Es ist nicht alles schlecht: Die Wahl von Donald Trump zwingt Europa, sich stärker mit seiner militärischen Verteidigung zu befassen. Der Blick gen Osten zeigt, dass das auch dringend nötig ist.
Es kann wie Trost für die eigentlich Untröstlichen erscheinen: Donald Trumps Wahl zum nächsten amerikanischen Präsidenten hat der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik einen Schubs für ein näheres Zusammenrücken verabreicht. Da kann einem Goethes Wort vom Bösen in den Sinn kommen, das stets Böses wolle, aber – gemäss idealistischer Zuversicht – stets oder oft oder manchmal indirekt auch das Gute schaffe.
Am vergangenen Montag versammelten sich die EU-Aussen- und Verteidigungsminister und brachten einen weiteren Schritt – von ein paar Zentimetern – in Richtung Vergemeinschaftung der nationalen Militärsektoren zustande, und zwar ohne Vertragsänderungen und darum ohne Volksabstimmungen.
Die EU-Aussenbeauftragte Federica Mogherini beruhigte noch vor dem Treffen, man habe nicht die Absicht, eine gemeinsame Armee, wie in den Jahren 1950–1954 vergeblich versucht, zu schaffen, aber: Es werde eine «Superpower» geschaffen, die an Multilateralismus und Kooperation glaube.
Auf dem Massnahmenpaket klebt immerhin die Etikette «Verteidigungsunion»; Harmonisierung der Kommandostruktur, gemeinsame Transport- und Sanitätskapazität und Kooperation in Rüstungsfragen sind beabsichtigt. Es wird sich zeigen, ob dies eine der üblichen Ankündigungen ist, deren Verwirklichung lange auf sich warten lassen. Daran ist aber nicht die EU schuld, das hat die nationale Selbstbezogenheit der EU-Mitglieder zu verantworten.
Wie der desaströse Ausgang der amerikanischen Wahlen hat auch der Brexit in Sachen Verteidigungsgemeinschaft seine gute Seite.
Da könnte das kritische Wort des Historikers Herbert Lüthy in den Sinn kommen: Er hat angesichts des langsam voranschreitenden europäischen Einigungsprozesses schon in den 1950er-Jahren von einem Tausendfüssler gesprochen, der mit seinen zahllosen Gliedern an Ort tritt.
Wie der desaströse Ausgang der amerikanischen Wahlen hat auch der Brexit in Sachen Verteidigungsgemeinschaft seine gute Seite: Ohne United Kingdom, das die Kooperationsanstrengungen in der Sicherheitspolitik stets erschwert bis blockiert hat, hofft man nun, leichter Fortschritte erzielen zu können. Die Briten waren am Treffen der 28 zwar noch dabei, sie machten aber in Anbetracht ihres bevorstehenden Abgangs keine Schwierigkeiten. Im Gegensatz zu den Binnenmarktfragen, wo Mehrheitsentscheide genügen, müssen Beschlüsse der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik (Gasp) einstimmig gefasst werden
Europa lässt sich schützen
Militärische Verteidigung kann man nicht denken, ohne an die Kosten zu denken. Dafür gibt es im Falle der europäischen Sicherheitspolitik spezielle Gründe. Europa lässt sich seit über einem halben Jahrhundert vor allem von der amerikanischen Supermacht schützen. Der eigene Verteidigungsbeitrag liegt weit unter den eigenen Zielvorgaben.
Die Beiträge sind in Anbetracht der Grössenverhältnisse und Wirtschaftsstärken höchst unterschiedlich: In absoluten Zahlen geben die USA rund 620 Milliarden Dollar für die Nato aus, die drei baltischen Staaten, die den Nato-Schutz besonders nötig haben, zusammen etwa 1,3 Milliarden.
Auch in Relation zum Bruttoinlandprodukt gibt es erhebliche Unterschiede in den Anteilen der Militärausgaben: In den USA betragen sie 3,61, in Lettland 1,45 Prozent. Deutschland wendet gar nur 1,19 Prozent auf, bezahlt damit aber immerhin nach den USA den zweithöchsten Beitrag. Die eigenen Vorgaben der europäischen Nato-Mitglieder von zwei Prozent sind mehrheitlich nicht erreicht. Auch die stolze Militärmacht Frankreich liegt darunter.
Das bisherige Engagement der USA in Europa folgte einem nicht-isolationistischen Verständnis von «America first».
Mogherini betonte, dass man bereits vor Trumps Wahlsieg und unabhängig davon die Erhöhung der Verteidigungsleistungen selbstständig beschlossen habe. Diese Leistungen sind schwach nicht nur wegen der zu niedrigen Verteidigungsbudgets, sie sind es auch darum, weil die Verteidigung nicht vergemeinschaftet ist. Beim jüngsten Treffen war darum davon die Rede, den Rüstungseinkauf verstärkt zu koordinieren, der von der Elektronik bis zu den Uniformstoffen eine ökonomische Sache ist.
Das bisherige Engagement der USA in Europa erklärt sich nicht mit uneigennütziger Hilfsbereitschaft, sondern folgte einem nicht-isolationistischen Verständnis von «America first»; es war also eine grosse Portion Eigeninteresse der Führungsmacht der freien Welt im Spiel. Zudem konnte der regierungsnahe militärisch-industrielle Komplex damit gut verdienen.
In Europa gab es im Übrigen immer wieder Versuche, eine von der Nato unabhängige eigene Verteidigungsstruktur (etwa mit der 1954 geschaffenen Westeuropäischen Union) aufzubauen. Diese Parallelität war aber gerade von den USA nicht gerne gesehen.
Finnland wird zurzeit mit gezielten Aktionen daran erinnert, dass es einmal zu Russland «gehört» habe.
Wenn es Trump bloss um «gerechtere» Verteilung der Verteidigungskosten ginge, könnte man seine signalisierten Vorbehalte sogar begrüssen. Andere Äusserungen zeigen aber, dass Trump bereit ist, Putin gegenüber eine entgegenkommende Haltung einzunehmen. Wie uns der Kreml unüberhörbar hat wissen lassen: Putin hat mit Trump bereits telefoniert und einen «partnerschaftlichen Dialog» angeboten. Er hat aber auch gegenseitigen Respekt und Nicht-Einmischung in die jeweiligen internen Angelegenheiten gefordert.
Das ist ein Hohn, wenn man bedenkt, wie sehr sich russische Kräfte in der Ostukraine oder in Georgien eingemischt haben. Es kommt eben darauf an, was als «innere» Angelegenheiten verstanden wird. Eine Faustpfandaktion in Estland könnte mit dieser Begründung durchaus im Rahmen des Möglichen liegen. Auch Finnland wird zurzeit mit gezielten Aktionen daran erinnert, dass es einmal zu Russland «gehört» habe.
Polen, das auch einmal zu Russland «gehörte», fühlt sich von Russland ebenfalls bedroht. Das hat wie Trumps Geraune auch eine gute Seite. Seiner Schutzbedürftigkeit stärker bewusst, wird dieses widerborstige EU-Mitglied in anderen Belangen (in der Flüchtlingspolitik oder im Umgang mit seinem Verfassungsgericht) vielleicht etwas entgegenkommender werden.
Unter der rechtsnationalen Regierung versucht Polen allerdings, mit Militarisierung der Gesellschaft zusätzliche Muskeln zu bilden. Es will eine paramilitärische Truppe mit über 50’000 Freiwilligen schaffen. Ob das, wie behauptet, die «beste Antwort» auf die von Russland ausgehende Gefahr ist, muss bezweifelt werden.
Vielleicht ist der europäische Westen bald wieder so weit, wie er in den 1930er-Jahren schon einmal war.
Bei westlichen Europapolitikern stehen Armeefragen nicht weit oben auf der Prioritätenliste, und sie entsprechen auch nicht dem, was man gemeinhin unter spezifisch europäischen Werten versteht. Da geht es primär um Ziviles, um das Wirtschaften, um kulturelles Schaffen, um Rechtsentwicklung u.a.m. Aber Krieg führen oder sich mindestens auf Krieg vorbereiten? Vielleicht ist der europäische Westen bald wieder so weit, wie er in den 1930er-Jahren schon einmal war.
Angesichts von nicht bloss fantasierten, sondern leider real bestehenden Bedrohungen insbesondere im Norden, im Raum der Ostsee, muss Europa, wenn auch contre cœur und im innereuropäischen Friedenszustand erfreulich unwichtig geworden, das Denken in militärischen Kategorien und die Verteidigungsdossiers in der Prioritätenliste weiter nach oben rücken.
Was hat Trump zur Nato von seinem Hotelzimmer in Cleveland aus eigentlich gesagt? Von Journalisten servierte Fragen gaben ihm Gelegenheit, Zweifel daran aufkommen zu lassen, ob er die unter Nato-Mitgliedern bestehende Beistandspflicht ernst nehme: Die Verteidigung der baltischen Staaten im Fall einer russischen Aggression machte er leichtfertig davon abhängig, «ob diese Nationen ihre Verpflichtungen uns gegenüber erfüllt haben».
Eine Aussage, die er danach gleich wieder dementieren liess. Jetzt, nachdem sie den Zweck (den Wahlsieg) erfüllt haben, wird solche populistische Vollmundigkeit wieder relativiert: doch kein Bau einer Mexiko-Mauer, doch «nur» noch zwei statt zehn Millionen Ausweisungen von illegalen Einwanderern, doch keine Abschaffung von Obama-Care, doch keinen Knast für Hillary, doch die Respektierung des Klimavertrags?
Wünschenswerte Inkonsequenz
Im Falle des Nato-Beistands wie im Falle der illegalen Einwanderer bleibt aber die Unsicherheit und es bleibt das intuitiv erzeugte Gefühl der Abhängigkeit von einem Autokraten. Nur Hillary Clinton muss wohl wirklich nicht befürchten, in Handschellen abgeführt zu werden.
Diese Inkonsequenz müssen wir uns wünschen, obwohl es für einen Teil der Wählerschaft vielleicht heilsam wäre, wenn sie einmal das umgesetzt erhielte, womit der Kandidat die Unzufriedenen auf seinen Leim gelockt hat.
Noch-Präsident Obama hat die europäischen Partner bereits beruhigt, dass die USA auch weiterhin ihre Führungsrolle im Militärbündnis der Nato spielen werden. Bei dem eineinhalb Stunden dauernden Treffen mit Trump im Weissen Haus habe dieser sein grosses Interesse bekundet, an den «strategischen Beziehungen» der USA festzuhalten.
Die gegenwärtige Situation legt den einfachen Schluss nahe: Es genügt nicht, Europa politisch (vor allem mit der Abwehr gegen den Rechtsnationalismus) verteidigen zu wollen, es braucht leider auch militärische Verteidigung. Es muss aber auch die umgekehrte Einsicht geben, dass es nicht genügt, Europa nur militärisch verteidigen zu wollen. Und zuletzt eine weitere schlichte Einsicht: Die Geschichte ist nicht an ihrem Ende angekommen, und die Zukunft ist offen.