Wie sich ein paar Unerschrockene aufs Glatteis wagten

Die Seegfrörni am Bodensee brach 1963 das Eis zwischen Schweizern und Deutschen. Der Erstüberquerer Hermann Urnauer erinnert sich.

Freudige Fanfare: Die Erstüberquerer des Bodensees (mit Hermann Urnauer in der Mitte)am 6. Februar 1963 bei ihrer Ankunft am Ufer von Güttingen (TG). (Bild: Sammlung Urnauer)

Die Seegfrörni am Bodensee brach 1963 das Eis zwischen Schweizern und Deutschen. Der Erstüberquerer Hermann Urnauer erinnert sich an das historische Ereignis.

Hermann Urnauer aus Hagnau (D) hatte seit seiner Kindheit immer die Schweiz vor Augen. Dennoch war ihm das Land auf der anderen Seite des Bodensees unbekannt. Der Zweite Weltkrieg hatte den Abstand zwischen den Ufern noch vergrössert. «Man war sich fremd», erinnert er sich heute beim Gespräch in seiner Wohnstube. Urnauer musste 32 Jahre alt werden, bis sich ihm eine Möglichkeit bot, Neuland zu betreten. Seit November 1962 hatte man «Kältegrade» gemessen, mit den tiefen Temperaturen stieg die Hoffnung, dass erstmals nach 1880 wieder eine «Seegfrörne» eintreffen könnte.

Am Morgen des 6. Februar 1963 entschied sich eine Gruppe junger Männer aus der deutschen Winzergemeinde, den Versuch zu wagen, den See zu überqueren. Zu Fuss wollten sie das Thurgauer Dorf Altnau erreichen. Urnauer brachte seinen Sohn in den Kindergarten, als auch ihn die Abenteuerlust packte. Der zweifache Familienvater holte zu Hause Schlittschuhe und Personalausweis, schlich sich davon, ohne seine Frau ins Bild zu setzen. Ab aufs Eis.

Als Absicherung diente ihnen ein 40 Meter langes Seil, zudem nahmen sie eine Leiter, einen Kompass und einen Satz Ersatzwäsche mit, für den Fall, dass einer einbrechen sollte. Mit einer Trompete wollten sie im Notfall auf sich aufmerksam machen.

Dichter Nebel, dünne Schicht

An der Spitze des Sextetts glitt Manfred Maier (17), der leichtgewichtigste und jüngste der Gruppe, auf Skiern voran und hüpfte von Zeit zu Zeit in die Höhe, um die Festigkeit des Eises zu prüfen. 7,5 Kilometer galt es zu überwinden. Zwei Drittel der Strecke hatten sie hinter sich, als es kritisch wurde, der Nebel dichter, das Eis dünner. 90 Minuten waren vergangen, als sie eine Kirchenglocke elf Mal schlagen hörten. Kurz darauf erblickten sie einen dunklen Schatten. «Wir dachten, das sei das Ufer», erinnert sich Urnauer.

Doch die Freude wich mit jedem Schritt, Sorge machte sich breit: Der Schatten bewegte sich, es war eine Gruppe schwarzer Blesshühner, Taucherlein, die in einer langen, offenen Wasserstelle schwammen. Unbehagen machte sich breit, die Eisfläche wurde rauer, die Stille bedrückender. Die Männer verliessen sich auf ihren Kompass, glitten vorsichtig weiter im dichten Nebel, in sich leichte Angst, vor sich neue Schatten. Pappeln! Diesmal kündigte sich die Küste an.

Ein Hund bellte, ein Mann trat aus einem Haus heraus. Egloff, der Wirt des Gasthauses namens Schiff, war sprachlos. «Er hielt es für unmöglich, dass man über den See gehen konnte», erzählt Urnauer. Auch die Abenteurer waren überrascht: Offenbar waren sie in Güttingen gelandet, dem Nachbardorf des angepeilten Altnau.

«Sechs Männer kamen übers Schwabenmeer»

So kalt – man mass minus 10 Grad – war es an diesem 6. Februar, so unvergesslich warm war er, der Empfang auf Schweizer Seite. Die Wirtsfamilie verköstigte die Abenteurer mit Gulasch. Ein «Blick»-Reporter traf ein, rückte Urnauer und Co. ins Bild (und auf die Titelseite: «Sechs Männer kamen übers Schwabenmeer»). Aus Kreuzlingen reiste auch ein Grenzwächter und ein Statthalter an, die den Mut lobten – aber auch gewissenhaft die Ausweise kontrollierten.

Zur selben Zeit suchte am anderen Ufer Irmgard Urnauer ihren Mann, der nicht zum Mittagessen auftauchte – und um 13 Uhr in der Zahnradfabrik seine tägliche Schicht antreten sollte. Es war nicht seine Art, einfach von der Bildfläche zu verschwinden. Sie suchte ihn im Dorf, am See, begegnete dabei dem Frei Walter, der ihr sagte: «De Hermann? De muesch nid suche – der isch in d’Schwiz!» – Sie glaubte ihm kein Wort. «Der Frei Walter war ja schon e weng bekannt für seine Sprüche», erzählt sie heute.

Dass es kein Witz war, erfuhr sie wenig später, als sich ihr Hermann telefonisch von der anderen Küste meldete. Wie hat seine Gattin reagiert? Urnauer richtet sich in seinem Sessel auf und zwinkert seine Frau an: «Also, Lob hats keines gegeben!» Heute kann das Paar darüber lachen. «Aber im Nachhinein habe ich selber sagen müssen: Ich war schon ein Siech, dass ich da einfach mitging», gesteht Urnauer.

Historischer Winter 1963
Im Schnitt erlebt man alle 70 Jahre eine Seegfrörni (oder «Seegfrörne», wie sie auf deutscher Seite heisst) auf dem Bodensee. Das Naturschauspiel wurde seit dem Jahr 1573 jeweils mit einer Eisprozession gefeiert, indem man eine Holzbüste des Apostels Johannes über den See trug, von Hermann Urnauers Heimatgemeinde Hagnau nach Münsterlingen – oder zurück.
Vor 50 Jahren wurde die Büste, begleitet von Tausenden Pilgern, in die Schweiz getragen, wo sie seither in der Pfarrkirche von Münsterlingen steht. Ob sie ein weiteres Mal den Standort wechseln wird, ist fraglich. Klimaforscher gehen davon aus, dass die Erderwärmung der letzten Jahrzehnte eine weitere Seegfrörni verunmöglicht. Für eine solche müssen mehrere Faktoren erfüllt sein, wie die «Thurgauer Zeitung» berichtete: Tiefe Temperaturen von November bis März, schwache Luftbewegung, niedriger Wasserstand und wenig Sonnenschein. All das traf im Winter 1962/63 zuletzt ein, zum 33. Mal historisch verbürgt. Damals war nicht nur der Bodensee gefroren, auch auf dem Zürichsee liessen sich die Menschen aufs Glatteis führen.

Zurück mussten sie den Zoll passieren

Die Rückreise durften die Hagnauer nicht auf dem Seeweg antreten, das verbot ihnen Statthalter Raggenbass: Der See war nicht zur Überquerung freigegeben, «und nun, da wir auf Schweizer Boden waren, trugen diese die Verantwortung, wie uns Raggenbass aufklärte. Wir mussten über den Zoll bei Kreuzlingen ausreisen.»

Tags darauf gab es rund um den Bodensee kein Halten mehr: Mit Schlittschuhen, Fahrrädern, Schlitten, ja, gar im Auto und mit Kleinflugzeugen (!) zog es die Leute auf den See. Sie kosteten die Freiheit aus, die ihnen die Seegfrörni ermöglichte: Ausweise wurden keine mehr kontrolliert, die Zollbeamten drückten alle Augen zu und sich gegenseitig freundschaftlich die Hand. Freundschaften wurden besiegelt, Nachbarschaft gepflegt: «Die Schweizer kamen morgens rüber nach Hagnau, kosteten von unserem Wein und gingen abends heim. Und wir erkundeten die Schweizer Seite, kauften guten Bohnenkaffee, weil es den bei uns nicht gab, und Schokolade.»

Das Eis zwischen Deutschen und Schweizern war 18 Jahre nach Kriegsende erstmals richtig gebrochen – ausgerechnet, weil sich solches zentimeterdick auf dem See gebildet hatte.

Und was ist, wenn sich die Seegfrörni wiederholen sollte, Erderwärmung zum Trotz? «Dann, das habe ich meiner Frau versprochen», sagt der 82-jährige Hermann Urnauer, «gehe ich nicht mehr als Erster.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 01.02.13

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