Wir fahren nach Europa: Die Chancen der Balkan-Staaten auf einen EU-Beitritt

Sechs Staaten des Balkans warten auf einen EU-Beitritt. Albanien, Kosovo, Bosnien, Serbien, Montenegro, Mazedonien – die Chancen könnten nicht unterschiedlicher sein: Sie reichen von «gut» über «waren schon besser» bis «sehr schlecht». Eine Übersicht von unserem Korrespondenten.

Sprayerei, Andeutung an die herrschende Korruption: "ich wähle , du wählst, er/sie wählt, wir wählen, sie wählen, sie gewinnen". (Bild: Matteo Gariglio)

Sechs Staaten des Balkans warten auf einen EU-Beitritt. Albanien, Kosovo, Bosnien, Serbien, Montenegro, Mazedonien – die Chancen könnten nicht unterschiedlicher sein: Sie reichen von «gut» über «waren schon besser» bis «sehr schlecht». Eine Übersicht von unserem Korrespondenten.

Seit der Krise in der Ukraine interessiert sich die EU wieder verstärkt für die Staaten des westlichen Balkans. Auch in Südosteuropa sind Streitigkeiten über Landesgrenzen und ethnische Konflikte vielerorts nicht gelöst. Bei dem Staatsbesuch des albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama in Belgrad vergangene Woche kam es zum Eklat mit seinem serbischen Kollegen Aleksandar Vucic, weil dieser die albanische Position bekräftigte den Kosovo als Staat anzuerkennen. Ausserdem herrscht die Sorge, einige der Staaten könnten sich langfristig stärker an Russland orientieren. Es gibt Ängste, weil selbst einige EU-Staaten sich in ihrer Politik zusehends von europäischen Standards entfernen und das Staatenbündnis selbst erlebt seit Jahren seine grösste Krise.

Trotz der vielen Schwierigkeiten bekennt sich die EU zu einer klaren europäischen Perspektive für die Staaten Südosteuropas. Die kürzlich erschienenen Fortschrittsberichte der EU-Kommission berichten wie es um die Beitrittsbemühungen der einzelnen Staaten steht. In den Mitgliedsstaaten ist man sich der Aussenseiterrolle sehr bewusst. Obwohl die Staaten mitten auf dem Kontinent liegen, heisst es bei Reisen in die Schweiz, Deutschland oder Spanien: «Wir fahren nach Europa».

Von «gut» bis «sehr schlecht» – die Chancen der Staaten in der Übersicht (direkt zum gewünschten Land: Montenegro, Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien und Kosovo).

Montenegro



A policeman looks through a broken window near the entrance of a residential building during a Pride March in Podgorica, November 2, 2014. Hundreds of riot police protected about two hundred gay activists who marched peacefully in Montenegro. REUTERS/Stevo Vasiljevic (MONTENEGRO - Tags: SOCIETY)

Die Polizei ist in Montenegro noch zu oft zum Zuschauen verdonnert, kritisiert die EU. (Bild: STEVO VASILJEVIC)

Der Fortschrittsbericht der EU-Kommission lobt das kleine Land für seinen EU-Kurs. Das durchschnittliche Einkommen liegt höher als bei den anderen Beitrittskandidaten des westlichen Balkans und man zahlt in Montenegro bereits seit der Einführung 2002 mit dem Euro. Im Bericht findet sich aber auch viel Kritik: Der öffentliche Sektor sei zu gross, die Korruption grassiere und die Bekämpfung der organisierten Kriminalität lasse zu wünschen übrig. Kein Wunder, wenn die politischen Eliten in diese Geschäfte verstrickt sind.

Der amtierende Premierminister Milo Djukanovic beispielsweise soll jahrelang führend im europäischen Zigarettenschmuggel gewesen sein. Zwar bescheinigt der Fortschrittsbericht Montenegro gewisse Verbesserungen bei der Lage von LGBT-Personen, Roma und anderen Minderheiten, allerdings hat das Land in diesem Bereich noch viel Arbeit zu leisten.

Ein weiteres Hindernis für einen EU-Beitritt Montenegros ist die eingeschränkte Medienfreiheit. Laut der Rangliste von Reporter ohne Grenzen liegt Montenegro auf Platz 114, noch hinter Staaten wie Katar und Nigeria und weit hinter EU-Niveau (Die Rangliste als pdf). Dennoch haben sich die EU-Aussichten in den vergangenen Monaten verbessert. Obwohl Montenegro von russischen Investoren und Touristen abhängig ist, trägt die Regierung Sanktionen gegen Russland mit und möchte bis Ende 2015 Mitglied der Nato werden. Dies gilt als klares Bekenntnis zur EU. In Montenegro gefällt diese Entwicklung allerdings nicht allen. Kritiker merken an, dass sie gerne darauf verzichten, Mitglied eines Militärbündnisses zu werden, von dem sie noch 1999 bombardiert wurden.

Montenegro hat gute Chancen, das nächste EU-Mitglied zu werden. Auch aus dem trivialen Grund, dass es sich um ein sehr kleines Land handelt und die Risiken eines Beitritts für die EU gering sind.

EU-Aussicht: Gut.

 

Serbien




Serbien steht sich teilweise selbst im Weg, vor allem die Kosovo-Frage ist ein Problem.

Die Verhandlungen über einen EU-Beitritt begannen diesen Januar. Bereits im zweiten Satz des Fortschrittsberichts der EU-Kommission wird benannt, wo bislang das Hauptproblem lag: «Die Entscheidung, Verhandlungen mit Belgrad aufzunehmen […] wurde getroffen, weil Serbien erfolgreich Reformen durchsetzt und weiterhin eine Normalisierung bei den Beziehungen mit dem Kosovo anstrebt». Der Status des Kosovo, Serbien erkennt die Unabhängigkeit nicht an, ist das Hauptproblem bei den Verhandlungen über einen EU-Beitritt. Als der albanische Ministerpräsident Edi Rama vergangene Woche auf Staatsbesuch in Belgrad war, bekräftigte er bei einer Medienkonferenz die albanische Position, der Kosovo sei als Staat anzuerkennen. Sein serbischer Amtskollege Aleksandar Vucic neben ihm reagierte verschnupft. Er kritisierte: «Ich werde niemandem erlauben Serbien in Belgrad zu erniedrigen», um zu ergänzen, «Kosovo und Metochien waren und sind Teil Serbiens und haben mit Albanien nichts zu tun».

Diese Position bezüglich des Kosovo wird es Serbien schwer machen, EU-Mitglied zu werden. Ein weiteres Problem sind die engen Beziehungen zu Russland. Serbien ist von russischem Gas abhängig, hofft auf einen schnellen Bau der Gaspipeline South-Stream und weigert sich, die Sanktionen gegen Russland mitzutragen. Erst vor einem Monat wurde eine grosse Militärparade für den Ehrengast Vladimir Putin in Belgrad abgehalten. Trotz dieser Schwierigkeiten setzt Serbien von der EU geforderte Reformen rigoros um.

Am 1. November wurden die staatlichen Löhne und Renten um 10 Prozent gesenkt. Um bei den Lehrerstellen zu sparen, wurden in Serbien die Schulstunden von 45 Minuten auf 30 Minuten verkürzt. Staatsunternehmen werden verkauft und im kommenden Jahr sollen noch weit mehr Stellen im öffentlichen Dienst abgebaut werden.

Laut Vucic soll Serbien bereits 2019 Mitglied der Europäischen Union werden. Ob das klappt, hängt davon ab, ob die Reformen greifen und das Land sich aus der wirtschaftlichen Misere befreien kann. Ob die derzeitigen Reformmassnahmen das richtige Mittel sind, muss sich noch zeigen.

EU-Aussicht: Nicht schlecht.

 

Mazedonien



A young woman, pushing a baby carriage, passes by a band playing in Skopje, Macedonia, Sunday, Nov. 2, 2014. According to the local authorities, the number of foreign tourists visiting Skopje is increasing every year. (AP Photo/Boris Grdanoski)

Einst schien es wie ein Spaziergang durch Skopje, nun ist der EU-Beitritt für Mazedonien schwieriger geworden. (Bild: BORIS GRDANOSKI)

Mazedonien ist bereits seit dem Dezember 2005 offizieller Beitrittskandidat, doch die Verhandlungen stocken seit Jahren. Verantwortlich dafür sind zwei Faktoren. Erstens wäre da ein absurder Namensstreit mit Griechenland. Als die Republik Mazedonien sich 1991 unabhängig erklärte, wurde dies von Griechenland nicht anerkannt, weil befürchtet wurde, der junge Staat könnte Ansprüche auf die griechische Region Makedonien erheben. Aufgrund dessen ist Mazedonien heute offiziell unter dem Namen «Die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien» Mitglied der Vereinten Nationen. Griechenland legte dem Staat in den vergangenen 23 Jahren wiederholt Steine in den Weg.

Der zweite Grund für die Stagnation der EU-Beitrittsverhandlungen Mazedoniens liegt im Land selbst. Die EU kritisiert, dass eine «Politisierung der Staatsinstitutionen und staatliche Kontrolle über die Medien» stattfinde. In den vergangenen Jahren hat die Nationalkonservative Partei VMRO-DPMNE des Premierministers Nikola Gruevski immer mehr Staatsposten mit ihr genehmen Personen besetzt. Bürgerliche Freiheiten werden massiv eingeschränkt, die albanische Minderheit im Land diskriminiert. Seit der Inhaftierung des Journalisten Tomislav Kezarovski wird vermehrt über Pressefreiheit diskutiert. Während Mazedonien bei der Medienfreiheit noch im Jahr 2007 auf Rang 36 und damit im soliden europäischen Mittel lag, ist Mazedonien heute mit Platz 123 das am schlechtesten eingestufte Land des westlichen Balkans.

Mazedonien hat in den vergangenen Jahren stark an politischer Pluralität verloren und grundlegende Bürgerrechte eingebüsst. Sollte diese Entwicklung so weitergehen, wird Mazedonien in naher Zukunft nicht EU-Mitglied werden.

EU-Aussicht: War schon mal besser.

 

Albanien




Albanien ist selbst für einen Balkan-Staat sehr arm, doch die Armut ist nicht das einzige Problem des Landes auf dem Weg in die EU.

Am 16. Juni dieses Jahres wurde im südalbanischen Lazarat die grösste Cannabis-Plantage Europas zerstört. Schätzungen der italienischen Finanzpolizei zufolge wurde in der Region um das Bergdorf jährlich Marihuana im Wert von 4,5 Milliarden Euro angebaut. Das ist fast die Hälfte des albanischen BIP, das im vergangenen Jahr offiziell bei 9,7 Milliarden Euro lag. Eine Woche später wurde Albanien Beitrittskandidat.

Die EU forderte die Umsetzung des Rechtsstaates, um mit Beitrittsverhandlungen zu beginnen, und mit der Razzia in Lazarat bewies der albanische Staat, dass die Bereitschaft besteht, auf diese Forderungen der EU einzugehen. Im Fortschrittsbericht heisst es hierzu: «Es zeigt sich ein positiver Trend beim Kampf gegen das organisierte Verbrechen […] insbesondere in der Drogenkriminalität, der Wirtschaftskriminalität und beim Menschenhandel».

Ministerpräsident Edi Rama hofft auf einen EU-Beitritt bis zum Jahr 2023. Bis dahin stehen noch umfassende Reformen des Justizsystems, Bekämpfung der Korruption und der organisierten Kriminalität, sowie ein Ende der Diskriminierung von Roma, LGBT-Personen und anderen Minderheiten an, um nur einige Punkte zu nennen, die im Fortschrittsbericht kritisiert wurden. Ein weiteres Problem ist, dass Albanien selbst für regionale Verhältnisse wirtschaftlich schwach ist. Dennoch ist Albanien, als einziger der hier genannten Staaten, bereits Mitglied der Nato.

Albanien ist ein relativ armes Land, das in die EU strebt. Es steht noch am Anfang der Beitrittsverhandlungen. Ob es mit der EU-Mitgliedschaft klappt, hängt von vielen unbekannten Variablen ab. Bis Albanien EU-reif ist, wird es mindestens noch zehn Jahre, wahrscheinlich länger, dauern.

EU-Aussicht: Vorhanden, aber es gibt noch viel zu tun.

 

Bosnien-Herzegowina




Ganz kurz nur erhob sich das Volk in Bosnien gegen die Bürokratie und die Vetternwirtschaft 2014, bei den Wahlen gab es dennoch Siege für die üblichen Verdächtigen. Der Staat ist vor allem durch seine ethnische Teilung blockiert.

«Fortschrittsbericht» ist ein Euphemismus, für das was die EU-Kommission über Bosnien-Herzegowina berichtet. Das Dokument beginnt mit den Worten: «Die EU-Integration des Landes befindet sich im Stillstand. Unter den politischen Führern des Landes herrscht weiterhin Unwille, Reformen einzuleiten, die das Land auf EU-Kurs bringen.» Die darauffolgenden 60 Seiten handeln vor allem davon, dass es in den vergangenen Jahren keine Fortschritte, dafür einige Rückschritte gab. Bosniaken, Kroaten und Serben wollen den multiethnischen Staat nicht gemeinsam gestalten und die Macht liegt bei den ethnonationalistischen Parteien, die das meiste für die eigene Gruppe rausholen wollen. Am Ende verlieren alle, ausser die wenigen, die dank Vetternwirtschaft einen gut bezahlten Posten beim Staat bekommen.

Zwei Drittel des Staatshaushaltes werden für die Verwaltung ausgegeben. Es sieht auch nicht so aus, als würde das Land in Zukunft gross zusammenwachsen. Die Serben betonen wiederholt, dass sie unabhängig werden wollen, und die Kroaten wollen sich aus der bosniakisch-kroatischen Föderation lösen und ihren eigenen Teilstaat schaffen. Schuld sind die Bosnier auch selbst – schliesslich wählen sie immer wieder dieselben Personen, die für diesen Stillstand verantwortlich sind. Daher ist es wenig verwunderlich, dass Bosnien-Herzegowina bis heute kein offizieller Beitrittskandidat ist.

Bevor man in Bosnien-Herzegowina daran denken kann, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, müssen erst die ethnischen Konflikte innerhalb des Staates gelöst werden. Das hoffen zwar viele, passiert ist seit dem Kriegsende vor fast zwanzig Jahren wenig.

EU-Aussicht: Schlecht.

 

Kosovo



Sprayerei, Andeutung an die herrschende Korruption: «ich wähle , du wählst, er/sie wählt, wir wählen, sie wählen, SIE GEWINNEN». Kosovo ist noch immer von wenigen Staaten anerkannt.

Sprayerei, Andeutung an die herrschende Korruption: «ich wähle , du wählst, er/sie wählt, wir wählen, sie wählen, SIE GEWINNEN». Kosovo ist noch immer von wenigen Staaten anerkannt. (Bild: Matteo Gariglio)

Neben Bosnien-Herzegowina ist der Kosovo der zweite Staat auf dem westlichen Balkan, der kein offizieller Beitrittskandidat für die EU ist. Die Situation für den Kosovo ist allerdings noch komplizierter, weil selbst die EU-Staaten Spanien, Rumänien, Griechenland, Slowakei und Zypern den jüngsten Staat Europas nicht anerkennen. Auch Serbien, von dem sich der Kosovo 2008 unabhängig erklärt hat, sieht das Gebiet weiterhin als sein Staatsgebiet an.

Der Kosovo ist der einzige Staat des westlichen Balkans, dessen Staatsbürger nicht visafrei für drei Monate in den Schengenraum reisen dürfen. Kosovarische Staatsbürger können nur in 38 Staaten einreisen, ohne sich vorher um ein Visum zu kümmern. Zum Vergleich: Schweizer kommen in 168 Länder der Welt. Aus dem EU-Fortschrittsbericht geht die Sorge hervor, eine Visa-Liberalisierung könne zu einer Massenauswanderung aus dem Kosovo führen und organisierte Kriminalität in die EU exportieren.

Die EU verlangt viel von der kosovarischen Regierung. An erster Stelle eine Verfassungsreform und die Mitarbeit bei der juristischen Aufarbeitung des Kosovokrieges. Auf dem weiten Weg in die EU gibt es noch viele Hürden: fehlende Minderheitenrechte, Korruption, die Beziehung zu Serbien, die Ausübung der Staatsgewalt im Norden des Landes, die Bekämpfung der organisierten Kriminalität und vieles andere mehr.

Zwar wird im Kosovo seit seiner Einführung 2002 mit dem Euro bezahlt, von der Europäischen Union ist das Land aber noch sehr weit entfernt.

EU-Aussicht: Sehr schlecht.

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