Wie erkläre ich meinem Kind die Anschläge? Antworten vom Jugendpsychiater

Wie sollen Eltern und Lehrer ihren Kindern die Terroranschläge in Paris erklären? Eine generelle Antwort auf diese Frage gibt es nicht, sagt der Basler Kinder- und Jugendpsychiater Frank Köhnlein. Im Gespräch sagt er, welcher Weg bei welchem Kind der richtige ist.

Wie sollen Eltern und Lehrer ihren Kindern die Terroranschläge in Paris erklären? Eine generelle Antwort auf diese Frage gibt es nicht, sagt der Basler Kinder- und Jugendpsychiater Frank Köhnlein. Im Gespräch sagt er, welcher Weg bei welchem Kind der richtige ist.

Die blutigen Anschläge von Freitagnacht in Paris bewegen auch Kinder. Die erste Reaktion der zwölfjährigen Maria war eine sehr persönliche: «Wie weit ist Paris weg? Muss ich jetzt Angst haben, dass es bei uns Krieg geben wird?» Wie antwortet man als Erwachsener, als Elternteil, auf eine solche Frage?

Man sollte Verständnis für die Angst des Kindes aufbringen, ohne etwas schönzureden, sagt Frank Köhnlein, Oberarzt an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik (KJPK) der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel.

Herr Köhnlein, die Anschläge in Paris und der Begriff «Krieg» sind in aller Munde und in allen Medien. Wie gehen Kinder mit diesen bedrohlichen Nachrichten um?

Das kann man nicht generell beantworten, weil es von vielen Variablen abhängt: Alter, Intelligenz, Vorerfahrungen – beispielsweise Erfahrungen mit Tod –, Traumatisierungen in der Vergangenheit, Geschlecht. Ereignisse wie die Anschläge in Paris, aber auch Naturkatastrophen und andere Ereignisse mit einer Bedrohung des Lebens, beispielsweise auch Flugzeugabstürze, werden vielfach auch von Kindern als traumatisierend erlebt, meist noch mehr als von Erwachsenen. Zentral ist dabei, dass Kinder bei solchen Ereignissen leichter als Erwachsene das Gefühl von Sicherheit verlieren. Das ist leicht nachvollziehbar, weil Kinder auch im Primarschulalter noch keine stabile Vorstellung davon haben, wie wahrscheinlich oder eben relativ unwahrscheinlich es ist, Opfer von solchen Ereignissen zu werden. Auch fehlen andere wichtige Fähigkeiten, die Bedrohlichkeit einer Situation abzuschätzen, beispielsweise Einsicht in Phänomene wie religiösen Fanatismus. Oder nehmen Sie den Absturz der German-Wings-Maschine: Kinder können nicht abschätzen, wie sich eine psychische Erkrankung, in dem Fall die des Kopiloten, derart destruktiv auswirken kann.

Gilt das für alle Kinder?

Allgemein kann man sagen, dass Kinder, die gut integriert sind, Kinder mit normaler oder höherer Intelligenz und Kinder mit reicherer Fantasiebegabung besser mit traumatisierenden Erlebnissen umgehen können. Generell gilt, dass Mädchen solche Situationen in der Regel besser verarbeiten können als Jungs. 

Wie sollen Erwachsene, Eltern oder Lehrer, darauf reagieren? Soll man Kinder darauf ansprechen oder warten, bis sie sich selber äussern?

Wenn gerade jüngere Kinder im Kindergarten- oder früheren Primarschulalter nicht von sich aus das Thema ansprechen, haben sie gute Gründe dafür. Vielleicht ist das Ganze viel zu dicht und belastend? Vielleicht aber ist es für das Kind auch uninteressant? Möchte sich das Kind das Thema allenfalls vom Leib halten, weil es eine Ahnung hat, dass das belastend oder ängstigend ist?

Heisst das, dass man in diesen Fällen nicht darüber reden sollte?

Es lohnt sich, sich Gedanken zu machen, warum mein Kind, der Schüler, der Enkel, das Tagi-Kind nicht darüber sprechen. Um Klarheit darüber zu erhalten, empfiehlt es sich, bei den Kindern in diesem Altersbereich, einen vorsichtigen Versuchsballon zu starten, um abschätzen zu können, wie das Schweigen oder Verschweigen zu verstehen ist. Ein solcher Versuchsballon könnte sein: «Hast du das eigentlich mitbekommen, was in Paris passiert ist?» An der Reaktion des Kindes sollte man in der Regel ablesen können, ob das Kind aktuell darüber reden möchte oder nicht. Keinesfalls würde ich empfehlen, das Thema zum verpflichtenden Gesprächsthema zu machen. Kinder kommen mit solchen Ereignissen vielleicht auch erst Tage oder Wochen später, bis sie sich sicher genug fühlen, dass ihre Fragen beantwortet werden.

Gilt das für alle Altersklassen von Kindern?

Bei Kindern ab etwa zwölf Jahren empfiehlt sich ein etwas offenerer, proaktiver Dialog. Hier dürfte es sinnvoll sein, in einer Schulklasse einmal zu sammeln, wer was weiss und denkt und wer welche Fragen hat. Das schafft auch Solidarität und verhindert den Eindruck, mit seinem Erleben und Empfinden alleine zu sein. Man muss aber auch betonen, dass es viele Kinder gibt, für die die Ereignisse keine besondere Belastung darstellen – sie sind, wie wir sagen, resilient. Auch diese hohe Funktion des psychischen Apparats verdient Respekt, gerade hier sollte nicht «gewaltsam» gerüttelt werden.

«Dem Kind nutzt es nichts, Details zu erfahren, die es vorher nicht irgendwo aufgeschnappt hat.»

Und was ist mit einem Kind, das von sich aus auffällig reagiert?

Kinder, die mit vermehrter Aggression auf die Bilder in den Medien reagieren, die beispielsweise die Szenen nachspielen oder sich in irgendeiner Weise lustig machen oder das Geschehen «cool» finden, sollten eine Antwort erhalten. Hier sollten Erwachsene den Dialog suchen und aktiv die Kinder ansprechen, um ein Verständnis für die Ernsthaftigkeit der Situation zu wecken. Im einen oder anderen Fall wird man dann als Erwachsener rasch sehen, dass die «Coolness» oder die symbolisierenden Spiele nichts anderes sind als eine Form der Abwehr, als ein Versuch, das Ganze nicht an sich heranzulassen. Wenn Kinder hier die Erfahrung machen, man darf so etwas an sich heranlassen, Gefühle wie Angst oder Mitleid oder Unverständnis sind völlig normal, dann haben sie in dieser Situation viel gewonnen.

Antworten auf Kinderfragen
Die Kinderseite «Le p’tit Libé» der französischen Tageszeitung «Libération» beantwortet Fragen, die Kinder nach den brutalen Terror-Anschlägen in Paris bewegen. Es sind dies ganz grundsätzliche Fragen wie: «Warum haben die Terroristen angegriffen?» oder: «Was wird jetzt weiter geschehen?» «Libération» schafft das Kunststück, diese Fragen in einer einfachen, für Kinder verständlichen Sprache, aber ohne inhaltliche Vereinfachung zu beantworten.
Auch für Erwachsene lesenswert und lehrreich.

Ist das zwölfte Altersjahr eine Grenze, ob man das Thema gar nicht, zurückhaltend oder aktiv anspricht?

Das hängt vom Entwicklungsstand des Kindes ab und lässt sich nicht in Zahlen ausdrücken. Um das abschätzen zu können, können folgende Fragen hilfreich sein: Hat mein Kind eine Vorstellung davon, was der Tod ist – meist entwickelt sich diese Vorstellung erst im späteren Primarschulalter. Kann mein Kind Realität und Fiktion auseinanderhalten oder wird es mir gelingen können, deutlich zu machen, wie real das Geschehene ist, auch wenn es «weit weg» passiert ist? Wie ängstlich ist mein Kind generell? Was denke ich als Erwachsener bei meinem Kind: Nutzt es mehr, darüber zu reden, oder schadet es mehr? Haben wir früher schon über andere belastende Ereignisse geredet: Kriege, verunglückte, getötete Flüchtlinge, Flugzeugabstürze. Bei Kindern im Kindergartenalter und jünger sollte man zurückhaltend sein und nicht mehr ausführen und berichten, als vom Kind aus kommt. Dem Kind nutzt es nichts, Details zu erfahren, die es vorher nicht irgendwo aufgeschnappt hat. Generell: Je jünger das Kind ist, desto mehr empfiehlt sich, die Informationen auf das zu beschränken, was das Kind ohnehin weiss. Man kann aber nicht generell sagen, dass man mit Kindergartenkindern nicht über solche Ereignisse sprechen sollte. Eine feste Altersgrenze gibt es nicht.

Bei meiner Tochter, sie ist zwölf Jahre alt, war es im ersten Moment die ganz direkte Angst, der Krieg könnte vor die Haustüre treten. Was sollte ich ihr sagen?

«Ich kann deine Angst verstehen. Es ist überhaupt nicht verrückt, dass du dir solche Sorgen machst. Mir geht es ganz ähnlich, weil ich weiss, Paris ist nicht weit weg, und natürlich könnte so etwas auch bei uns hier passieren. Andererseits weiss ich auch, dass Politiker, Polizei und Geheimdienste alles geben, um so etwas zu verhindern.» Oder: «Ich habe auch Sorge, dass so etwas bei uns passieren könnte, weil niemand garantieren kann, dass es nicht passiert. Aber ich vertraue auch darauf und glaube, dass es nicht sehr wahrscheinlich ist, weil ich weiss, dass sich viele Leute darum kümmern, dass es nicht passiert.» Es geht also darum, die Angst zu validieren, also zu bestätigen, dass die Angst berechtigt ist und nicht verrückt, auch, dass das Kind nicht alleine ist mit dieser Angst, aber man sollte auch ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, ohne etwas schönzureden. Beschwichtigend zu sagen, «Nein, das kann bei uns nicht passieren», wäre nicht nur gelogen, sondern es würde die kindliche Angst auch nicht ernst nehmen – und das Vertrauen in den Erwachsenen nicht unbedingt stärken.

Kann es zu Situationen kommen, in denen Panikreaktionen und Angstzustände auftauchen, die man als Eltern nicht mehr alleine bewältigen kann?

Wie bei jeder Extrembelastung auch, kann es zu solchen Reaktionen kommen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit klarerweise ungleich höher ist, wenn das Kind direkt von der belastenden Erfahrung betroffen ist. Dabei kann es schon reichen, zu wissen, dass die Oma und der Opa gerade in Paris sind. Sogenannte «sekundäre Traumatisierungen» können auftreten, wenn eine Person Zeuge einer traumatisierenden Situation wird. In gewissem Mass gilt das auch für Bilder, die wir in Medien sehen, denn auch wenn die Unmittelbarkeit der bedrohlichen Erfahrung fehlt, die Bilder sind doch bedrückend eindrücklich und bedrohlich: Wenn man die verstörenden Bilder von Leichen, die im Bataclan in ihrem Blut liegen, sieht, braucht man nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was so etwas in einer Kinderseele auslösen kann. Vor solchen Bildern muss man Kinder ganz klar schützen. Die meisten der von Ihnen genannten Symptome verschwinden innert weniger Tage.

Und wenn nicht?

Wenn die Angst oder Schreckhaftigkeit oder Alpträume und Schlafstörungen oder andere Symptome – bei kleineren Kindern zum Beispiel Daumenlutschen, Einnässen – aber länger als eine Woche anhalten, würde ich den Kontakt zum Kinderarzt oder zu einer Fachperson suchen, beispielsweise auch bei uns in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik, um abschätzen zu können, wie damit am besten umzugehen ist. Nicht selten reicht es in so einer Situation, wenn sich die Eltern oder die Erwachsenen mit einer Fachperson austauschen, ohne dass gleich das Kind abgeklärt oder untersucht werden muss.

Frank Köhnlein ist 1967 in Stuttgart geboren. Seit 2002 ist er als Kinder- und Jugendpsychiater in Basel tätig, als «Oberarzt, Therapeut, Kinderschutzfachmann, Supervisor, Berater für Institutionen und Behörden, Mitglied verschiedener Kommissionen, Unidozent und Schreibender», wie er in einem Selbstbeschrieb äussert. Übrigens ist er nicht etwa Autor von Sachbüchern, sondern von Krimis.

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