Wo früher zwischen Texas und Mexiko der Rio Grande floss, hängt heute ein Eiserner Vorhang

Im Niemandsland von Südwest-Texas ist die grüne Grenze seit 9/11 geschlossen – obwohl es hier keine Terrorgefahr gibt. Auf der mexikanischen Seite des Rio Grande entvölkern sich die Dörfer, auf der amerikanischen geht ein Lebensgefühl verloren.

Boquillas: Kinder verkaufen Souvenirs. Die einzige Strasse führt nach Múzquiz im mexikanischen Hinterland. 260 Kilometer Schotterpiste. (Bild: Thomas Brunner)

Im Niemandsland von Südwest-Texas ist die grüne Grenze seit 9/11 geschlossen – obwohl es hier keine Terrorgefahr gibt. Auf der mexikanischen Seite des Rio Grande entvölkern sich die Dörfer, auf der amerikanischen geht ein Lebensgefühl verloren.

Das hier ist ganz grosses Kino. Kein Mensch zu sehen, kein Laut zu hören. Nur dieser weite Himmel über endloser Prärie. Gen Osten zeichnen die Zacken der Chisos Mountains, gen Westen das Felsband der Sierra de Santa Elena. Träge fliesst das schmale Band des Rio Grande aus dem Canyon.

Drüben in Mexiko, auf der anderen Seite des Flusses, duckt sich ein einsames Dörfchen unter der Sonne. Rauch steigt auf aus einem der Häuser. Siehe da! Es gibt noch Leben in Santa Elena.

Ein Vaquero hoch zu Pferd führt seine Herde zum Wasser. «Manchmal», wird Manuel Rubio in seinem Laden auf der texanischen Seite später erzählen, «büxt eines der Rindviecher aus und macht sich auf den Weg in die USA.» Stapft einfach über die internationale Grenze und geht sich in Texas umschauen. Manchmal macht es von alleine kehrt. Wenn nicht, wird ein Park Ranger des Big-Bend-Nationalparks es irgendwann zurück ins Wasser treiben.

Ein Vaquero führt in Mexiko seine Herde zum Wasser. Manchmal macht sich ein Rind auf den Weg in die USA.

Ein Vaquero führt in Mexiko seine Herde zum Wasser. Manchmal macht sich ein Rind auf den Weg in die USA. (Bild: Thomas Brunner)

Der Vaquero jedenfalls darf seinem Tier nicht hinterherreiten. So will es das Gesetz. Es gibt hier, mit einer klitzekleinen Ausnahme, auf 640 Kilometer Grenzlinie zwischen Presidio/Ojinaga und Del Rio/Ciudad Acuña keinen offiziellen Grenzposten. Folglich kann der Vaquero weder ordentlich ein- noch anschliessend wieder ausreisen. 

Angenommen, er geht sein Rind trotzdem in Texas holen und lässt sich dabei erwischen: Dann ist er illegal im Land. Der Park Ranger muss ihn – es sei denn, er drückt beide Augen zu – der Border Patrol, der Grenzpolizei, übergeben. Die fährt mit ihm zuerst durch ein Stück Nationalpark und anschliessend dem Rio Grande entlang flussaufwärts nach Presidio, 160 Kilometer weit. In Presidio lässt sie ihn in einer Amtsstube so lange warten, bis seine Identität geklärt ist. Dann schafft sie ihn nach Ojinaga aus.

Die grüne Grenze ist seit dem 10. Mai 2002 geschlossen. Aus Sicherheitsgründen: «to make America safer». Als Massnahme zur Terrorismusbekämpfung, wie postuliert, taugt das Gesetz allerdings kaum. Erstens ist allein die Grenze zu Mexiko 3140 Kilometer lang. Absolute Sicherheit würde da nicht einmal eine Neuauflage der chinesischen Mauer garantieren. Zweitens gibt es im Norden Mexikos keine Terroristen, die darauf aus sind, in den USA einen Anschlag zu verüben. Jedenfalls ist den Behörden seit 9/11 kein einziger solcher Fall bekannt.

«International Crossing»: Ein Fährmann rudert Besucher über den Rio Grande nach Boquillas, Mexiko. Im Hintergrund die Sierra del Carmen.

In der Dämmerung gehen drüben ein paar einsame Lichter an, einer texanischen Elektrizitätsfirma sei Dank. In seinem Laden kippt Manuel Rubio den Schalter um, schliesst die Tür hinter sich ab und macht sich auf den Weg nach Hause, nach Presidio. Presidio ist zu 95 Prozent Hispanic, TexMex wie eh und je. Aber ringsum ist nichts mehr wie früher.

La Frontera ist Vergangenheit. Kein leichtfüssiges Hin und Her mehr zwischen hüben und drüben: zum Arbeiten von Paso Lajitas, Mexiko, nach Lajitas, Texas, und abends wieder nach Hause. Verwandtenbesuche, egal wo. Oder für eine Geburt von Boquillas nach Alpine, Texas. Das ist zwar ein weiter Weg, aber immer noch kürzer als die 260 Kilometer Schotterpiste nach Múzquiz im mexikanischen Hinterland.

Kommt hinzu: Ist das Kind in den USA geboren, wird es automatisch amerikanischer Staatsbürger. Schluss auch mit den grenzüberschreitenden Fiestas, den Gigs, diesem «Born to be free»-Lebensgefühl. 

Die gutnachbarlichen Beziehungen leiden. Früher war der Fluss nur ein Fliessgewässer, Rio Grande für die einen, Rio Bravo del Norte für die anderen. Jetzt ist daraus eine Art Eiserner Vorhang geworden.

Vor zwei Jahren ging ein Türchen auf. Ein Türchen für Touristen mit Pass. Wer im Big-Bend-Nationalpark Ferien macht, kann jetzt einen Abstecher nach Mexiko draufpacken und sich mit dem Ruderboot nach Boquillas übersetzen lassen. Ein schmucker Grenzposten im Adobe-Stil komplett mit Kakteen-Vorgärtchen machts möglich.

Nigelnagelneuer Grenzposten bei Boquillas. Ausreisen kann jeder. Wer einreisen will, wird elektronisch geprüft, via Skype und Scanner.

Nigelnagelneuer Grenzposten bei Boquillas. Ausreisen kann jeder. Wer einreisen will, wird elektronisch geprüft, via Skype und Scanner. (Bild: Thomas Brunner)

David Elkowitz, den Presseverantwortlichen des Parks, freuts: «Die Möglichkeit, ein bisschen Mexiko zu schnuppern, macht den Park attraktiver.» Die Touristen freut es ebenso. Die Häuser sind bunt gestrichen wie für eine Kinderparty, in der Kirche flattern Papiergirlanden, auf staubigen Strassen geben sich Streunerhunde ein Stelldichein.

Am meisten aber freuts Leute wie Lilia Falcon. Sie ist zusammen mit zirka 150 anderen in ihre Heimat zurückgekehrt und hat ihr Restaurant wiedereröffnet. Boquillas ist auferstanden. In der Schule hats wieder Kinder. Unter freiem Himmel stehen Frauen an Tischen und bieten handgefertigte Skorpione und Taschen mit Eselsmotiv an. Die Gringos kommen, und sie tun Gutes: Sie geben Geld aus.

«Drei Millionen Dollar hat der Grenzposten gekostet!» Collie Ryan findet es haarsträubend. 23 Jahre lang lebte die zierliche Songwriterin unten am Fluss bei Lajitas. Als sie in den späten 1970er-Jahren auf ihrem Roadtrip in Südwest-Texas landete, einen Cowboy an der einen, die Gitarre in der anderen Hand, da wusste sie: «This is home.» Grandiose Landschaft, dünn besiedelt. Wer hier lebte, wusste sich zu helfen, und im Notfall half man sich gegenseitig.

«Auch wir möchten mit unseren Nachbarn in Frieden leben. Aber das Gesetz geht vor.» 
Bill Brooks, Border Patrol

Als die Grenze zuging und ihre Freunde drüben in Paso Lajitas ihre Jobs verloren, behielt sie ihr Ruderboot. So viel ziviler Ungehorsam musste sein angesichts eines sich immer rigider gebärdenden Amerikas.

Die erste «Voices from Both Sides»-Fluss-Fiesta bei Lajitas/Paso Lajitas stieg 2013, im Mai. Dem Monat, als die Grenze zuging. Organisiert von Collie Ryan und Jeff Haislip, einem Musiker, für die amerikanische, und Benjamin Ortiz, dem Bürgermeister von San Carlos, für die mexikanische Seite. Im ersten Jahr kamen um die 150 Leute, im zweiten 500 und die «New York Times».

Auf Fotos stehen fröhliche Menschen im Fluss, bilden händehaltend einen Kreis. Andere sitzen am Ufer, essen und trinken. Frisbees segeln, Kinder plantschen, Hunde spielen. Ein Foto zeigt Collie Ryan an der Gitarre und hinter ihr zwei Beamte der Border Patrol.

Viva Boquillas! Darauf ein Bierchen, sobald die «Park Bar» öffnet. Im Hintergrund die Sierra del Carmen.

Viva Boquillas! Darauf ein Bierchen, sobald die «Park Bar» öffnet. Im Hintergrund die Sierra del Carmen. (Bild: Thomas Brunner)

Das Department of Homeland Security, das Ministerium für Inlandsicherheit, hat bis auf Weiteres grünes Licht gegeben, aber die Order ist klar: Keiner der mexikanischen Partygäste geht auf der amerikanischen Seite weiter als bis zur Uferböschung.

Bill Brooks, Presseverantwortlicher der Border Patrol, Sektor Big Bend, weiss um den Spagat zwischen Wunsch und Wirklichkeit: «Auch wir möchten mit unseren Nachbarn in Frieden leben. Aber das Gesetz geht vor.»

Das Gesetz schultern 710 Polizisten, verantwortlich für 816 Kilometer Grenze und sehr viel Hinterland. Sie bemannen die Checkpoints auf den wenigen Strassen, fahren Patrouille. Am Himmel schwebt gut sichtbar ein «Aerostat», ein Heliumballon, vollgepackt mit Radarelektronik, gegen tieffliegende Kleinflugzeuge. Und, unbestätigten Berichten zufolge, eine unsichtbare Drohne.

Im Jahr erwischt die Border Patrol hier um die 3000 illegale Einwanderer und den gelegentlichen Backpacker mit 20 Kilo Marihuana auf dem Rücken. Big Bend ist ein ruhiger Sektor. Das Terrain meint es nicht gut mit den Gesetzlosen. Wer hier irgendwo ankommen will, muss lange laufen.

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Viva Boquillas! Darauf ein Bierchen, sobald die «Park Bar» öffnet. Im Hintergrund die Sierra del Carmen.

Viva Boquillas! Darauf ein Bierchen, sobald die «Park Bar» öffnet. Im Hintergrund die Sierra del Carmen. (Bild: Thomas Brunner)

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