesetzesrevision (AHV, IV, Krankenversicherung oder Ähnliches), sei es, weil sie mit kleinen Gesetzesänderungen direkte oder indirekte Erfolge erzielen konnten, die sie mit einer Abstimmung nicht zu übertreffen können glauben.

Bevormundete Bürger

Doch Gerbers Argument bezüglich der vermeintlich zunehmenden Quantität ist ohnehin bloss vorgeschoben. Wer ihm länger zuhört, merkt, dass ihm vielmehr die Inhalte gewisser Volksbegehren nicht passen. Sie sind ihm Ausdruck von «Spinnereien», worunter der asketische Protestant aus dem Berner Südjura («Arbeit ist das Leben») die Einführung eines erwerbslosen Grundeinkommens oder die «Vollgeldreform» versteht; sie sind ihm zu dumm (Ecopop), zu extrem (1:12) oder zu alternativ.

Doch sollen in Zukunft nur noch Volksinitiativen lanciert werden dürfen, die Chefbeamten oder Funktionären der Wirtschaftsverbände genehm sind? Es gehört zum Wesen einer offenen Gesellschaft freier Bürgerinnen und Bürger, dass verschiedene Menschen Unterschiedliches richtig finden und zur Diskussion stellen dürfen. Ja, es ist sogar eine der segensreichsten Chancen einer Volksinitiative, dass damit der Gesellschaft eine Diskussion aufgezwungen werden kann, die von deren echten oder vermeintlichen Stützen gefürchtet oder vermieden werden möchte.

Als ob es nicht zur Direkten Demokratie gehörte, dass eine Reformidee vorgeschlagen werden darf, die im Parlament keine Zustimmung findet.

Entsprechend verkehrt sind die «Reform-Vorschläge» des pensionierten Staatssekretärs und seinesgleichen. Sie laufen alle auf eine Bevormundung der engagierten Bürgerinnen und Bürger durch Vertreter der politischen Eliten hinaus. So meint Gerber, es sollten künftig nur noch jene Volksbegehren zur Volksabstimmung kommen, welche in der Bundesversammlung von mindestens einem Drittel oder gar der Hälfte der Parlamentarier – der Obwaldner CVP-Nationalrat Karl Vogler nennt die Zahl von «50 National- und Ständeräten» – unterstützt werden.  

Als ob es nicht gerade zum Wesenskern der Direkten Demokratie gehörte, dass ein Teil der Bürgerschaft eine Reformidee zur Beurteilung vorschlagen darf, die im Parlament wenig oder gar keine Zustimmung findet. Wenn die Parlamentarier finden, sie hätten zur Bewältigung des von der Volksinitiative aufgeworfenen Problems eine überzeugendere Lösung als die Initianten, dann steht ihnen bekanntlich immer noch die Möglichkeit offen, die Volksinitiative mit einem parlamentarischen Gegenvorschlag zur Volksabstimmung zu bringen.

Ignorant und undemokratisch

Ebenso unausgegoren ist die Idee der ehemaligen Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz, wonach Bundesratsparteien keine Volksinitiativen mehr lancieren dürfen sollten. Sie vergisst, dass die Mehrheit der Volksinitiativen in den vergangenen 50 Jahren ohnehin nicht von Parteien kommt, sondern von «Initiativkomitees», in denen häufig auch zahlreiche National- und Ständeräte sitzen. Und angenommen, Hubers Regierungsparteienverbot würde eingerichtet: Wer hindert dann die eh sehr gewitzten Spitzen von Bundesratsparteien daran, für ihr Begehren ein entsprechendes «Komitee» zu gründen, in dem sie oder Gesinnungsfreunde ohne Parteiamt Einsitz nehmen können, und so die Forderung mit dem fast gleichen Publizitäts- und Prestigegewinn als «Volksinitiative» unter die Leute zu bringen?

Vollends ignorant und undemokratisch ist die Idee von liberalen Chefideologen der «Avenir Suisse», zwecks Beruhigung verschiedener Chefetagen die für eine erfolgreiche Volksinitiative notwendigen Unterschriftenzahl zu verdoppeln. Ignorant, weil jene, welche die Volksrechte nutzen, wissen, dass es in den letzten zehn Jahren trotz aller kommunikationstechnologischen Errungenschaften nicht einfacher geworden ist, Unterschriften zu sammeln. Zudem soll die Volksinitiative gerade ein Instrument der Kleinen und organisatorisch Schwachen sein. Das war historisch ihr Sinn. Und schliesslich ist die Anzahl der gesammelten Unterschriften in der Regel kein Zeichen für die Qualität einer Idee.

Wer also die Volksrechte wirklich demokratisieren will, muss sowohl ihre Probleme besser erkennen als auch die Reformvorschläge umsichtiger erarbeiten. Das werden wir in der nächsten Kolumne versuchen.

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