Willy und die pensionierten Seemänner

Matrosen mit tätowierten Armen und Seemannsgeschichten waren gestern? Im Gegenteil: Wenn sich im «Seemannskeller» am Kleinhüninger Hafen ehemalige Seeleute treffen, flammen die alten Zeiten auf.

Auf den ersten Blick sieht es aus wie in einer gewöhnlichen Beiz. Wenn man die Männer aber genau anschaut und ihnen zuhört, ist klar: Im «Seemannskeller» ist Seebären-Treff (Bild: Stefan Bohrer)

In einem versteckten Lokal am Kleinhüninger Hafen treffen sich einmal im Monat ehemalige Seeleute, um zusammen Seemannsgarn zu spinnen.

Willy Rechsteiner (76) hat einmal eine Meerkatze von Afrika in die Schweiz gebracht. Eine Meerkatze ist ein Affe und somit ein seltener Gast in einem Zug von Genua nach Basel. Als der Kondukteur das Tier sah, sagte er «Arrivederci» – und ging weiter. In Basel fragte Willy einen Tierwächter im Zoo, ob er den Affen aufnehmen könne. Er konnte nicht. Ein Jahr würde das Tier höchstens überleben, sagte der Wächter noch. Willy brachte den Affen zu seinen Eltern aufs Land. Dort lebte er ohne Käfig draussen und im Haus, wie eine Katze. Er wurde 15 Jahre alt.

Früher wurde jemand Seemann, weil er etwas erleben und die Welt sehen wollte. Willy Rechsteiner war in Panama, Hawai, Japan, auf den Philippinen, in Indien, Singapur. «Ich habe die Welt gesehen.»

Vom Reiniger zum Maschinenchef

Freitagabend im «Seemannskeller» in Kleinhüningen. Wer nicht weiss, wo das Restaurant ist, findet es kaum. Auf dem Containerareal beim Hafen beleuchtet ein Licht die schmale Treppe, die hinab in die Beiz führt. Auf dem restlichen Gelände ist es stockdunkel, kein Mensch ist zu sehen. Tagsüber essen Mitarbeiter des Hafens und der ansässigen Firmen im Restaurant.

Einmal im Monat treffen sich hier pensionierte Seemänner. Ihre Geschichten ähneln sich. Die meisten fuhren zuerst auf dem Rhein, dann auf hoher See. Bei Willy Rechsteiner war es umgekehrt. Was die Männer verbindet, ist die Nostalgie. Die Erinnerung an eine Zeit, die es nicht mehr gibt.

Bevor die rund zwei Dutzend Männer zum geselligen Teil des Abends übergehen, gehen sie die Traktanden durch. Es ist 20 Uhr. «Wir sollten uns früher treffen», sagt Markus Müller, Präsident der Basler Sektion des Schweizerischen Seemannsclubs. Die Männer stimmen ab, ob der Hock im Winter eine Stunde früher beginnen soll – wegen der Dunkelheit. Willy Rechsteiner ist dafür, bemerkt aber: «Um 19 Uhr ist es auch dunkel.» Er war selber einmal Präsident des Schweizer Seemannsclubs.

«Du bist ja ganz nackt!»

Die Männer hier waren Matrosen, Maschinen­arbeiter, Köche, Kapitäne. Obwohl sie alle längst sesshaft sind, spielt die See eine wichtige Rolle in ihrem Leben – wenn auch auf eine andere Art als früher. Clubpräsident Markus Müller schlägt vor, man könne doch zusamennen nach Thun an die Seespiele fahren. Dort wird der Untergang der «Titanic» als Musical aufgeführt. Aber: «Es ist ein bisschen ziemlich teuer», sagt Müller. Er liest aus dem Prospekt vor. «Rollstuhlfahrer sind gratis.» Ein Mann fragt: «Wo kann man Stühle mieten?» Gelächter. Seemannshumor.

Willy Rechsteiner ist fast der Einzige hier, der nicht tätowiert ist. «Du bist ja ganz nackt», musste er sich früher oft anhören. Lieber nackt als abgestempelt, war seine Devise. «Tätowierungen waren verpönt», sagt er. «Und ich wusste nicht, ob ich vielleicht einmal einen anderen Beruf ausüben möchte – mit Ankern auf dem Arm wäre das schwierig geworden.»

Um Asien muss niemand Matrose werden

Als Willy Rechsteiner beschloss, zur See zu fahren, musste er zuerst die Schiffe reinigen. Es folgten Reparaturen. Am Ende war er Maschinenchef. Heute noch wird er für Inspektionen aller Art angefragt. Früher nahmen die Reedereien fast jeden, der einigermassen etwas auf dem Kasten hatte. Heute ist es schwierig, Nachwuchs zu finden, in der Schweiz fast unmöglich. Der Lohn ist tief, die Anforderungen höher als früher – und um Asien oder Amerika zu sehen, reicht genügend Kleingeld.

Ausserdem ist alles hektischer geworden. Ein Schiff liegt kaum mehr wochenlang im selben Hafen. Früher schon. Egal, ob gerade Krieg war. Oder eine Revolution begann. So wie damals, in den 1950er-Jahren in Havanna. «Es war wahnsinnig», erzählt Rechsteiner. «Ein kubanischer Offizier hat mir seine Mütze geschenkt, ich habe sie heute noch.» Fidel Castro wurde Regierungschef – und Willy Rechsteiner war dabei. Wie auch in den Kriegen im Kongo, in Algerien, Kamerun. «Manchmal wollten Fremdenlegionäre auf unser Schiff flüchten und desertieren. Wir nahmen sie nicht mit.»

Alle hier haben solche Geschichten auf Lager. Geschichten von Kriegen, von Stürmen, von Frauen. Wer nicht erzählen mag, lässt die Tätowierungen berichten. Blasse Geschichten auf der Haut.

Informationen per Flaschenpost

Im kommenden Jahr feiert der Schweizer Seemannsclub sein 50-jähriges Bestehen. Markus Müller fragt in die Runde, welche Gründungsmitglieder noch lebten. Willy bietet an, Fotos von den Grabsteinen zu organisieren. Galgenhumor. Es wird beschlossen, fürs Fest eine Halle zu mieten. Wer heute nicht dabei ist, wird die Infos zum Fest in der Clubzeitung «Flaschenpost» lesen. Willy Rechsteiner ist Redaktor der Zeitung. Darin sind unter anderem Artikel über das Verschwinden von Bananen-Schiffen zu finden.

Dass Seemänner wie diese hier in Kleinhüningen ebenfalls am Aussterben sind, steht da nicht. Denn noch sind sie da. Sie, ihre Erinnerungen – und das Seemannsgarn, das sie spinnen.

 

 

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 16/12/11

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