Als Radio- und TV-Redaktor wurde Benjamin Schmid selten mit Publikumsreaktionen konfrontiert. Seit er als freier Mitarbeiter für die TagesWoche schreibt, weiss er genau, was seine Leser denken. Und staunt.
Wenn ich Velo fahre, breche ich Gesetze. Ich fahre über Rotlichter (meistens die gleichen). Ich fahre durch Fahrverbots-Zonen (immer die gleiche), fahre auf dem Trottoir (ganz selten und wenn, dann nur kurz), überfahre durchgezogene Linien (immer die gleiche). Ich missachte Einbahnstrassen (sehr selten, aber wenn, dann immer die gleiche), stelle den Fuss beim STOP-Signal (wenn nichts kommt) nie auf den Boden (praktisch überall) und halte nie vollständig an (nirgends). Und ja, ich fuhr auch schon zu schnell (nämlich nicht im Schritttempo, was fünf bis sechs Stundenkilometern entspräche) durch die Schneidergasse. Ich bin fast täglich ein Gesetzesbrecher. Ich bin ein schlechter Mensch.
«Mach öppis über Drämmli, mit Tierli, Lehrer oder Velofahrer – das goht immer!»: Das ist ein alter Spruch auf Redaktionen. Wieso? Weil die Themen emotionale Reaktionen garantieren. Und es ist was Wahres dran. Diese Erfahrung durfte ich wenige Stunden nach der Veröffentlichung meines dritten Artikels in diesem Medium wieder einmal machen: Kommentare fast im Minutentakt.
Ich fahre auch Auto. Mit dem Auto bin ich noch nie über ein Rotlicht gefahren (Ok, einmal, irgendwo in Australien, aber ein Bus versperrte die Sicht auf die Ampel – sieht man sogar auf dem mir zugeschickten Radarfoto). Ich fuhr mit dem Auto noch nie auf dem Trottoir, noch nie durch eine Einbahnstrasse. Dummerweise wurde ich schon geblitzt (ganz selten), halte mich sonst aber strikt an sämtliche Tempolimiten. Beim STOP-Signal stoppe ich vollständig (fast immer). Ich blinke immer, fahre nie ohne Licht. Durchgezogene Linien überfahre ich nicht. Ich bin selten ein Gesetzesbrecher. Ich bin ein guter Mensch.
Wieso lösen diese Themen so viele Reaktionen aus? Wieso kommt es in den Kommentarspalten regelmässig zu Rekordzahlen an Beiträgen und warum sind diese mehrheitlich in einem gehässigen Ton verfasst, wenn es um Velofahrer geht? Oder anders gefragt: Wieso brechen Velofahrer so viele Gesetze? Und Autofahrer so wenige? Und was sind ausserhalb der Kommentarpalten die Folgen dieser Gesetzesübertretungen?
Ich bin zwischendurch auch Fussgänger. Ich hasse es, wenn mich ein Velofahrer auf dem Trottoir fast über den Haufen fährt (noch nie passiert). Ich gehe nur bei grün über die Strasse (ausser, wenn ich mich beeilen muss und sowieso nur, wenn kein Auto oder Velo kommt). Ich überquere Strassen nicht nur beim Fussgängerstreifen (wenn ich mich beeilen muss und weil er manchmal zu weit weg ist). Ich schimpfe über Autofahrer, die mir beim Fussgängerstreifen den Vortritt wegschnappen (passiert immer wieder). – Ich bin manchmal ein Gesetzesbrecher. Bin ich ein guter oder ein schlechter Mensch?
Nutzen wir rasch den gesunden Menschenverstand: Übertrete ich mit dem Auto ein Gesetz (Sie erinnern sich, eigentlich ja guter Mensch) und schädige ich deshalb eine andere Person, ist die Chance relativ hoch, dass diese Person schwächer oder zumindest gleich stark ist (ausser ich kollidiere mit einem Lastwagen). Tue ich das Gleiche mit dem Velo (böser Mensch), ziehe ich dagegen im Vergleich viel öfters den Kürzeren (ausser, ich treffe auf einen Fussgänger – nur läuft der ja hoffentlich nicht auf der Strasse und auf dem Trottoir fahre ich ganz selten und wenn, dann nur kurz). Als Fussgänger ziehe ich praktisch immer den Kürzeren.
Ich bin ein Mensch. Was mein Verkehrsverhalten betrifft, bewege ich mich so ziemlich im Durschnitt der Masse. Dieses Gefühl habe ich auf jeden Fall, wenn ich meine Mitmenschen täglich so beobachte. Und ich habe darüber hinaus das Gefühl, dass es wirklich nicht so schlimm steht um unser Verkehrsverhalten. Wenn man bedenkt, wie viele Fahrzeuge sich durch unsere Region wälzen.
Vielleicht wäre eine grosse Portion Respekt, Toleranz und vor allem Gelassenheit gar kein schlechtes Rezept. Bevor man das nächste Mal das Gesetz bricht. Oder sich über Gesetzesbrecher echauffiert.