Wo ist die Gesetzeslücke, in die mein Wohnwagen passt?

Der jenische Autor Venanz Nobel war bei der polizeilichen Räumung des Protestcamps von Fahrenden in Bern vor Ort. Ihn erinnert der aktuelle Konflikt an frühere Auseinandersetzungen um Stellplätze – nur dass diese heute noch spärlicher geworden sind.

Abfahren! Ein Polizist bei der Vertreibung der Fahrenden von der Kleinen Allmend in Bern.

Der jenische Autor Venanz Nobel war bei der polizeilichen Räumung des Protestcamps von Fahrenden in Bern vor Ort. Ihn erinnert der aktuelle Konflikt an frühere Auseinandersetzungen um Stellplätze – nur dass diese heute noch spärlicher geworden sind.

Ich bin 1956 geboren. Trotzdem nennt man Leute wie mich wohl «Kinder der Siebzigerjahre», meiner prägenden Zeit zwischen 20 und 30. Viele erlebten die «wilden 1970er» als grosse Zeit von Rock und Punk, von freier Liebe und politischem Aufstand.

Andere brauchten die ganze Kraft ihrer wilden Jahre für die Befreiung aus fortdauernder Bevormundung. Als ich meinen 20. Geburtstag feierte, war die Radgenossenschaft, die erste Selbstorganisation von Jenischen, Sinti, Roma, gerade mal ein Jahr alt. Rückblickend staune ich, dass sich so kurz nach dem Ende des Generationen von «Vaganten» prägenden und an den Rand der Gesellschaft drängenden «Hilfswerks» Kinder der Landstrasse bereits der grosse Theatersaal des Berner «Bierhübeli» mit mutigen, trotzigen, visionären Jenischen füllte. Auf dem Podium sassen die Schriftstellerin Mariella Mehr, der Künstler Walter Wegmüller, aus Basel Zory Müller und Theres Häfeli.

Die Radgenossenschaft – «richtige Zigeuner» werden

Theres lebte in einem Holzwohnwagen im Wald an der Birs bei Münchenstein. Sie war an dieser Versammlung die grosse Ausnahme, die als Mutter nicht nur von ihrem erfolgreichen Kampf gegen den Vormund der Pro Juventute zu berichten wusste, sondern auch die Geschichte(n) der Jenischen kannte, ihre Traditionen und Bräuche. Für die Kinder der Landstrasse aber war das Treffen ein Meilenstein auf ihrem Heimweg.

Sie kamen heim in eine Kultur, die sie nur von abfälligen Bemerkungen ihrer Erziehungsbevollmächtigten und aus lustigen Zigeunerliedern kannten. Altgediente Schrotthändler und Scherenschleifer, die ihr Gewerbe jahrzehntelang von einem Haus aus betrieben hatten, und ihr Milchgesicht hinter einem mächtigen Schnauz versteckende Jungspunde zogen los, hinaus zum Campinghändler, um ihren ersten Wohnwagen zu kaufen und «richtige Zigeuner» zu werden.

40 Jahre später gründet eine nächste, vom Leben im Wagen seit Kindsbeinen geprägte, Generation ihren Verein, den sie Bewegung der Reisenden nennen. Auch sie ziehen los. Mit ihren Familien und Wohnwagen hat die erste Fahrt des Frühlings ein bestimmtes Ziel: Bern! Am Dienstag, 22. April 2014, soll die Bundeshauptstadt zum symbolträchtigen Ort ihrer Demonstration werden. Schliesslich hat man Probleme nicht nur in einem Dorf oder Kanton. Für bessere Lebensbedingungen wollen sie dort demonstrieren, wo sich auch die Politik des ganzen Landes trifft.

Machtdemonstration an der Autobahnausfahrt

Auf ihrem Flugblatt stehen zwei grosse Forderungen: 20 neue Plätze im ganzen Land innert zwei Jahren und die Anerkennung des jenischen Volkes. Die Flugblätter bleiben druckfrisch in den Wohnwagen liegen. Ein mächtiges Polizeiaufgebot stoppt die Wagenkolonne an der Autobahnausfahrt. Schon diese erste Begegnung mit der Berner Staatsgewalt macht deutlich, dass den Jenischen die Macht demonstriert werden soll. 
Man geht ja auch nicht ungefragt demonstrieren an einem Tag, an dem die Polizei sich wegen Fussball-Hooligans, die am Montag zuvor in der Stadt randaliert hatten, als untätig kritisieren lassen muss!

Doch die Fahrenden machen genau das. Sie haben, wie das so schön politikerdeutsch heisst, «ihre eigene Agenda».

In dieser Agenda steht: Frühling, Zeit, sich auf die Reise zu machen. Oder wie die Jenischen sagen: «Wänn d Vögeli zwitschere, muess ich eifach gah!» Bloss: Wohin? Die Stiftung Zukunft Schweizer Fahrende müsste es eigentlich wissen. Sie wurde 1995 vom Bund gegründet mit dem Auftrag, die Lebensbedingungen der Fahrenden in der Schweiz zu sichern und zu verbessern und zu diesem Zweck die Zusammenarbeit zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden zu fördern. In ihrem letztmals 2010 publizierten Gutachten «Fahrende und Raumplanung» listet sie 14 Stand- und 43 Durchgangsplätze auf, Tendenz sinkend.

Wie bei Listen so üblich, sieht der Laie selten, was hinter den nackten Zahlen steht. Auch die bunten Grafiken vermögen nur einen Teil der Wirklichkeit abzubilden, Geschichten erzählen sie keine.

Als man den Aufenthalt noch per Handschlag regelte

Schon 1988 erschien das Büchlein «Fahrende unter Sesshaften». Maria-Luisa Zürcher-Berther, Autorin dieser Fleissarbeit mit Umfragen bei allen Schweizer Gemeinden, wusste noch von insgesamt 77 Plätzen zu berichten, wobei es noch keine strikt bürokratische Trennung in Stand- und Durchgangsplätze gab. Noch früher muss, so erzählen die Grosseltern, die Zahl der Plätze noch um etliches grösser gewesen sein. «Früener hätts praktisch i jedem Dorf es Chiesgrüebli oder en Waldegge gäh, wo mir händ chöne halte», berichtete Berti, meine Grossmutter.

Mit dem Wirtschaftsaufschwung begann der Untergang dieser alten Art zu reisen, wo jeder Fahrende den Dorfpolizisten oder den Gemeindepräsidenten kannte und den Aufenthalt per Handschlag regelte. Wenn die Zeit gekommen und die Geschäfte in der Gegend erledigt waren, zogen die Alten weiter, meist auf gleichbleibenden Routen, wie sie schon ihre Vorfahren befahren hatten. Die Bäuerin, neben deren Hof die Wagen standen, erkundigte sich bei der Anreise, ob Nachwuchs gekommen sei. Beim Kaffee erzählte sie dann: «Jetz bisch au scho Mueter worde. Weisch no, als Chind, bisch amigs no mir ufem Schoss gsässe!»

Eine juristische Sisyphusarbeit

Doch plötzlich, im nächsten Jahr, stand dort, wo der Fahrenden Platz war, ein prächtiges neues Haus. Stetig wurden die Distanzen zwischen den Plätzen grösser – so wie auch die Dörfer wuchsen. Dieses Wachstum rief die Politik auf die Bühne. «Raumplanung» hiess das Zauberwort. Selbstverständlich gab es auch in den 1970er-Jahren keine fahrenden Raumplaner. Und weil die Chessler und Schlyfer ja nur sporadisch vorbeikamen, vergass auch der Gemeindepräsident, einen Bedarf an Wohnwagenplätzen bei den Beamten anzumelden.

Plötzlich bekamen bisher unbekannte Paragrafen grosses Gewicht bei den Jenischen, die wegen nur sie betreffenden Spezialgesetzen wie der Hausierverordnung manchmal ausgewachsene, an der Feld-und-Wiesen-Universität ausgebildete Hausjuristen waren. «Das Aufstellen von Wohnwagen ausserhalb eines Campingplatzes ist verboten.» Solches war von der Gemeindeordnung über das Polizeigesetz bis zur kantonalen Bauvorschrift verstreut zu lesen. Die Lücke, in die dein Wohnwagen passt, zu finden, wurde zur juristischen Sisyphusarbeit.

Für mich war das Jusstudium, was für die meisten Dorfjungs die Fussballerkarriere: ein Bubentraum, dem, das gehört zum Bubentraum dazu, viele «Trainingsstunden» zwischen Wohnblöcken und auf Pausenplätzen geopfert werden. 1985 waren sogar die im Verein organisierten Jenischen ein erstes Mal dermassen ratlos auf der Suche nach Plätzen, dass nur noch ein Ausweg gangbar schien: «Was diese Studenten können, können wir auch! Wir demonstrieren!»

Konfrontation vor dem Verkehrshaus

An der Feckerchilbi, dem traditionellen Jahrestreffen, wurden die Pläne geschmiedet. Am Montag danach fuhr ein langer Konvoi von 50 Wohnwagen über die Strasse, die sich von Gersau Richtung Luzern dem See entlang schlängelt, auf ihr Ziel zu: der Lido-Parkplatz beim Verkehrshaus. Mag der Name des benachbarten Museums noch amüsiert haben, machte das Eintreffen der Motorradpolizei ein erstes Mal Eindruck: «Bis um 17 Uhr seid ihr hier wieder weg!» Mit ein bisschen in meinen Bubenträumen herumturnen meinerseits und dem imposanten Auftreten unseres Ältesten andererseits beschieden wir der hohen Hermandad: «Das ist öffentlicher Grund. Wenn Sie uns hier weghaben wollen, kommen Sie mit Ihrem Chef wieder. Wir haben nämlich Forderungen und wollen verhandeln.»

Ein paar Stunden später sass der erste Chef bei uns im Wohnwagen. Doch auch er war unerbittlich. «Jetzt kommt das Pfingstwochenende. Wir haben einen Vertrag mit dem Verkehrshaus. Wir brauchen jeden Parkplatz!»

Wer in den letzten Tagen eine Schweizer Zeitung gelesen hat, kennt diese Sätze bereits. Ach nein, nicht ganz. 2014 hat Bern einen Vertrag mit ihrer Messeleitung, und dieses Mal sind die Wohnwagen nicht den Verkehrshaus-, sondern den BEA-Besuchern im Weg. Zwei, drei Tage lang habe ich Zeit, die Parallelen zu bestaunen. Wie wenig sich doch geändert hat! Das Wechselspiel von drohendem uniformiertem Massenaufmarsch und mit viel Verständnis und Bedauern gewürzten Beteuerungen von Unterhändlern, dass sie, leider, leider, nichts machen können, lässt detaillierte Erinnerungen wach werden. Ich habe ja dieses Mal mehr Zeit. Ich muss nicht mehr mit der nagelneuen, sauteuren portablen Speicherschreibmaschine Communiqués, Behördenkorrespondenzen, Sitzungsprotokolle schreiben und den Ältesten juristisch beratend helfen, die Leute zu beruhigen: «Es kommt schon gut. Es passiert schon nichts. Die Wohnwagen werden nicht abgeschleppt.»

Gesang für die Polizisten

Statt des Ältesten steht den Amtsvorstehern eine ganze Gruppe Junger gegenüber. Die nächste, gar übernächste Generation argumentiert freundlich, aber bestimmt. Ihre Kinder spielen auf der Wiese, der Halbwüchsige unterhält am Absperrgitter gelangweilte Polizisten mit Gitarre und Gesang.

«Wie war das damals? Wird es wieder so sein?» Ich hoffe schon. Damals war der Ausgang der Demo ja erfreulich. Die Regierung lenkte ein, stellte nicht nur als Provisorium einen Ausweichplatz zur Verfügung, sondern unterschrieb und hielt das Versprechen, innert zwei Jahren den wohl ersten Durchgangsplatz zu eröffnen, der dem späteren Schema der Stiftung Zukunft Schweizer Fahrende entsprach.

Manches hat zwar geändert. In Luzern stand ein bei der Regierung hoch geachteter Pfarrer im schwarzen Talar zwischen den Fronten. Dieses Mal kommen die neutralen Beobachter von der Gesellschaft für bedrohte Völker, mit gelben Warnwesten gar von Amnesty International. Von den blau Uniformierten scheinen diese aber nicht gleich ernst genommen zu werden wie der Herr Pfarrer.

Sind die Jenischen tatsächlich ein arg bedrohtes Volk, dessen Demonstranten im Konflikt fast wie in einem fernen Krisengebiet nur darauf hoffen können, dass die Anwesenheit und das unbestechliche Auge der Gelbwesten das Schlimmste verhindert?

Das Aufpinseln von Nummern lässt bei den Fahrenden traumatische Erinnerungen hochkommen. «Wir haben doch Namen! Wir sind doch keine Nummern!»

Die Erinnerung wird bald zum Trugschluss, der von einem polizeilichen Sturmtrupp eines Besseren belehrt wird. Ein Helikopter kreist, Polizisten wachen vom benachbarten Fabrikdach, als unten zwischen den Wohnwagen die fahrenden Familien zusammengetrieben werden. Ein Youtube-Video zeigt, wie während des Abtransports im Gefangenenwagen trotzig «Lustig ist das Zigeunerleben» gesungen wird.

Im «Sammeltaxi» zur Turnhalle

Als ich erfahre, dass Sammeltaxis die Verhafteten in eine Turnhalle verfrachten, holte mich die Erinnerung erneut ein. Viel weiter zurück kreisen die Gedanken. 1973 trieb in Chile die Pinochet-Diktatur ihre Gegner im Fussballstadion zusammen. Nein, wir leben doch in der Schweiz!

Ja, es gibt keine Toten, noch nicht einmal physische Folter. Alles halb so schlimm? Den Jenischen haften nicht nur die Kindswegnahmen im kollektiven Gedächtnis, auch mancher Verwandte aus Deutschland hat vor nicht so langer Zeit seine KZ-Nummer mit ins Grab genommen. Die an die Kinder verteilten Polizeibärchen und der nur sanfte Begleitgriff der um Höflichkeit bemühten an die «Front» delegierten Polizisten vermögen nicht zu verhindern, dass das vom Korps für Ernstfälle eingeübte Aufpinseln von Nummern traumatische Erinnerungen hochkommen lässt. «Wir haben doch Namen! Wir sind doch keine Nummern!», stammeln etliche, als sie zu ihren Wagen zurückkehren.

Vieles hat sich seit Luzern 1985 verändert. Nicht nur die Zahl der Plätze hat abgenommen, auch die Sensibilität im Umgang zwischen Behörden und Jenischen scheint massiv zurückgegangen zu sein. Inzwischen sind die Demonstranten nach Biel weitergezogen, erste zaghafte Vermittlungsversuche sind angelaufen. Die Politik ist gefordert.

Wenn sich «Bern» nicht wiederholen soll, reichen ein paar auf den Sankt-Nimmerleins-Tag versprochene Kiesplätze nicht aus. Wie hiess doch gleich die zweite Forderung auf dem Flugblatt? Anerkennung des jenischen Volkes. Vielleicht müsste man den Spiess umdrehen. Statt Kontaktpolizisten in die Quartiere, könnte man «Kontakt-Jenische» in die Verwaltung entsenden.


Venanz Nobel, jenischer Autor, Historiker, hauptberuflicher Buchhalter, lebt und arbeitet in Basel. Seit den 1980er-Jahren ist er in diversen Organisationen der Jenischen aktiv, Mitbegründer des in Basel domizilierten Vereins schäft qwant und Mitglied des Stiftungsrates Zukunft Schweizer Fahrende.

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