«Wir stehen vor einer Richtungswahl zwischen Nationalisten und einer offenen Schweiz»

Der SP-Präsident spricht über Probleme der Basler Linken, die Gefahren von rechtsaussen, neue Ideen gegen die Wirtschaftskrise und erklärt, warum man FDP-Chef Philipp Müller verbieten sollte, die «Weltwoche» zu lesen.

Christian Levrat: «Sicher sind wir visionär. Und zwar im besten Stil der Sozialdemokratie.» (Bild: Franziska Scheidegger)

Der SP-Präsident spricht im Interview über die Gefahren von rechtsaussen, neue Ideen gegen die Wirtschaftskrise und erklärt, warum man FDP-Chef Philipp Müller verbieten sollte, die «Weltwoche» zu lesen.

Parteipräsidenten sind ein eigener Menschenschlag. Immer eine Spur zu laut, immer die Schlagzeile im Kopf, immer auf der Kante zwischen Populismus und Prägnanz. Christian Levrat weiss, wann er welchen Ton treffen muss. Der immer noch erstaunlich junge Präsident der SP Schweiz beherrscht auch in der Fremdsprache Deutsch die scharfe Rhetorik.

Über die Grünliberalen spricht er im Interview spöttisch von Zauberlehrlingen, die CVP bezichtigt er des Klientelismus und die SVP, an der, daran lässt der Fribourger keine Zweifel, wird die Schweiz zugrunde gehen. 

Levrat ist einmal mehr unter Druck. Das Wahlprogramm seiner Partei wird im Medientenor als zu zahm taxiert, Niederlagen seiner Partei wie unlängst im Baselbiet rufen die rechten Kommentatoren – und noch schlimmer für Levrat: die Politologen – auf den Plan, die der SP keinen guten Wahlausgang im Herbst voraussagen.

Doch man sollte Christian Levrat nicht unterschätzen. 2008 übernahm er das Präsidium der SP, drei Jahre später zählten die Sozialdemokraten zu den Wahlsiegern. Damit verstummten auch die internen Kritiker, die Levrat für zu leichtgewichtig hielten. 

Christian Levrat, was läuft gerade schief bei der Linken? In Basel handelte sich die SP eine unerwartete Abfuhr mit der eigentlich mehrheitsfähigen Initiative für eine Wohnbaustiftung ein.

Die Niederlage hat viel mit dem Zeitgeist zu tun. Initiativen und Reformen haben seit dem 9. Februar 2014 einen schwierigen Stand, die Verunsicherung ist gross. Aber es hat mich etwas überrascht, dass es gerade dieses Projekt erwischt hat. Bei den letzten Abstimmungen über ähnliche Volksinitiativen, selbst in bürgerlichen Kantonen, haben wir Mehrheiten oder sehr gute Ergebnisse erzielt.

Ein Anzeichen dafür, dass die Dominanz der SP in Basel-Stadt wackelt?

Das glaube ich nicht, wenn ich mir das Wahlverhalten der Basler insgesamt anschaue. Unsere Gegner versuchen, die Niederlage als Wende auszulegen, gerade im Zusammenhang mit den missglückten Regierungsratswahlen im Baselland. Das kann ich nachvollziehen, ich würde das an ihrer Stelle wahrscheinlich auch tun. Wenn ich trocken analysiere, komme ich zum Schluss: Die Leute haben im Moment einfach unglaublich Angst vor Veränderungen.

Werden linke Projekte in unsicheren Zeiten als Luxus abgetan?

Das betrifft nicht nur linke Ideen, es betrifft alles, was nach Veränderung aussieht. Ich bin zufrieden mit der klaren Ablehnung der CVP-Familieninitiative und der von der GLP geforderten Energiesteuer. Aber die Deutlichkeit ist nicht nur positiv zu werten. Sie ist auch Ausdruck der Ablehnung von Veränderungen. Es ist gibt kaum Gründe, weshalb die CVP nur auf 25 Prozent Ja-Stimmen gekommen ist. Die Leute haben gemerkt, dass Sie am 9. Februar 2014 einen Bock geschossen haben, und seither haben sie null Lust auf Abenteuer. Das erklärt auch unsere heftigen Niederlagen beim Mindestlohn oder der Pauschalsteuerinitiative. Ähnliche Projekte haben wir in kantonalen Abstimmungen schon gewonnen, und unter normalen Umständen wäre dies auch auf nationaler Ebene möglich gewesen. Reformprojekte, egal ob von links oder von rechts, haben es gerade sehr, sehr schwer.

Sie glauben nicht an eine allgemeine «Initiativmüdigkeit», wie sie TV-Politologe Claude Longchamp konstatiert?

Nein. Politologen brauchen immer eine Erklärung für alle möglichen Ereignisse und Phänomene, die auf irgendwelchen abstrakten Konzepten gründen. Das überzeugt mich nicht. Seit drei Monaten bin ich fast jeden Abend in einem Saal irgendwo in der Schweiz. Was ich dort spüre, das ist die Angst vor der Zukunft und das schlechte Gewissen nach dem 9. Februar 2014.

«Sie können mich alles fragen zu Europa, jederzeit. Ich finde es einfach langweilig, ununterbrochen die gleiche Botschaft zu wiederholen.»

Auch die SP bedient die Abstiegsangst. Ihr Wahlprogramm zielt auf Besitzstandwahrung. Man will sichern, was man hat und macht keine gewagten Schritte.

Das sehe ich anders. Ich finde unser Wahlprogramm mutig. Wir haben darauf verzichtet, Floskeln einzubauen wie «Wir wollen den bilateralen Weg beibehalten». Das hätte uns viel Kritik erspart, ist aber derart nichtssagend, dass wir es uninteressant gefunden haben.

Ihre Wähler fänden es vielleicht interessant.

Sie können mich alles fragen zu Europa, jederzeit. Ich finde es einfach langweilig, ununterbrochen die gleiche Botschaft zu wiederholen. Wir haben uns im Gegensatz zu anderen Parteien im Wahlprogramm auf konkrete Projekte konzentriert. Zum Beispiel wollen wir ältere Arbeitnehmer besser schützen. Wenn wir dort nichts tun, dann schrumpft das Vertrauen in die Behörden weiter. Die Leute fühlen sich im Stich gelassen. Sie haben den Eindruck, dass die Politik nicht versteht, was auf dem Arbeitsmarkt abläuft, sie haben Abstiegsängste. Gerade nach der abgelehnten Initiative in Basel-Stadt ist es eine mutige Forderung, 30 Prozent Genossenschaftswohnungen zu verlangen. Das ist natürlich in einer rot-grünen Stadt wie Basel Mainstream, andernorts aber fast schon radikal. Sie können jeden unserer zehn Punkte nehmen, es sind alles harte Brocken, die aber den Menschen eine reale Verbesserung in ihrem Leben bringen.

Jedenfalls ist das Wahlprogramm nicht visionär und schon gar nicht revolutionär.

Revolutionär sind wir seit 1915 nicht mehr. Als sich Robert Grimm mit Lenin an der Zimmerwaldkonferenz zerstritt, hat die SP Schweiz ihren Weg gewählt. Wir sind keine revolutionäre Partei.

Aber visionär?

Sicher. Und zwar im besten Stil der Sozialdemokratie. Das ist aus unserem Wahlprogramm erkennbar: Wir sind für Reformen, die den Kern unserer Gesellschaft betreffen. Es sind keine Marketingelemente oder Modeerscheinungen, mit denen wir Politik machen. Wir sprechen über den Generationenvertrag, über die Verteilungsfrage, über Energiewende, Familienpolitik – damit ändern wir die Gesellschaft in ihrer Tiefe. Das muss der Anspruch der Sozialdemokraten sein. Nicht marginalen Modeerscheinungen nacheifern, sondern in der Mitte der Gesellschaft anzukommen, die Kräfteverhältnisse grundlegend zu verändern.

Sagen wir es so, Sie haben zehn Punkte in Ihrem Wahlprogramm, die SVP einen einzigen: die Schweiz zu verteidigen – gegen was auch immer. Ein Thema ist einfacher zu verkaufen als zehn.

Auch in dieser Grundsatzfrage schaffen wir es, die Leute anzusprechen. Ich bin überzeugt, dass es die zentrale Auseinandersetzung im Wahlkampf sein wird, welche Schweiz wir wollen. Die Wahl wird das Bild der Schweiz bestimmen. Ist es das nationalkonservative Bild? Die Schweiz, die die Menschenrechtskonvention kündigt, die Bilateralen opfert, eine Schweiz die es zulässt, dass Flüchtlinge im Meer ertrinken. Oder ist es die Schweiz der Offenheit, der Solidarität? Diese Schweiz verkörpern wir.

«Wenn die SP differenziert über Europa spricht, schreiben die Medien Pushmeldungen: SP will sofort der EU beitreten.»

Der grosse Showdown zwischen SVP und SP?

Wir sind die einzige grosse Partei, die der SVP Paroli bietet. Die CVP betreibt Klientelismus, die FDP ist orientierungslos in dieser Auseinandersetzung zwischen den Schweizer Werten von 1291 und den Werten von 1848. Dort haben wir klar Position bezogen. Wir werden unseren Wahlkampf der Auseinandersetzung zum Bild der Schweiz widmen. Die zehn Projekte, die wir machen, kommen aus der Überzeugung, dass die Wähler mehr von uns erwarten als einfach ein Plädoyer für eine offene Schweiz. Die Wähler erwarten, dass wir konkrete Projekte für die kommende Legislatur vorantreiben. So gesehen, sind unsere Wähler sicher anspruchsvoller als die Wähler der SVP, denen es offensichtlich reicht, ein paar Schweizer Fähnli vor die Nase gehalten zu bekommen.

Fakt ist auch: Sobald die SP die Themen Asyl, Migration und EU anpackt, verliert sie.

Was wollen Sie dazu wissen? Wir vermeiden keine Themen, wie Sie es behaupten.

Das ist allgemeiner Konsens.

Dann biete ich Ihnen die Möglichkeit, mir dazu Fragen zu stellen. Sie werden feststellen, dass wir zu all diesen Fragen konsolidierte Positionen haben. Wir haben Monate verbracht, darüber zu sprechen. Bei den Medien finden wir dafür kein Gehör. Sie wollen das nicht zur Kenntnis nehmen. In der Zwischenzeit ist die Medienszene so weit, dass, wenn die SP differenziert über Europa spricht und einen breiten Optionenbericht fordert, die Pushmeldung rausgeht: «SP will sofort der EU beitreten Und wenn wir das nicht umgehend dementieren, heisst es: «Die SP vermeidet das Thema.» Ich sehe es nicht so und lade Sie nochmals dazu ein: Stellen Sie Fragen dazu.

Wie kommt Ihre Bundesrätin Simonetta Sommaruga aus dem Schlamassel mit der EU heraus?

Wir haben den Entscheid des Bundesrats begrüsst, was auch zeigt, dass wir eine klare Haltung in dieser Frage haben. Der Bundesrat hat den richtigen Weg aufgezeigt. Für Drittstaaten-Angehörige gelten Inländervorrang und Kontingente wie bis jetzt. Wenn die EU sich weigert, die Personenfreizügigkeit zu verhandeln, dann hat die Personenfreizügigkeit Vorrang. Das hat der Bundesrat festgehalten.

Die EU wird kaum verhandeln, die SVP wird wettern, wenn der Bundesrat die Initiative nicht umsetzt.

Der Widerstand der SVP ist vor allem Wahlkampfgetöse. Ich glaube indes, dass die Partei damit auf verlorenem Posten steht. Die Masseneinwanderungsinitiative ist ein folgenschwerer Unfall, der so nicht geplant war. Sie wurde angedacht als Minderheitsposition, sie sollte die Opposition der SVP bekräftigen. Sie wurde nie als effektive Verfassungsbestimmung konzipiert.

«Ich gehe davon aus, dass die SVP weiter verlieren wird.»

Nach dem 9. Februar 2014 hat man hinter vorgehaltener Hand selbst in der SVP Befürchtungen geäussert, der Entscheid könnte der Partei schaden. Bei kantonalen Wahlen, beispielsweise in Baselland oder Bern, legte die Partei aber weiter zu.

Ich bin überzeugt, dass der Entscheid vom 9. Februar der Partei massiv schadet. Mit ihrer neuesten Volksinitiative zur Kündigung der Menschenrechtskonvention begeht die SVP einen weiteren politischen Fehler. Sie bringt eine Initiative, die ausser den harten Kern ihrer Wählerschaft praktisch niemanden anspricht. Die SVP hat sich radikalisiert, marginalisiert.

Hat sie ihren Zenit überschritten?

Das hat sie schon bei den Wahlen 2011. Es wurde damals nicht wirklich wahrgenommen, dass die Partei de facto 2,3 Prozent Wähler verloren hat. Das reicht, um nicht mehr als Siegerpartei dazustehen. Ich gehe davon aus, dass sie weiter verlieren wird.

Der Wahlkampf könnte darauf hinauslaufen, wer die beste Lösung gegen die Frankenstärke präsentiert. Welche Rezepte haben Sie?

Wir haben vier Punkte: neuer Euro-Mindestkurs, Gelder für Innovation, keine Lohnsenkungen und die Weitergabe von tieferen Importpreisen. Das sind konkrete Massnahmen, die wir vorschlagen. Was wir nicht brauchen, das sind ideologische Glaubenskriege.

Sie meinen Grundsatzfragen: mehr Staat, weniger Staat.

Was ich von rechts wahrnehme, ist zurzeit lediglich Ideologie. Bürgerliche machen Deregulierungsgipfel, planen Steuersenkungen. Das hat nichts mit der Realität von Unternehmen zu tun. Die Unternehmen, die in Schwierigkeiten stecken, haben konkrete Probleme. Ihre Bestellbücher leeren sich, ihre Margen schrumpfen, sie kommen in die Verlustzone. Und nun soll der Staat sagen: Ich habe eine gute Nachricht, wir werden Steuererleichterungen einführen? Ein Unternehmen, das rote Zahlen schreibt, kann damit rein gar nichts anfangen.

Die SP plant einen Vorstoss gegen die Frankenspekulation. Sie wollen eine Steuer einführen, um Spekulanten vom Franken fernzuhalten. Wie reif ist diese Idee?

Wir sind dabei, einige Vorschläge vertieft zu diskutieren. Ein zentrales Problem der aktuellen Frankenkrise ist, dass internationale Akteure massiv auf den Franken spekulieren. Die Nationalbank geht davon aus, dass die Aufwertung des Frankens vor allem spekulative Hintergründe hat. Die Überlegung des Fribourger Wirtschaftsprofessors Sergio Rossi ist bestechend einfach. Er sagt, wir müssen eine sehr geringe Steuer auf spekulative Bewegungen bei Frankenkäufen erheben. Sie generiert riesige Erträge. Davon betroffen sind nur ausländische Spekulanten.

«Sie werden nie von mir hören: Übrigens, wir überlegen, ob wir eine Volksinitiative lancieren. So läuft der Hase nicht.»

Wie wollen Sie verhindern, dass ein solcher Vorstoss als SP-Sozialisten-Idee abgetan wird?

Zurzeit gilt bei den Bürgerlichen sowieso, was nicht in der «Weltwoche» als Gedankengut daherkommt, ist als sozialistisch gebrandmarkt. Von daher besorgt es mich nicht sehr, wenn sie unseren Vorstoss als sozialistisch betiteln würden. Das ist mittlerweilen so etwas wie ein Pawlowscher Reflex der Rechten. Der Wortschatz von FDP-Präsident Philipp Müller ist eigentlich direkt von der «Weltwoche» übernommen. Man sollte ihm verbieten, diese Zeitung zu lesen. Er spricht, wie die «Weltwoche» schreibt.

Haben Sie Kontakt zu anderen Parteien, um die Idee einer Frankenspekulationssteuer zu besprechen?

Ja.

Also es wäre denkbar, dass eine Partei wie die BDP einen solchen Vorstoss mitträgt.

Das muss man schauen. Wirkliche politische Projekte werden auch nicht über Vorstösse entwickelt. Sie werden manchmal über politische Vorstösse angekündigt. Aber die Realität spricht sicher für eine Motion oder eine parlamentarische Initiative.

Oder eine Volksinitiative?

Nein, das wäre dann ein richtiges Projekt. Aber ein solches starten Sie nicht einfach am Sonntagmorgen in der Zeitung. Es muss in eine Gesamtstrategie eingebettet werden. Sie können nicht einfach alleine in Ihrer Ecke eine Volksinitiative starten, weil es gerade gut zur Grosswetterlage passt. Wir nehmen für uns in Anspruch, unsere Initiativen langfristig zu planen und in eine Kampagne einzubetten.

Volksinitiativen sind nicht gerade die Paradedisziplin der SP.

Auch wenn wir Schiffbruch erleiden wie bei der Mindestlohn-Initiative letztes Jahr: Unsere Initiativen reihen sich in eine jahrzehntelange Logik ein und tragen ihre Früchte über den Abstimmungstag hinaus. Nehmen Sie die 1:12-Initiative: Ein radikales Projekt, von dem von Anfang an klar war, dass es abgelehnt werden würde. Aber es gehörte zum Diskurs der Umverteilung und ergab in dieser Logik Sinn. Sie werden nie von mir hören: «Übrigens, wir überlegen, ob wir eine Volksinitiative lancieren.» So läuft der Hase nicht.

Reden wir über Ihre Zukunft. Wie lange machen Sie Ihren Job als Parteipräsidenten noch?

Ich mache gerne, was ich mache. Nach den Wahlen entscheide ich, ob ich noch für vier weitere Jahre zur Verfügung stehe oder nicht. Die Frage ist: Führe ich die Partei in die Wahlen 2019 oder nicht?

In welchen Momenten sagen Sie: Es war richtig, dass ich nicht Weinbauer, sondern Politiker geworden bin?

Wenn ich bei den Parteiversammlungen bin. An kantonalen Parteiveranstaltungen auftreten, mit den Leuten sprechen – das mag ich sehr. Es kommt immer wieder vor, dass ich am späten Abend den Zug in die falsche Richtung nehme, will heissen: nicht Richtung Fribourg, wo ich wohne, sondern Richtung Zürich oder Basel, um dort an einer Veranstaltung teilzunehmen.

«Das Parlament ist wirklich eine Gelduldsschule. Sie müssen manchmal Stunden um Stunden Voten anhören, die andere schon fünfmal gesagt haben.»

In welchen Situationen bereuen Sie es, dass Sie nicht Weinbauer geworden sind?

Wenn ich mit der Schwerfälligkeit des Betriebs konfrontiert werde. Das Parlament ist wirklich eine Geduldsschule. Sie müssen manchmal Stunden um Stunden Voten anhören, die andere schon fünfmal geäussert haben.

Hören wir da eine gewisse Blochersche Politikmüdigkeit heraus?

Nein, nein, ganz und gar nicht. Das Parlament ist das wichtigste Gremium unseres Politsystems. Aber es ist ein Gremium, das sehr viel Geduld braucht. Deswegen auch meine Prognose: Der junge Roger Köppel wird nach drei Jahren wieder gehen und sagen, dass das Parlament nichts nützt. Er wird diese Knochenarbeit nie über sich ergehen lassen.

Wagen wir noch einen Blick über die Landesgrenzen hinaus. Was können Schweizer Sozialdemokraten aus dem Wahlsieg der Syriza in Griechenland lernen?

Die Partei hat eine soziale Bewegung begründet, die Achtung verdient. Es gelang ihr vor allem, zu vermeiden, dass Rechtsaussen die Oberhand gewinnt. Viele Länder Europas stehen zurzeit vor der Wahl zwischen Tsipras und Le Pen. Syriza ist es gelungen, dem griechischen Volk Hoffnung zu geben auf eine Gesellschaft, in der die Solidarität stärker gelebt wird. Die andere Option der Griechen wäre die Antwort von Rechtsaussen gewesen: Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus, vielleicht sogar Krieg. Das konnte Syriza verhindern.

Sie sehen die SP in der Schweiz auch zunehmend als Gegenblock gegen Rechtsaussen.

Das ist die grosse Auseinandersetzung im Wahljahr. Damit kommen wir zurück zum Anfang des Interviews. Ich gehe davon aus, dass wir vor einer Richtungswahl stehen, es ist die Wahl zwischen Nationalisten und einer offenen Schweiz der Solidarität. Wir verkörpern diese Schweiz der Solidarität und der Öffnung. Was mich manchmal deprimiert, ist, dass wir es weitgehend alleine tun müssen. Die FDP war in ihrer historischen Prägung eine progressive Partei. Derzeit ist sie jedoch völlig orientierungslos. Die Partei kann sich nicht zwischen Blocher und dem bilateralen Weg entscheiden. Wir haben sie als Verbündete fast verloren.

Die FDP bezieht Position in der EU-Frage. Philipp Müller betont immer wieder, wie wichtig die Bilateralen sind. Orientierungslos scheint uns da das falsche Wort.

Philipp Müller ist unfähig, sich zwischen Blocher und der Rettung der Bilateralen zu entscheiden. Er behauptet, er wolle Kontingente und Inländervorrang einführen und gleichzeitig die Bilateralen retten. Ein zehnjähriges Kind versteht, dass das nicht aufgehen kann. Er ist offensichtlich nicht in der Lage, sich klar zu den Bundesratsvorschlägen zum Masseneinwanderungsartikel zu positionieren. Er zögert seit Wochen. Er ist klug und weiss natürlich wie alle, dass Kontingente und Personenfreizügigkeit nicht zu vereinbaren sind. Er kann es aber nicht zugeben, weil es ihn zwingen würde, einen Entscheid in die eine oder andere Richtung zu treffen. Er spielt den Juniorpartner der SVP auch bei der Umsetzung der Zweitwohnungsinitiative. Und hat der Vorladung der SVP zum Deregulierungsgipfel Folge geleistet. Orientierungslos, wirklich.

Christian Levrat

Der 44-jährige Fribourger Christian Levrat führt seit 2008 die zweitgrösste Partei des Landes, die SP Schweiz. Unter dem scharfen Rhetoriker konnten die Sozialdemokraten national zulegen. Seine politische Karriere begann der studierte Jurist und Politwissenschaftler bei den Jungfreisinnigen. Seit 2012 vertritt er seinen Heimatkanton im Ständerat. Levrat ist verheiratet und hat drei Kinder.

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