Die Debatte um mögliche Olympische Spiele in der Schweiz dreht sich auch um unser Selbstverständnis. Zu gerne wären wir immer noch ein Volk von freien und fröhlichen Bauern.
Zuerst ein paar Fakten: 74 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer leben in urbanen Räumen (gemäss einem kürzlich gehaltenen Referat von BAK-Basel-Chefökonom Boris Zürcher). In den fünf Metropolitan-Regionen der Schweiz (Zürich, Basel, Genf-Lausanne, Bern, Tessin) werden 84 Prozent des Bruttoinlandprodukts erwirtschaftet. Die Stimme eines Urners bei Volksabstimmungen ist 34-mal mehr wert als die eines Zürchers.
Seit Jahrzehnten pumpen wir Milliarden in unsere Landwirtschaft. Die reichen Stadtkantone halten die armen Landkantone via Finanzausgleich am Leben. Die armen Landkantone locken mit ihrer Steuerpolitik die Firmen und wohlhabenden Privatpersonen aus den reichen Stadtkantonen zu sich. Doch nur wenige stören sich an all dem. Dies, obwohl laut Politologe Claude Longchamp der Graben zwischen Stadt und Land seit der Abstimmung über die Waffen-Initiative 2011 «so gross ist wie noch nie».
Ueli Maurer, der Bergbauer
Und nach den Fakten: Ueli Maurer, der in der ihm ganz eigenen Mischung aus Beschwingtheit und Steifheit, die Viktor Giacobbo so gut nachmacht, dass man bei jedem Auftritt von Maurer nur noch Giacobbo sieht, weil sich das Ich des Bundespräsidenten vollständig im Ich des Satirikers aufgelöst hat, dass dieser Ueli Maurer also (der echte) beschwingt und steif die Türen des Bundesarchivmuseums in Schwyz aufstösst und danach in die Kamera des Schweizer Fernsehens sagt: «Wir können dankbar sein. Uns geht es gut, während die Länder um uns herum immer mehr Probleme haben. Besinnen wir uns also auf unsere Herkunft, auf unsere Wurzeln. Hier in Schwyz finden wir zahlreiche Zeugen aus unserer Geschichte. Ein ganz besonderes Dokument liegt hier vor uns. Der Bundesbrief aus dem Jahr 1291.» Dabei handle es sich um ein 721-jähriges Originaldokument, dessen Botschaft zeitlos sei und die Gesellschaft bis heute präge.
Der Bundespräsident schaffte in seiner Neujahrsansprache aus Schwyz das seltene Kunststück, in einem Satz die Wahrheit zu sagen und gleichzeitig zu lügen. Der Bundesbrief ist nicht 721 Jahre alt, er ist kein «Originaldokument», er konstituiert die Schweiz auch nicht – alles längst widerlegte Weisheiten.
Aber Maurer hat recht, dass der Bundesbrief die Gesellschaft bis heute prägt. Nicht nur wegen seines Inhalts, sondern als Symbol eines Mythos, der offensichtlich nicht kaputt zu bekommen ist.
Den Mist an den Händen
Der Auftritt von Maurer ist exemplarisch. Er spricht in Schwyz (im «Herzen der Schweiz») zuerst von den Bedrohungen von aussen (seien wir froh, geht es allen rundherum so schlecht) und zieht sich dann gedanklich zurück auf jene lauschige Wiese, auf der drei wackere Bergler vor Urzeiten gegen fremde Vögte zusammengestanden sind und sich ewig währende Treue geschworen haben.
Wir Schweizerinnen und Schweizer stehen heute noch neben diesen urigen Eidgenossen, haben gedanklichen Mist an den Händen, gehen nachher schnell den Kühen schauen, bevor wir die Sense schleifen und ohne Seilwinde (fremde Hilfe!) das saftige Gras am überhängenden Hang vor unserem Heimetli mähen.
Eine Sehnsucht von früher
Unsere politische Kultur wird von dieser im 18. Jahrhundert erfundenen Sehnsucht nach den Alpen bestimmt, nach dem Sein als freier und harmonisch lebender Bergler. Germanist Peter von Matt führt den Mythos im Einführungsessay seiner preisgekrönten Aufsatzsammlung «Das Kalb vor der Gotthardpost» auf das Idyll-Gedicht «Die Alpen» von Albrecht von Haller zurück und erkennt die Nachwirkungen von dessen Bergbeschreibung bis heute: «Noch immer kommen sich Leute, die stadtnah und an bevorzugter Lage in angenehmen Villen leben, als geborene Bergler vor, spielen im Nadelstreifenanzug den politischen Wurzelsepp und werden dafür von andern synthetischen Berglern begeistert beklatscht.»
Die Sehnsucht nach den Alpen ist der Kern des «Sonderfalls».
Von Matt meint Maurer. Und er meint ganz viele andere mit ihm. Die Sehnsucht nach den Alpen, das Selbstverständnis der Schweizer im Herzen immer noch kuhtreibende Bauern zu sein, ist eines der grössten Missverständnisse der Schweiz. Es ist der Kern des «Sonderfalls».
An der Debatte um mögliche Olympische Spiele in Graubünden im Jahr 2022 lässt sich der Mythos Alpen einmal mehr wunderbar illustrieren. Anders als bei der Expo vor elf Jahren, deren positiver Einfluss auf den gesamteidgenössischen Zusammenhalt zuerst mühsam erstritten werden musste, scheint bei der Debatte um mögliche Olympische Spiele in Graubünden jener Effekt schon vor der Investition der ersten Milliarde als schicksalsgegeben. «Olympische Spiele würden uns gut tun», sagt der Schweizer IOC-Präsident Jörg Schild. Und der Bünder CVP-Nationalrat Martin Candinas: Sie würden uns «zusammenschweissen». «Die Spiele sollen zeigen, was in der Schweiz alles möglich ist», sagt der SVP-Vertreter Heinz Brand (GR). «Es ist eine grosse Chance zu zeigen, was die Schweiz kann. Solche Anlässe geben immer auch die Möglichkeit, das Selbstvertrauen zu stärken», sagt die FDP-Nationalrätin Daniela Schneeberger (BL).
Die positive Bewertung des Einflusses von Olympischen Spielen hat stark mit dem Ort ihrer Durchführung zu tun. Es wären Olympische Spiele in heiler Natur, in den Bergen, in der echten Schweiz.
Quer zur Realität
Das Absonderliche an der Überbetonung des Gemeinsamen und des Mythos ist deren Bezug zur Realität: Es gibt keinen.
Und damit zurück zu den Fakten. Nicht nur hat die Lebenswelt der überwältigenden Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer nichts mehr mit Bergen, Landwirtschaft oder heiler Natur zu tun. Im Gegenteil spielen die Berge, die Landwirtschaft oder die heile Natur auch gar keine Rolle mehr für den Erfolg der Schweiz. Die wirtschaftliche Leistungskraft des Landes entstammt den Städten. Gleichzeitig haben diese Städte in unserem in der Mitte des 19. Jahrhunderts erschaffenen politischen Systems eine geradezu absurd geringe Bedeutung (hier geht es wieder um den Urner, der bei Volksabstimmungen – sofern das Ständemehr gefragt ist – und im Parlament 34-mal mehr zu sagen hat als der Zürcher).
Dieses offensichtliche Missverhältnis wird im ländlich dominierten Parlament in Bern aber vornehm ignoriert. Es sind höchstens ein paar versprengte Politiker aus den Städten selber, die ihre Untervertretung beklagen. «Das Parlament ist ländlich geprägt, und diese Regionen kommen besser weg», sagt der Basler SVP-Nationalrat Sebastian Frehner. «Das ist nicht gut, und dagegen muss etwas unternommen werden.»
SP-Ständerätin Anita Fetz wird noch etwas deutlicher: Die freundeidgenössische Solidarität sei zur Einbahnstrasse verkommen, schreibt sie auf Anfrage der TagesWoche. «Strukturell bedingt hat die ländliche Schweiz in fast allen Fragen auf Bundesebene eine Mehrheit.» Und diese Mehrheit nutze sie «ziemlich unverfroren», um sich Vorteile zu verschaffen. Beispielsweise beim Finanzausgleich, bei der Abgeltung von städtischen Zentrumsleistungen, bei der «unfreundlichen Steuerdumping-Strategie». Und, und, und.
Diagnose «Urbaphobie»
Im Rest des Parlaments (und der Bevölkerung) stossen solche Klagen auf wenig Verständnis. Mehr noch: Die Lausanner Wissenschaftlerin Joëlle Salomon Cavin diagnostiziert in ihrem Buch «Antiurbain, origines et conséquences de l’urbaphobie» gar eine institutionalisierte Form der Missbilligung der Städte. In einem Interview mit swissinfo.ch sagte die Wissenschaftlerin im Herbst des vergangenen Jahres: «Die Stadt setzt sich der Kritik aus, weil sie viele Unannehmlichkeiten verursacht. Aber die ‹Urbaphobie› geht viel weiter. Es ist ein organisierter Diskurs, ein feindliches Werturteil über die Städte, eine Ideologie, die sich auf die Praxis auswirkt.»
Die Schweiz lebt in einer Diktatur der Einfamilienhaus-Besitzer.
Das Bild der Stadt als treibende Kraft des Erfolgs der Schweiz passt nicht zum Alpen-Mythos und wird ignoriert. Das ist der Grund, warum die Städte keine Lobby in der restlichen Schweiz haben und ihr Ein-fluss im politischen Geschehen nicht ihrer wirtschaftlichen Bedeutung entspricht.
Stattdessen stimmt die Agglomeration, im Grunde in einem städtischen Umfeld zu Hause, entlang ihres Wunschbildes ab. So sind Einfamilienhaus-Möchtegern-Alpinisten von Rothrist und Langenthal die dominierende Macht in der Schweiz geworden. Wenn es dabei um ihre Sehnsuchts-Schweiz geht, schrecken die städtisch-ländlich verwirrten Agglomerations-Bewohner auch nicht davor zurück, den echten Berglern zu sagen, wo es langgeht.
Die Alpen kolonialisiert
Bestes Beispiel: Die Zweitwohnungs-Initiative im März 2012, die von der Agglomeration gegen den Willen der Oberländer angenommen wurde. Stadtwanderer Benedikt Loderer hat es in einem Interview mit der TagesWoche im Frühling 2012 so gesagt: «Die Abstimmung hat auch gezeigt, dass die Unterländer die Alpen als ihren Stadtpark betrachten. Und den möchten sie gerne so unberührt und unversehrt wie möglich belassen. Wir haben die Alpen längst kolonialisiert. Wir erleben heute die Herrschaft der Unterländer über die Alpen.»
Nur die letzten Bergler
Am 3. März wird die Diktatur der Unterländer für einmal gebrochen. Es sind einzig die Bündnerinnen und Bündner, die über Sein und Nichtsein des Olympia-Projekts entscheiden dürfen. Eine Mehrheit der Agglomerations-Schweiz würde wohl gerne auch ein Wörtchen mitreden. Zu verlockend ist die Aussicht, das mystifizierte Selbstbild mit möglichst naturnahen Spielen im eigenen Land zurück in die Realität zu holen. Die Agglomerations-Schweiz möchte der Welt da draussen gerne zeigen, wie sie eigentlich ist. Und ist nun auf das Wohlwollen der paar letzten verbliebenen echten Bergler angewiesen.
Quellen
Die Website des Schweizerischen Städteverbands.
Die Neujahrsansprache von Bundespräsident Ueli Maurer als Text und als Video.
Die historischen Fehler in der Neujahrsansprache von Ueli Maurer.
Auszüge aus dem Gedicht «Die Alpen» von Albrecht von Haller.
Interview mit Jöelle Salomon Cavin auf swissinfo.ch.
Die Berichterstattung von swissinfo.ch zum Städtetag 2012.
Der «Tages-Anzeiger» über den Stadt-Land-Graben.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04.01.13