Wie ein kleiner Mann mit Schiebermütze ein Land veränderte

Polen ist am Ende des Jahres 2015 ein anderes Land als zu Beginn. Ein Rückblick unseres Korrespondenten.

Jaroslaw Kaczynski, leader of ruling Law and Justice party speaks during pro-government demonstration in Warsaw, Poland, December 13, 2015. REUTERS/Kacper Pempel

(Bild: KACPER PEMPEL)

Polen ist am Ende des Jahres 2015 ein anderes Land als zu Beginn. Ein Rückblick unseres Korrespondenten.

Alle Jahre wieder, wenn der Winter naht, holt Jaroslaw Kaczynski seine Mütze aus dem Schrank und wappnet sich gegen die Warschauer Kriechkälte. Mit der schwarzen Kopfbedeckung, die modisch irgendwo zwischen Schieber- und Baskenmütze angesiedelt ist, wirkt der 1,62 Meter messende Ex-Premier wie der personifizierte kleine Mann. Vermutlich käme niemand, der Kaczynski nicht kennt, bei seinem Anblick auf die Idee, dass hier ein revolutionärer Volkstribun mit autoritären oder sogar totalitären Ambitionen unterwegs ist.

So kann man sich täuschen. Kurz vor Weihnachten zeigte Kaczynski einmal mehr, was in ihm steckt. Der mittlerweile 66 Jahre alte Rechtspopulist stieg vor dem Verfassungsgericht in Warschau auf die Barrikaden und hielt eine Brandrede, obwohl der Wahlkampf längst vorbei und alle Wahlen gewonnen waren. Doch Kaczynski, so hat es den Anschein, ist ständig im Kampfmodus. «Hier ist Polen!», rief er seinen Anhängern zu, fast wie einst der absolutistische Sonnenkönig Ludwig XIV., der verkündete: «Der Staat bin ich.»

Anfang 2015 galt er wahlweise als Auslaufmodell, notorischer Verlierer, Lachnummer oder Schlimmeres.

Einen ähnlich autoritären Machtanspruch verkörpert Kaczynski. Wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn. Seine Widersacher, zu denen auch die Mehrheit der amtierenden Verfassungsrichter zählt, verurteilte er in seiner Brandrede im Namen des Volkes: «Ganz Polen lacht über euch, ihr Kommunisten und Diebe.» Der Wille der Nation manifestiere sich im Parlament, dem Sejm, wo Kaczynskis nationalistische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) seit Ende Oktober die absolute Mehrheit besitzt.

Keine Frage: Kaczynski ist am Ende eines für Polen historischen Doppelwahljahres obenauf. Noch Anfang 2015 hätte damit vermutlich kein politischer Beobachter in Warschau gerechnet. Der PiS-Chef galt damals wahlweise als Auslaufmodell, notorischer Verlierer, Lachnummer oder Schlimmeres. Die Regierung der liberalkonservativen Bürgerplattform PO ging unangefochten in ihr achtes Amtsjahr. Die Fortsetzung würde folgen.

Demokratie, Wohlstand und die Verankerung im westlichen Staatenbündnis – Polen war am Ziel.

An der Regierungsspitze hatte 2014 Ewa Kopacz die Geschäfte von Donald Tusk übernommen, der als EU-Ratspräsident nach Brüssel gewechselt war, ein sichtbares Zeichen für den wachsenden Einfluss Polens in Europa. Das grösste EU-Mitglied im Osten galt als aufstrebendes Wirtschaftswunderland, das auf das Erreichte stolz sein konnte – und durchaus stolz auf sich war. Kaum jemand verkörperte das Bild vom erfolgreichen, latent selbstzufriedenen Polen so sehr wie Staatspräsident Bronislaw Komorowski, der schwergewichtige, katholisch-konservative und zugleich freiheitsliebende Solidarnosc-Aktivist von einst.

Alles, was Komorowski in seinem Leben für sich und sein Land erreichen wollte, hatten er und sein Land Anfang 2015 erreicht: Demokratie, Wohlstand und die Verankerung im westlichen Staatenbündnis. Allerdings verkörperte der 63-jährige Komorowski, der die PO zusammen mit Tusk aufgebaut hat, eben doch nur einen Teil Polens, jenen Teil, den die Bürger «Polen A» nennen. Dazu zählen vor allem die aufblühenden Städte wie Warschau, Posen und Breslau mit ihrer gehobenen, neureichen Mittelschicht.

Auf dem weiten Land zwischen Oder und Bug dagegen, in den Kleinstädten und Dörfern, formierten sich 2015 die Unzufriedenen und Zukurzgekommenen. Insbesondere bei den jungen Polen unter 30 Jahren, die bei ihrem Einstieg ins Berufsleben meist mit sogenannten «Müllverträgen» abgespeist werden, wuchsen der Neid, die Verachtung oder sogar der Hass auf die Eliten und auf das schöne neue EU-Polen mit seinen modernen Autobahnen und Hochgeschwindigkeitszügen. Der kleine Mann Kaczynski und seine PiS schürten den Unmut.

«Wir müssen Polen neu gestalten, und es wird eine grosse Umgestaltung sein», kündigt Kaczynski an und es klingt nach Drohung.

Im Rückblick fügt sich das, was zu Beginn des Jahres undenkbar schien, durchaus logisch: Die Polen straften Komorowski bei der Präsidentenwahl im Mai gnadenlos ab. Der Amtsinhaber war allzu siegesgewiss gegen den unscheinbaren, erst 42 Jahre alten PiS-Kandidaten Andrzej Duda in den Ring gestiegen, ohne überhaupt kämpfen zu wollen. Ein TV-Duell verweigerte Komorowski zunächst und offenbarte auf diese Weise eine Arroganz der Macht, die ihm und der PO-Elite zum Verhängnis werden sollte.

«Man muss den Mieter des Präsidentenpalasts auswechseln, um der Sauberkeit unserer Republik willen», sagte Kaczynski vor der Wahl und rückte Komorowski damit verbal in jenes Licht, in dem die meisten Polen ihren Präsidenten insgeheim bereits sahen. Im Rückblick kann es keinen Zweifel geben, dass sich eine Mehrheit der Polen im Frühjahr 2015 nach einem Putzkommando sehnte. Und die Bürger bekamen, was sie wählten: Kaczynskis PiS, die Ende Oktober auch die Parlamentswahl gewann und seither mit absoluter Mehrheit durchregieren kann.

Der Rest dieses polnischen Wendejahres ist schnell erzählt, denn im Grunde begann mit dem Amtsantritt der PiS-Regierung Mitte November 2015 bereits das Jahr 2016. Die PiS lancierte eine politische «Säuberungswelle» in den Staatsmedien und attackierte das Verfassungsgericht (und gewann). Schliesslich stieg Kaczynski kurz vor Weihnachten auf die Barrikaden und kündigte für das kommende Jahr eine «nationale Revolution» im Land an: «Wir müssen Polen neu gestalten, und es wird eine grosse Umgestaltung sein.» Die Fortsetzung folgt…

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Lese-Empfehlung zum Thema: «Die Mär vom Volksauftrag» – die NZZ über den Angriff auf das Verfassungsgericht in Polen

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