«In Europa wird kein Krieg mehr geführt werden», sagt Wolfram Wette, emeritierter Professor für Neueste Geschichte an der Universität Freiburg (D). Trotzdem mahnt der Professor zur Wachsamkeit. Wette wird an der Friedenskonferenz der Universität Basel als Redner auftreten.
Der Friedenskongress von 1912 war ein mächtiges Zeichen. Sind heute ähnliche Bewegungen wie 1912 noch denkbar?
Das ist eindeutig mit Ja zu beantworten. Wir müssen uns nur die Ereignisse vor dem Irak-Krieg 2003 oder vor dem ersten Golf-Krieg 1991 anschauen. Damals gingen in ganz Europa Millionen von Menschen auf die Strasse. Wir hatten zu unseren Lebzeiten mehrere Ereignisse – beispielsweise auch den Kampf gegen die atomaren Mittelstrecken-Raketen in Europa –, bei denen die Menschen das Gefühl hatten, es werde brenzlig, und sich darum aktiv in die öffentliche Meinungsbildung einbrachten. So wie man das macht in einer Demokratie.
Die Parallele zwischen all diesen Bewegungen: Sie scheiterten.
Wenn man den Kernpunkt des Basler Friedenskongresses anschaut – den Willen der Delegierten der II. Sozialistischen Internationale zum Frieden auf die Regierungen der europäischen Nationalstaaten zu übertragen – dann ist das Anliegen gescheitert. Aber man sollte die Massenbewegungen gegen den Krieg nicht einseitig mit dieser Negativbilanz aus der Geschichte verabschieden. Positiv war und ist, dass diese Demonstrationen dazu beigetragen haben, den kriegsgegnerischen Menschen zu sagen: Ihr seid nicht alleine. Ausserdem gab es im Bereich der Friedensbewegung in den letzten Jahrzehnten einen massiven Kompetenzgewinn. Heute lassen sich Friedensaktivisten nichts mehr von Militärexperten vormachen. Zum Beispiel im Irak 2003: Schon nach einem Jahrzehnt lässt sich sagen, dass die Kriegsgegner Recht behalten haben. Der Krieg im Irak brachte keine Lösung, sondern nur Unglück.
Die EU hat kürzlich den Friedensnobelpreis erhalten. Zu Recht?
Der Friedensnobelpreis für die EU wurde sehr kontrovers aufgenommen. Auf der einen Seite gab es Stimmen, die es für einen Hohn halten, diesen Preis an die EU zu verleihen. Man müsse sich nur den Umgang der EU mit Flüchtlingen anschauen, die Waffenexporte, die sozialen Probleme. Auf der anderen Seite muss man dagegenhalten, dass es innerhalb der EU gelungen ist, den Frieden nach innen strukturell zu festigen. Wir haben in Europa nicht nur keinen Angriffswillen mehr, wir haben auch strukturell die Fähigkeit zum Angriff verloren. Dank den Verflechtungen wirtschaftlicher, kultureller, politischer und militärischer Natur wird in Europa kein Krieg mehr geführt werden.
Dafür nehmen die sozialen Spannungen zu.
Die Massendemonstrationen in Griechenland, Spanien, Portugal oder auch in England machen klar, dass die sozialen Ungleichheiten, die Verarmung, die Arbeitslosigkeit ein Ausmass erreicht haben, das besorgniserregend ist. Dabei handelt es sich aber um ein soziales Problem. Sollte dieses Problem in Gewalt münden, wäre es Aufgabe der Polizei, dieser Gewalt Herr zu werden. Und nicht des Militärs.
Was ist gegen nationalistische, rechtsextreme Strömungen zu tun, die man heute wieder vermehrt in Europa beobachtet?
Eine aktuelle Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung vom November 2012 belegt es einmal mehr: Rechtsradikalismus hängt heute unmittelbar mit Verlustempfinden zusammen. Und nicht mehr – wie vor 1945 – mit kriegerischem und nationalem Denken. Darum muss das Problem mit einer guten Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik und mit einer vertieften geschichtlichen Aufarbeitung in den Schulen gelöst werden.
Alles in allem: Sind wir heute weiter als vor hundert Jahren?
Das ist viel schwieriger zu beantworten, als es auf den ersten Blick den Anschein macht. Wir leben in einem befriedeten Europa, und die Menschen sind friedlich gesonnen. Es hat sich ein geradezu revolutionärer Mentalitätswandel gegenüber der Zeit vor 1945 vollzogen. Es gibt kein Weltmachtstreben mehr, das sich in militärischen Konflikten mit anderen Mittel- und Grossmächten ausdrückt. Wir haben auch Fortschritte im Völkerrecht erzielt, beim zentralen Kriegsverbot etwa.
Aber: Nach wie vor, und verstärkt seit dem Ende des Kalten Krieges, bringt die deutsche Politik erneut das Militär als Mittel der Politik in Stellung. Wir erleben eine schleichende Militarisierung der Aussenpolitik, ein Phänomen, das in Frankreich und England schon länger zu beobachten ist. Auch im Rüstungssektor hat sich nichts verbessert. Es wird immer noch gespenstisch viel Geld für Militär und Waffen ausgegeben, selbst in Ländern wie Deutschland, die ausschliesslich von Freunden umgeben sind. Die Waffenexporte sind massiv gestiegen, und in der Summe lässt sich sagen: Die Welt ist vollgepumpt mit Waffen. Wenn Benjamin Netanyahu Iran angreift, entzündet sich ein nächster Weltenbrand, gerade diese Region ist voller Waffen. In dieser Hinsicht haben die Menschen nicht viel dazugelernt. Nur wenn wir in den internationalen Beziehungen mehr Vertrauen schaffen, wird die Welt sicherer, haben Egon Bahr und Willy Brandt gesagt. So weit sind wir leider noch lange nicht.
Das sind keine schönen Aussichten.
Wir dürfen die Friedensfahne noch nicht schwenken, wir müssen skeptisch bleiben, denn nach wie vor ist alles möglich. Auch wenn wir das friedliche Europa geniessen, wenn wir schon drei Generationen haben, die ohne Krieg aufgewachsen sind, dürfen wir nicht die Augen vor den Ereignissen hinter der EU-Grenze verschliessen. Die Lage ist prekär, aber nicht hoffnungslos.
Wolfram Wette wird am Samstag, 24. November, um 9 Uhr an der Friedenskonferenz der Universität Basel referieren. Thema seines Vortrags: «Kriegsverhüten, damals und heute. Was hat uns der Basler Friedenskongress heute noch zu sagen?» Lesen Sie dazu auch unsere Titelgeschichte der aktuellen Ausgabe: Krieg dem Kriege.
Quellen
Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung