Die EU-Kommission unterbreitet Vorschläge zur Reform des Dublin-Systems. Gestärkt werden soll die Solidarität unter den Mitgliedern. Flüchtlinge müssen mit einschneidenden Massnahmen rechnen.
«Die Flüchtlingskrise hat die Schwächen unseres gemeinsamen Asylsystems offengelegt – es kann so nicht bleiben.» Mit diesen Worten begründete Frits Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, am Mittwoch einen mit Spannung erwarteten Vorstoss zur Reform des sogenannten Dublin-Systems. Der Plan aus Brüssel soll mehr Solidarität unter den EU-Mitgliedern bringen – und mehr Überwachung der Flüchtlinge.
Zunächst geht es aber darum, das Dublin-System zu überarbeiten. Nach der 2003 eingeführten Dublin-II-Verordnung müssen Asylbewerber ihren Antrag in jenem Land stellen, in dem sie in die EU einreisen. Doch spätestens seit Herbst 2015, als alle Migranten nach Schweden und Deutschland wollten, funktioniert dieses System nicht mehr.
Timmermans schlägt nun zwei mögliche Reformideen vor. Wenn sie gut ankommen, sollen Gesetzesänderungen folgen.
«Fairness-Mechanismus»
Die erste Idee, genannt «Dublin plus», sieht eine Ergänzung des alten Systems um einen «Fairness-Mechanismus» vor. Das heisst, dass ein EU-Staat – etwa Griechenland, wo ein Grossteil der Flüchtlinge einreist – eine Umverteilung der Flüchtlinge fordern kann, wenn er sich überfordert sieht. Die Migranten würden dann auf andere Staaten verteilt. Ähnliches war schon 2015 mit zwei EU-weiten Quoten für insgesamt 160’000 Flüchtlinge geplant, es hat aber nie funktioniert.
Die zweite Idee läuft auf eine automatische Umverteilung nach einem festen Schlüssel hinaus. Sie würde das alte Dublin-System überwinden und genau jene Solidarität institutionalisieren, die vor allem die Osteuropäer bisher strikt verweigert haben. Die Kommission denkt sogar noch weiter und erwägt, das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) zu einer zentralen europäischen Asylbehörde auszubauen.
«Wir könnten das vorschlagen», hiess es in der Brüsseler Kommission, allerdings sei es eher eine «mittelfristige» Perspektive. Sie soll zeigen, wo die Reise hingehen könnte – wenn alle 28 EU-Staaten mitziehen. Genau daran bestehen aber grosse Zweifel. Zuletzt hatte Deutschland darauf bestanden, Dublin wieder voll umzusetzen. Und die Visegrad-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) haben verbindliche Quoten abgelehnt.
Konzessionen an die Hardliner
Wohl um den erwarteten Widerstand zu brechen, enthält das Reformpapier noch weitere Vorschläge, die den «Hardlinern» in der EU entgegenkommen. So soll Asylbewerbern verboten werden, in andere als die ihnen zugewiesenen Länder zu reisen. Zur Abschreckung könnte Brüssel Sanktionen vorschlagen. So soll sichergestellt werden werden, dass nicht alle Schutzbedürftigen nach Deutschland weiterziehen.
Ausserdem soll das umstrittene Eurodac-System zur Erfassung und Kontrolle der Migranten ausgebaut werden; gedacht wird etwa an die systematische Erfassung von Fingerabdrücken. «Wir müssen das Asyl-Shopping beenden», begründete Timmermans diese Law-and-Order-Ideen.
Vergleichsweise vage fallen die Vorschläge aus, mit denen die Möglichkeit zur legalen Einreise von Flüchtlingen und Migranten verbessert werden sollen. Man könnte die Umsiedlung aus Drittländern besser organisieren und man könnte die Einreise hochqualifizierter Einwanderer erleichtern, heisst es in der Pressemitteilung der Kommission. Zahlen werden jedoch keine genannt.
«Wir haben eine riesige Diskrepanz zwischen europäischer Rhetorik und Realität.»
Wolfgang Bosbach, CDU, Deutschland
Die ersten Reaktionen fielen fast durchgehend negativ aus. Der deutsche CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach gab den Vorschlägen wenig Erfolgschancen: «Wir haben eine riesige Diskrepanz zwischen europäischer Rhetorik und Realität», sagte er.
Die grüne Europaabgeordnete Ska Keller kritisierte, dass nur «kosmetische Änderungen» geplant seien. «Die EU-Kommission macht einen Fehler, wenn sie Flüchtlinge wie Stückgut verteilen will», sagte die deutsche Politikerin. Brüssel müsse endlich Anknüpfungspunkte wie Sprachkenntnisse und familiäre Bindungen bei der Verteilung berücksichtigen. Davon ist in dem Vorschlag aber keine Rede.
Entscheidung frühestens im Juni
Nicht berücksichtigt wird auch die neue Lage, die durch den Flüchtlingspakt mit der Türkei eingetreten ist. Seit Montag dieser Woche werden Asylbewerber, die per Boot nach Griechenland gereist sind, in die Türkei zurückgeschickt. Für jeden abgeschobenen Flüchtling wird zudem ein Flüchtling aus Syrien aus der Türkei in die EU umgesiedelt.
Das letzte Wort hat dabei die Türkei; die EU hat ihre Asylpolitik in der Ägäis weitgehend an ein Drittland ausgelagert. Deutsche und italienische Politiker haben bereits gefordert, mit den nordafrikanischen Staaten ähnliche Abkommen auszuhandeln. Der Vorschlag der EU-Kommission zur Dublin-Reform würde damit weitgehend hinfällig.
Mit Entscheidungen wird frühestens im Juni gerechnet. Denn die EU will erst einmal abwarten, ob und wie der umstrittene «Deal» mit der Türkei funktioniert – und dann über die Reformideen nachdenken. Von einem Konsens über eine neue Asyl- und Flüchtlingspolitik ist Europa noch meilenweit entfernt.