Wo Bünzli und Hipster sich gute Nacht sagen

Das St. Johann hat eine rasante Entwicklung hinter sich. Vom verruchten Rand der Stadt ist es ins Zentrum der städtebaulichen Aufmerksamkeit gerückt. Den Bewohnern scheint das zu gefallen – sie wachsen mit ihrem Quartier mit.

Einst war das St. Johann für Basel vergessenes Land. Heute ist es das Vorzeigequartier der Stadt. (Bild: Michael Würtenberg)

Das St. Johann hat eine rasante Entwicklung hinter sich. Vom verruchten Rand der Stadt ist es ins Zentrum der städtebaulichen Aufmerksamkeit gerückt. Den Bewohnern scheint das zu gefallen – sie wachsen mit ihrem Quartier mit.

Es ist nur einen Wimpernschlag der Geschichte her, da war das St. Johann im Westen der Stadt verrufene Peripherie. Abbruchgebiet, vernachlässigte Zone. Die Industrie im Norden, die Baracken der Arbeiter im Süden und all das, was man im Rest der noblen Stadt nicht haben wollte. Das St. Johann werde behandelt wie ein Stiefkind, hielten bereits die «Basler Nachrichten» im Jahr 1859 fest.

Aber das war damals. Heute ist das St. Johann, was Reiseführer gerne als «Trend-Quartier» mit einem Sternchen versehen. Das Quartier ist sehr urban, sehr hip, sehr angesagt. Und den Bewohnern gefällt die Entwicklung. «Das St. Johann ist ein wunderbares Quartier», war der am meisten geäusserte Satz bei unserem Stopp vor einer Woche mit dem Kaffeemobil. Es sei so wunderbar, dass es einen kaum wieder loslasse, meinte eine Bewohnerin an unserem Stand. Drei Jahre hatte sie es ohne ihr Quartier ausgehalten, dann musste sie wieder zurück. «Ich bin froh, habe ich eine Wohnung gefunden und darf wieder hier leben.»

Nirgends in Basel leben mehr Kinder, nirgends ist der Ausländeranteil so hoch wie hier (42,1 Prozent) und so selten ein Thema. Kein anderes Quartier hat sich aber auch so stark verändert wie das St. Johann. Es wurde gebaut, aufgewertet, umgestaltet – und die Entwicklung ist längst nicht am Ende, wie Regierungspräsident Guy Morin diesen Frühling öffentlich verkündete.

Aufgewühlte Geschichte

Nicht nur Plätze, Pärke und Häuser haben sich in den vergangenen 20 Jahren gewandelt, sondern auch die Bevölkerung. Besetzten in den 1980er-Jahren noch junge Menschen die ehemalige Stadtgärtnerei als Zeichen gegen den Mief von Stadt und Zeit, schieben sie heute Kinderwagen durch die Elsässerstrasse und trinken Latte Macchiatto im «Jonny Parker» (auch «Pärklibär» genannt), der neuen Bar im aufgewerteten St.-Johanns-Park.

Die aufmüpfigen Studenten von einst sind erwachsen geworden. Gemütlicher, bürgerlicher – und mit ihnen das Quartier. Zwar gibt es auch heute noch Demonstrationen gegen die Aufwertung des Quartiers, manchmal gehen dabei auch ein paar Schaufensterscheiben zu Bruch – aber dieses Aufbegehren hat nicht mehr die Kraft wie vor 20 oder 30 Jahren. Die Aufwertung hat vorläufig gewonnen.

Denn echte Gründe zum Klagen hat kaum einer der rund 18 000 Quartierbewohner. Sie sind umgegeben von Grün mit dem Kannenfeldpark im Westen, dem St.-Johanns-Park im Osten, der Voltamatte im Norden und dem Tschudipark im Süden. «Ein Traum für jede Familie», schwärmte TagesWoche-Leserin und zweifache Mutter Andreina beim Besuch des Kaffeemobils.

Die Stadt ist in Gehweite, der Flughafen und die Autobahn sind nahe, die ÖV-Anbindung ist gut und mit der Neugestaltung des Voltaplatzes wurde der letzte Schandfleck ausgemerzt. Mehr noch: «Der Mix aus neuen Bauten und bisheriger Struktur ist toll», lobt Architekt Markus Schmid.

Kleinbetriebe haben es schwer

Wer solche Vorzüge aufzweisen hat, ist begehrt. Und obwohl die Neubauten rund um den Voltaplatz jüngere und einkommensstärkere Menschen angelockt haben, gibt es immer noch genügend finanzierbaren Wohnraum für Familien. Jedenfalls machte sich niemand am Stand der TagesWoche Sorgen um steigende Mietpreise. Sorgen haben eher die kleinen Gewerbetreibenden, die versuchen, im St. Johann zu überleben und es je länger, je schwieriger haben, wie Kioskbetreiber Aydin Sen etwa. An einem guten Sonntag verkaufte Sen früher 200 Zeitungen in seinem Kiosk beim St.-Johanns-Tor. Heute werden noch 50 Stück geliefert, und die meisten bleiben liegen. Inzwischen ist der Türke so weit, dass er sich überlegt, in Zukunft ganz auf Zeitungen zu verzichten.

Aber auch die indische Familie mit ihrem Laden an der Ecke Jungstrasse, Thiyahu Thamboo mit seiner Familie im Denner-Satelliten vorne an der Elsässerstrasse, die Kurden hinten an der Mülhauserstrasse – sie alle kämpfen ums Überleben.

Die Randzeiten funktionieren noch einigermassen für diese kleinen Läden, wenn die Parkbesucher Bier und Zigaretten brauchen. Für den normalen Einkauf gehen die Bewohner des St. Johanns aber zu den grossen Detailhändlern. Migros und Coop haben das Potenzial des aufgewerteten Quartiers erkannt. Coop hat kürzlich eine grosse Filiale an der Elsässerstrasse eröffnet, die Migros baut noch an ihrem neuen Laden. Das Geschäft wird zwei Eingänge haben: einen zur Mülhauserstrasse, einen zur Elsässerstrasse. Dort, wo früher die kurdische Familie Saridas ihren Laden hatte.

Kleinigkeiten stören das Glück

Längst verschwunden sind zum Leidwesen alteingesessener Quartierbewohner wie Theo Keel auch viele der traditionellen Quartierbeizen. Seit 30 Jahren lebt er hier, und inzwischen blickt er neidisch ins Kleinbasel: «Ich würde mir so etwas wie das Restaraunt Eintracht auch hier wünschen.» Überhaupt könnte es das eine oder andere Café mehr haben, wie uns viele Bewohner mitteilten. Am liebsten mit WLAN.

Es sind kleine Dinge, die den Bewohnern zum perfekten Glück im St. Johann noch fehlen: Der Verkehr am Voltaplatz sei zwar nicht mehr so schlimm wie früher, aber noch immer wälzt sich eine Blechlawine jeden Morgen über den Platz. Die Anwohner fragen sich, warum man nicht die Autobahnausfahrt im Kleinbasel öffnet und die Elsässerstrasse für Lastwagen sperrt. Ein Daueraufreger ist auch der Abfall: Regelmässig werden Bebbi-­Säcke zu früh auf die Strasse gestellt oder als Abfallhalde missbraucht. «Die Lage würde entschärft, wenn es mehr Abfalleimer in den Quartierstrassen gäbe», hiess es an unserem Stand.

Integration per Kompost

Es sind eben doch die kleinen Dinge, die zählen, selbst in diesem, ach so hippen Quartier. Dinge wie der Abfall. Oder die Kompostgruppe. Jeden Samstag treffen sich auf dem Kompostplatz Freiwillige, die für rund 100 teilnehmende Quartierbewohner nach strengen Regeln den Grünabfall zu kompostierbarem Material verarbeiten. Für Neuzuzüger ist es ein Ort der Integra­tion, erzählt uns David. Er lebt erst seit anderthalb Jahren im Quartier, aber dank der Arbeit auf dem Kompostplatz sei er schnell in Kontakt mit anderen Bewohnern gekommen. «Hier trifft man Jung und Alt, In- und Ausländer, es ist ein Quartiertreffpunkt jenseits der üblichen Art.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 31.08.12

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