Xaver, Hamburg und die Hamburger Gelassenheit

Orkan Xaver war in den letzten Tagen fast einziges Thema in den deutschen Medien, Hamburg galt als besonders gefährdet. Doch wie schlimm war der Sturm wirklich – und wie reagierten die Hamburger?

Ein Blick in die historische Fischauktionshalle: Auf dem Boden stehen noch Wasserlachen. (Bild: Claudia Heydolph)

Orkan Xaver war in den letzten Tagen fast einziges Thema in den deutschen Medien, Hamburg galt als besonders gefährdet. Doch wie schlimm war der Sturm wirklich – und wie reagierten die Hamburger?

Hamburg erlebte heute morgen um 6.27 Uhr eine der schlimmsten Sturmfluten der vergangenen Jahrzehnte. Es war die zweite von insgesamt drei Sturmfluten, ausgelöst durch Sturmtief «Xaver» und die «Springtide» (eine durch den Mond ausgelöste besonders hohe Flut) zum Neumond.

Nicht nur ein Reporter und nicht nur ein Liveticker, nein so ziemlich alle deutschen Medien berichten seit Mittwoch rund um die Uhr über Orkan Xaver. Gestern Abend kam zusätzlich die amtliche Gefahrenmeldung der Hansestadt Hamburg für heute morgen – online und offline. Aber wie schlimm war es wirklich?

Ein Spaziergang von den Landungsbrücken zum Fischmarkt 

Nein, um kurz nach 6 Uhr heute morgen bin ich nicht an die Elbe runtergelaufen. Kein Katastrophenjournalismus. So hatte ich den Reportage-Auftrag der Tageswoche nicht verstanden und das ist auch nicht mein Ding.

Ich blieb im Bett, las die ersten Tweets vom Einwohnertreffen am Fischmarkt und die amtlichen Pegelstände. Dem Klang nach zu urteilen, war draußen Weltuntergang – Hagelschauer trommelten gegen die Fensterscheiben, der Sturm heulte und von Ferne erklang auch ein Martinshorn.

Der Besuch aus der Schweiz hatte mit dem Zug 14 Stunden gebraucht 

«Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ich es bis Hamburg geschafft habe», sagte die Freundin aus Zürich gleich mehrfach, nachdem sie gestern kurz vor Mitternacht nach 14 Stunden in Hamburg-Hauptbahnhof eingetroffen war. Mit dem ICE aus Basel, der mehr als die angekündigten 110 Minuten Verspätung hatte.

Nach Check-In und Flug-Storno bei der Swiss wurde die Bahn trotzdem zur Rettung für das bereits im September geplante Hamburg-Wochenende, und dann war die Schweizerin zunächst enttäuscht: es war eisig kalt, aber mehr als eine frische Brise und viel Medienrummel hatte Xaver in Hamburg vorerst nicht zu bieten. 

Statt Hafenrundfahrt Sturmbesichtigung

Heute morgen kurz nach 10 Uhr sind mein Zürcher Gast und ich zusammen an die Landungsbrücken gefahren. Natürlich nicht zum ersten Mal, aber diesmal nicht zum Sightseeing oder zur klassischen Hamburger Hafenrundfahrt, sondern um mit eigenen Augen zu sehen, was nach der Sturmflut um 6.27 Uhr wirklich passiert war.

Erster Eindruck: nicht viel. Die Bootsmänner der Ausflugschiffe warben um Kundschaft, die im Winter ohnehin spärlich ist. Der Fährverkehr auf der Elbe schipperte nach Fahrplan. Und die Kapitäne der Hafenrundfahrt kämpften gegen klassische Winterprobleme: vereistes Oberdeck und viel Wasser in der Elbe. Witterungsbedingte Umstände, aber keine Katastrophe.

Der Elb-Kapitän kennt seinen Fluss bei allen Wettern

Viel Wind um nichts wurde in den letzten Tagen gemacht, sagt Hubertus Dargel nach der Begrüssung. Als Seemann seit 1965 und langjähriger Schiffsführer beim traditionsreichen Fahrgastbetrieb «Kapitän Prüsse» kennt er die Elbe bei allen Wettern. 

Weiter zum Fischmarkt, der nicht nur einmal im Jahr unter Wasser steht. Bei einem Pegelstand von 6.10 Metern bei Hochwasser heute morgen um 6.27 Uhr hätte hier noch kein Tourist mit trockenen Füssen spazieren gehen können. Kurz nach elf aber ist nicht mehr die historische Fischauktionshalle die große Attraktion, weil man sie nur mit dem Boot erreichen kann.

Auf dem Fischmarkt sind vor allem Übertragungswagen zu besichtigen

Nein, es sind die Übertragungswagen der deutschen Fernsehsender, die auf dem verschlammten Fischmarkt den nächsten Sendeauftrag erwarten. Ganz sicher landen die durchgefrorenen Berichterstatter und die Kamerathemas heute in vielen Facebook-, Instagram- und Twitterprofilen. 

Direkt an der Kaimauer steht eine Fernsehjournalistin mit ihrem Kameramann und macht einen Aufsager, den wir kurz darauf in den Mittagsnachrichten beim ZDF sehen.

Im «Eier Carl», einem traditionellen Touristenlokal gegenüber der Fischmarkt-Halle: Der Wirt und seine Angestellten gucken um 12 Uhr auf ihrem Smartphone die Fernsehnachrichten, um zu wissen, was sie wohl gegen 18 Uhr zur dritten und letzten Sturmflut erwartet. Ein Meter weniger als am Morgen, sagt die Frau im Fernsehen. Ok, dann haben sie bis 18 Uhr geöffnet.

Die Spuren vom Morgen sind so gut wie beseitigt. Nur 1m hoch stand das Wasser im Gastraum und ist längst wieder weg. Anders als bei den Nachbarn hat ein Neubau mit hochwassersicherem Fundament und Schotten das Lokal «Eier Carl» vor dem Schlimmsten bewahrt.

Noch während der letzten Trocknungsarbeiten wird der erste Kaffee, Cappuccino, Milchkaffee ausgeschenkt. Verdienstausfall und notwendige Reparaturen müssen ab jetzt zusätzlich erarbeitet werden. Da ist noch nicht einmal Zeit für ein Interview. Leider, sagt der Wirt.

Verzweiflung bei Besitzern von Altbauten

Die Nachbarn in der «Elb-Perle» und vom «Tabakhöker» am Fischmarkt wollen nichts sagen.

«Sie sehen ja, was hier los ist! Alles kaputt…» gestandene Männer haben Tränen in den Augen, umarmen sich aufmunternd und haben heute garantiert keine Geschäfte geöffnet. Kaputte Scheiben, defekte Elektronik in der urchigen Kneipe und durchnässte Zeitungen, Zeitschriften und Tabakvorräte nebenan können nur noch entsorgt werden. Sie alle haben gewusst, dass seit gestern zu viel Wasser in die Elbe reingedrückt wurde und mit der zweiten Sturmflut heute morgen bedrohlich werden könnte. Aber dagegen tun konnten sie nicht viel: Ihre Häuser wurden gebaut, als die moderne Sturmbauweise noch nicht bekannt war und moderne Schotten noch nicht integriert wurden. «Das ist die Natur. Das muss man so hinnehmen», sagt der Wirt im «Eier Carl» und das sagen auch seine Nachbarn, obwohl die noch nicht wissen, wieviel die Versicherungen vom Sturmflutschaden übernehmen wird. 

Der Fischmarkt ist nicht so leicht zu erschüttern

«Guck mal, diese alte Fischmarkt-Halle wurde gleich so gebaut, dass sie überflutet werden kann», sagt einer der zahlreichen Touristen zu seiner Frau. Noch stehen Pfützen in der Kultstätte am Fischmarkt. Hier ist auch im Winter am Sonntag von 6 bis 12 Uhr traditionell Kapitänsfrühstück und Bootsmanns-Brunch mit Musik. Und auf der Homepage ist kein Hinweis darauf, dass dies am kommenden Sonntag, dem 2. Advent, nicht so sein soll. 

Und noch immer steht eine einsame Kamera vor der Kulisse von der Altoner Fischauktionshalle. «Hoffentlich fegt der Xaver alle Radio- und Fernsehstationen weg. Diese Scheiss Panikmache gestern und heute geht mir voll auf den Keks!» schrieb schon gestern ein Kollege in sein Facebook-Profil.

Jetzt will man alles besser machen

Was 1962 zu wenig getan wurde, weil viel zu spät gewarnt und die ARD als einziger Fernsehsender die laufende Sendung nicht für die Unwetterwarnung unterbrach, wollten nun alle alles besser machen. Aber war diese mediale Sturmflut wirklich notwendig? 

Hamburger wie Martina und Uwe sind da skeptisch. Und die beiden haben in Flutkatastrophe in Hamburg 1962 miterlebt.

«Ich habe Uwe gefragt und der kann sich nur erinnern, dass er einen Tag schulfrei hatte und aufgeräumt hat in einer Schrebergartensiedlung. Die ältere Dame hatte nur sich auf das Dach gerettet und ihre Gans lebte noch. Die war die ganze Zeit um das Garten-Haus geschwommen und so überlebte sie. Die Hühner konnten ja nicht schwimmen und ertranken. Ich habe nur immer gestaunt, wenn ich nach Hamburg fuhr, wie die Gartenkolonien unter Wasser standen. Meine Mutter war Schneiderin, und sie hatte mehrere Lehrmädchen, darunter eine, die immer zu spät kam. Das Mädchen verspätete sich an dem Tag mit der Entschuldigung, dass es eine Überschwemmung gäbe und die Schweine mit dem Bauch nach oben im Garten getrieben hätten. Meine Mutter hat ihr das nicht geglaubt, sondern gedacht, sie übertreibt einfach. Als sie dann nach Hause kam (nach Reinbek), haben wir selbst gesehen, wie das Wasser in unserem Garten hochstieg. Es hätte nicht viel gefehlt und es wäre bei uns in der Küche gewesen. Da ist uns das Ausmaß der Sturmflut überhaupt erst bewusst geworden, und dass das Mädchen wohl doch nicht gelogen hatte.»

Die Sturmflut 1976 war höher als 1962

An der Großen Elbstrasse, dort wo die modernen Sturmflut-Schotten selbstverständlich sind,  ist meinem Besuch aus Zürich sofort die Jahreszahl 1976 ins Auge gefallen. «Guck mal: 1976 war die Sturmflut viel höher als 1962!» So genau kenne ich die Sturmflut-Chronik Hamburgs nicht auswendig. Aber eines ist klar: Für Betroffene war die letzte Nacht kein Spass.

Für alle boten die vergangenen zwei Tage viel Anlass für Satire und Medienwitze. Zahlreiche Postings in den Sozialen Medien zeigen einmal mehr, dass die pausenlose Berichterstattung über Vermutungen und Prognosen nicht mehr ernst genommen wird.

Wollen sich die Medien gegenseitig überbieten?

Es fragt sich nach diesem Spaziergang von den Landungsbrücken bis zum Fischmarkt, ob sich die klassischen Medien bei jeder weiteren Unwetterwarnung jetzt crossmedial mit Livetickern, Sondersendungen und Spezial-Dossiers  gegenseitig überbieten wollen. 

Kaum haben wir die Grosse Elbstrasse verlassen, hat mein Besuch aus Zürich nichts mehr von Xaver und Jahrhundert-Sturmfluten zu sehen bekommen. Wie auch? Die Weihnachtsmärkte sind wieder geöffnet, so dass wir in unser geplantes gemeinsames Advent-Wochenende in Hamburg starten können. 



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