Wir müssen diese Geschichte vom Ende her denken

Die Nagra braucht für die Suche nach einem Tiefenlager für Atommüll mehr Zeit. Doch die paar Jahre sind ein Klacks im Vergleich zum Zeitraum, über den diese Abfälle unter Kontrolle gehalten werden müssen.

Der Eingang zum Felslabor am Grimsel. Hier erforscht die Nagra die Endlagerung von radioaktiven Abfällen in kristallinem Gestein. (Bild: GAETAN BALLY)

Die Suche nach einem Tiefenlager für Atommüll braucht mehr Zeit als geplant. Doch das eigentliche Problem mit dem Atommüll ist ein anderes: Wie transportieren wir Informationen zum strahlenden Erbe über Hunderte von Generationen?

In Basel sorgt man sich wegen des nahegelegenen, zurzeit abgestellten Atomkraftwerks Fessenheim. Weniger Sorgen bereitet dagegen das nicht weiter entfernte Projekt in Bözberg, ein idyllisches Tälchen in der Nähe von Brugg. Dort soll weit unten im Boden potenziell ein Tiefenendlager für Atommüll entstehen.

Bözberg ist wie Fessenheim ebenfalls nur rund 50 Kilometer von Basel entfernt, die zeitliche Distanz beträgt aber 40 bis 400 oder gar 40’000 bis 400’000 Jahre. Denn nebst der Lösung der Standortfrage gilt es, Sicherheitskonzepte für mindestens 4000 Generationen zu entwickeln. Die Zeitdimensionen, um die es dabei geht, übersteigen die bisherigen menschlichen Massstäbe. Eine derart in die Zeit ausgreifende Sache muss sich mit der Frage befassen, wie und das heisst auch mit welchen Zeichen, in welcher «Sprache», Erdenmenschen in mindestens 4000 Generationen auf die besondere Ware, die man ihnen da hinterlassen hat, aufmerksam gemacht werden.

Eine «brennende» Frage

Es ist schon sonderbar: Einerseits gibt es gerade in der Schweiz eine Tendenz, gewisse Projekte nicht zu wollen und auch nicht zu realisieren, wenn man nicht bis hinter dem Komma genau weiss, wie es «am Schluss» sein wird. Dazu als Beispiele zwei ganz andere Grossprojekte: der Lehrplan 21 oder die verbindliche Mitwirkung in der EU. Andererseits wird Atomabfall produziert, ohne dass man weiss, wohin man mit dem «Zeug» nachher soll.

Die Entsorgungsfrage besteht schon seit einem halben Jahrhundert, die öffentliche Auseinandersetzung mit der Frage, die, wie man im doppelten Sinn sagen kann, eine der «brennendsten» ist, bleibt aber weit hinter ihrer Bedeutung zurück.

Nicht dass man Atomabfall einfach ins Blaue hinaus produziert hätte. Bereits im Dezember 1959, also zehn Jahre bevor mit Beznau 1 das erste Kernkraftwerk der Schweiz seinen Betrieb aufnahm, wurden die ersten gesetzlichen Grundlagen geschaffen. Im Dezember 1972 wurde als «private» Institution die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) gegründet. Und 1979 trat das Atomgesetz in Kraft, das fast alles regelte …

Nur keine Aufregung

Die parallel zur Abfallproduktion eingeleiteten Entsorgungsabklärungen könnten paradoxerweise insofern das Problem verharmlost haben, als man darauf hinweisen konnte, dass man die Frage ernst nehme und an Lösungen arbeite.

Warum – für einen Moment – gerade jetzt die Aufmerksamkeit wieder auf diese Frage lenken? Am 15. April 2014, also vor gut zwei Wochen, was angesichts der hier geltenden Zeithorizonte nicht einmal ein paar Sekunden sind, hat das Bundesamt für Energie (BFE) leise und unauffällig eine Fristerstreckung für die sehr lange Reise hin zu den Endlagerlösungen bekanntgegeben. Nicht «schon» 2030, sondern frühestens 2050 würden Lager für schwach- und mittelaktive Abfälle (SMA) bereitstehen und für hochaktiven Abfall (HAA) sogar erst 2060.

Gemeint sind mit diesen Zeitangaben bloss die Aufnahmen des «Einlagerungsbetriebs», anschliessend sollen dann weitere Phasen der Beobachtung, der Verschlüsse und der Langzeitüberwachung folgen – in der einen Variante im Jahr 2115, in der anderen Variante im Jahr 2125. Die Verzögerung ist gemessen an der Unendlichkeit der Zeit derart minim, dass sich die Erklärung dafür knapp halten kann: Es braucht eben «e Bitzeli» mehr Zeit. Darum ist keine Aufregung angebracht. Es gibt ja das Zwischenlager Würenlingen – als provisorisches Endlager.

Auf andere Art völlig ungewiss ist, wo diese definitiven Endlager zu liegen kommen. Im Prinzip ist man sich einig, dass jede Nation solchen Müll selbst beherbergen soll und (woran man immerhin gedacht hat!) nicht ins Weltall schiessen und immer weniger in den Weltmeeren versenken kann. Nicht nur bei diesem Müll meldet sich die primitive Versuchung, unerwünschte Dinge aus dem eigenen Nest zu werfen.

Der Reigen der Standorte

Das gilt auch für die innerschweizerischen Verhältnisse. Massgebend ist, was als akzeptabel angeschaut wird, wenn man es am eigenen Wohnort, sozusagen im eigenen Haus, wenn auch im tiefen Keller, hätte. Dieser Frage wird aber ausgewichen, solange man selbst kein Standortangehöriger ist, weil es noch keinen Standort gibt. Was es gibt, das sind die sechs Abklärungsorte, und zwar, wie es heisst, bloss für Oberflächenanlagen, sogar – rührend – mit Besucherzentren. Diese sind: Schaffhausen (Südranden), Zürich (Benken und Nördliche Lägern), Jura Ost (Bözberg), Jura-Südfuss (bei Obergösgen), Nidwalden (Wellenberg).

Am Schluss sollen zwei Varianten als gleichwertig abgeklärte Alternativen zur Auswahl stehen und sollen Bundesrat, Parlament und schliesslich das schweizerische Gesamtvolk entscheiden. Denn mit einem Referendum ist zu rechnen.

In der Basler Region kann man über die Endlagerfrage nicht nachdenken, ohne an das aargauische Kaiseraugst und ein wenig auch an das badische Wyhl zu denken. Eine breite Volksbewegung verhinderte in den 1970er Jahren in Kaiseraugst den Bau eines Kernkraftwerkes «vor den Toren der Stadt». Auch damals gab es die Haltung, die direkt betroffene Bevölkerung dürfe nicht in Egoismus machen, sie müsse ein solidarisches Opfer für den Rest der Schweiz bringen. Auch damals gab es in der Standortgemeinde Anhänger wie Gegner des Projekts, das Bundesgericht musste sich damit befassen, am Schluss fiel der Entscheid in der Politik und beim Geld. Ein wesentlicher Unterschied besteht aber darin, dass es im Fall Kaiseraugst bloss um ein Vorhaben ging, unser Atommüll jedoch real vorhanden ist.

Was ist in 100’000 Jahren?

Im vergangenen Halbjahr wurde im Schaffhauser Museum mit dem schönen Namen «Allerheiligen» die besinnliche Ausstellung «Langzeit und Endlager» gezeigt. Inzwischen hat sie ihre Tore geschlossen. Ein Renner war sie nicht, denn sie hat bloss 8000 Besucher angelockt im Gegensatz zum heimeligen «Albert Anker» zuvor mit 35’000.

Hier kann aber rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht werden, dass vom 10. Mai an im Luzerner Verkehrshaus wieder einmal die Nagra-Sonderausstellung «Time Ride» zu sehen ist. Mit anderen Worten: Die Menschheit kann in mehreren 100’000 Jahren nicht sagen, von nichts gewusst zu haben.

100’000 Jahre: Können wir uns diese Zeit vorstellen? Das ist schwierig bereits im Rückblick und eigentlich unmöglich im Vorausblick. Darum müssen wir die Geschichte des Atommülls vom Ende her denken.

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