«Wir wollen die Rentenreform, aber…»

Eigentlich finden in Bern viele Beteiligte das Reformpaket zur Altersvorsorge ziemlich gelungen. Richtig gut findet es aber doch niemand. Die einen wollen etwas mehr Leistung, die anderen etwas weniger zahlen. Diese Kombination könnte der Vorlage den Todesstoss versetzen.

Das Brautpaar Mario Galdi (Jahrgang 1929) und Angela Pagnottoni (Jahrgang 1926) kuesst sich, am Dienstag, 11. Maerz 2014, im Altersheim "Casa Serena" in Lugano. Pater Giuseppe hatte die beiden zuvor getraut. (KEYSTONE/Karl Mathis).. (Bild: KARL MATHIS)

Eigentlich finden in Bern viele Beteiligte das Reformpaket zur Altersvorsorge ziemlich gelungen. Richtig gut findet es aber doch niemand. Die einen wollen etwas mehr Leistung, die anderen etwas weniger zahlen. Diese Kombination könnte der Vorlage den Todesstoss versetzen.

8,3 Milliarden Franken: So viel Geld fehlt laut dem Bundesrat alleine der AHV bis 2030 – wenn nicht bald etwas getan wird. Alle politischen Lager anerkennen den Reformbedarf. Geburtenstarke Jahrgänge kommen ins Rentenalter und die Schweizerinnen und Schweizer leben immer länger. 

Alain Berset hat deshalb die bundesrätliche Botschaft zu seinem Reformpaket, der sogenannten Altersvorsorge 2020, präsentiert. Zusammen mit den Gesundheitskosten, die Berset in den Griff kriegen muss, ist es eines der beiden Mammutprojekte des Innenministers. Zwei seiner Vorgänger sind mit dem Vorhaben bereits gescheitert (siehe Box).

Paket statt Einzelvorlagen

Bersets Idee: Mit einer sorgfältig austarierten Paketlösung sollen alle Beteiligten etwas geben und etwas erhalten. Denn Bersets Vorgänger sind alle mit Einzelvorlagen gescheitert. Mal brachten die Bürgerlichen sie zu Fall, weil Arbeitgeber mehr bezahlen sollten. Mal ergriff die Linke erfolgreich das Referendum, weil Frauen ohne Gegenleistung länger arbeiten sollten.

Dreimal gescheitert
Anfang der Nullerjahre macht der Bundesrat den Vorschlag, das Frauenrentenalter zu erhöhen. Zudem soll eine höhere Mehrwertsteuer die Finanzierung der Renten sichern. Das Volk verwirft die Vorlage 2004 mit fast 70 Prozent deutlich. Danach verbrennt sich Alt-Bundesrat Pascal Couchepin mit seiner Ankündigung, das Rentenalter für alle auf 67 zu erhöhen, die Finger. Er krebst zurück, nur die Frauen sollen länger arbeiten, bis 65. Das Parlament versenkt die Reform 2010, ehe sie zur Abstimmung kommt. Auch die Senkung des Umwandlungssatzes für die Minimalrenten bei den Pensionskassen findet in einer Volksabstimmung 2010 keine Mehrheit. Die letzte erfolgreiche AHV-Revision gelang damit im Jahr 1994 unter Bundesrätin Ruth Dreifuss.

Das Paket, das der Bundesrat dem Parlament nun vorgelegt hat, kombiniert viele dieser bereits gescheiterten Vorschläge. So etwa das höhere Frauenrentenalter und den tieferen Mindestumwandlungssatz für Pensionskassenrenten. Und Berset packt mit der AHV-Ausgabenbremse und der Abschaffung des Koordinationsabzugs noch einiges obendrauf (eine Übersicht über die Inhalte des Reformpakets erhalten Sie in diesem Artikel). Für den Bundesrat ist dieses Vorgehen nach den gescheiterten Anläufen «alternativlos». Und weil breit abgestützt, sei es auch «ausgewogen und mehrheitsfähig», wie Berset sagt. Tatsächlich findet die Vorlage im Volk eine Mehrheit, wie eine Umfrage des gfs.bern zeigt.

Mehrwertsteuer als «Milchkuh»

Doch bevor das Volk abstimmen kann, muss das Paket durchs Parlament. Und die Folge einer Kombination der Reformelemente ist auch eine Kombination der Gegnerschaften. Kann das gut gehen? Wer sich in Bern derzeit umhört, wird skeptisch. Viele, so scheint es, begrüssen zwar Bersets Vorschlag. Mit den Folgen leben kann offensichtlich trotzdem keiner. 

«Der Reformbedarf ist unbestritten. Allerdings sind wir mit dem eingeschlagenen Weg absolut nicht einverstanden», sagt der Baselbieter SVP-Nationalrat Thomas de Courten. Die Mehrwertsteuererhöhung ist den Bürgerlichen ein Dorn im Auge. «Es geht nicht, dass man die Mehrwertsteuer immer als ‹Milchkuh› heranzieht und daraus mehr Erträge generiert, ohne die Systemmängel zu korrigieren», so de Courten. Eine Zusatzfinanzierung löse die strukturellen Probleme der AHV nicht.

SVP, BDP, FDP und CVP wollen das Paket wieder aufschnüren und nur einzelne Elemente daraus zur Abstimmung bringen – auch wenn solch ein Vorgehen in der Vergangenheit mehrfach gescheitert ist (siehe Box).

Kritik kommt auch von der SP: «Grundsätzlich stehe ich dem Paket positiv gegenüber», sagt SP-Nationalrätin Silvia Schenker. Aber sie sagt auch: «Aktuell kann ich der Vorlage noch nicht zustimmen.» Wenn die Frauen tatsächlich wie vorgeschlagen länger arbeiten sollten, müsse auch ein Mehrwert für sie erkennbar sein. Etwa eine staatliche Kontrolle der Lohngleichheit, wie sie Bundesrätin Sommaruga ins Spiel gebracht hatte. Zugleich ist für Schenker klar: «Die Vorlage muss als Paket kommen.»

Bürgerliche wollen das Paket vor einer Abstimmung aufschnüren, doch dagegen würde die Linke das Referendum ergreifen.

Linke kritisieren das höhere Frauenrentenalter, der Gewerbeverband die höheren Arbeitgeberbeiträge, die Bürgerlichen die höhere Steuerbelastung und die Gewerkschaften die AHV-Ausgabenbremse. Symptomatisch ist die Antwort von Doris Bianchi vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund: «Wir bekennen uns zum Paket, aber wir unterstützen das höhere Frauenrentenalter und den tieferen Mindestumwandlungssatz nicht.» 

Mit anderen Worten: Das Reformpaket wird von einer linken Minderheit im Parlament unterstützt – aber nicht ohne Korrekturen. Und Bürgerliche wollen das Paket in dieser Form gar nicht zur Abstimmung bringen. Über die nötigen Mehrheiten, um dies zu verhindern, verfügen sie im Parlament. Doch gegen die Aufspaltung dürfte die Linke wiederum Sturm laufen und erfolgreich das Referendum ergreifen.

Bevölkerung stellt sich hinter das Reformvorhaben

Dabei müsste das nicht sein. Eine repräsentative Studie des gfs.bern im Auftrag der Pro Senectute hat gezeigt, dass aktuell 62 Prozent der Bevölkerung mehr oder weniger dezidiert hinter den Reformvorschlägen von Bundesrat Alain Berset stehen. Die Zustimmung kommt aus allen politischen Lagern. Selbst Frauen stimmen dem Element der Rentenaltererhöhung zu. Dies vor allem, weil es sich beim vorgelegten Projekt um ein Massnahmenpaket handle, dass also die Frauen die Reform nicht alleine schultern müssten. Überdies biete das Paket eine Lösung für die Probleme in der Altersvorsorge an. Auch der Arbeitnehmerverband Angestellte Schweiz, der rund 20’000 Mitglieder vertritt, begrüsst deshalb das vorliegende Paket.

De Courten und Schenker führen diese Zustimmung in der Bevölkerung auf den noch geringen Informationsstand über die Konsequenzen des Reformentwurfs zurück. De Courten will in der kommenden Debatte die Bevölkerung von den Mängeln des Pakets überzeugen. Und Schenker sagt: «Wenn wir den Frauen in Franken vorrechnen, was sie am Ende bezahlen, werden sie Nein stimmen.»

Was vom «erkannten Reformbedarf» übrig bleibt, ist ein Paket, das in der Bevölkerung aktuell in allen politischen Lagern auf Zustimmung stösst. In Bundesbern vermag es jedoch die hohen Ansprüche quer durchs politische Spektrum nicht zu befriedigen – und droht deshalb zu scheitern. Die Prognose einer Lücke von 8,3 Milliarden Franken im Jahr 2030 hätte auch danach noch Bestand. Daran dürften sich dann Bersets Nachfolger als Innenminister und die kommenden Generationen die Zähne ausbeissen.

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In seinem Kommentar zur Altersvorsorge 2020 verlangt Matthias Strasser: Um den Status quo, den keiner will, zu ändern, sollen die politischen Kräfte dem Reformpaket zu einer Chance vor dem Volk verhelfen. Ist das Paket dafür ausgeklügelt genug? Wo sehen Sie noch Schwächen? Oder würden Sie dem aktuell vorliegenden Reformpaket zustimmen? Diskutieren Sie mit in unserer Debatte: «Das steckt in Alain Bersets Rentenreform – aber was taugt sie?»

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