Die Türkei habe in ihrer Syrienpolitik einen Kapitalfehler begangen, kritisiert Yaşar Yakiş. Darum wurde der Mitbegründer der AKP und ehemalige Aussenminister aus der Regierungspartei ausgeschlossen.
Herr Yakiş, die türkische Aussenpolitik war immer traditionell zurückhaltend und verfolgte trotz Nato-Mitgliedschaft eine eher neutrale Linie. Umfragen zeigen, dass die Türken es gern weiter so hätten.
Die Umfragen zeigen zum Beispiel, dass mehr als 60 Prozent nicht mit der Syrienpolitik der Regierung einverstanden sind. Aber jetzt, wo wir so stark in Syrien involviert sind, ist es natürlich schwierig, sich zurückzuziehen. Das wäre zu Beginn sehr viel leichter gewesen, als die Türkei noch mit der internationalen Gemeinschaft zusammenarbeitete. Die Türkei stand damals richtigerweise auf der Seite des syrischen Volks gegen einen Diktator, der übermässige Gewalt anwendete. Wir beteiligten uns deshalb auch an der Unterstützung für die Opposition.
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Und was ist dann passiert?
Als die internationale Gemeinschaft feststellte, dass Waffen und Ausrüstung in die Hände von Extremisten gerieten, stoppte sie diese Unterstützung. Doch die Türkei war nicht imstande, ihre Politik der Wirklichkeit in Syrien anzupassen. Sie endete – um einen Begriff aus dem Fussball zu verwenden – in einer Abseitsposition, hinter den Spielern der anderen Seite. An diesem Punkt hätten die Entscheidungsträger ins Fernsehen gehen und sagen können: «Unsere Syrienpolitik hat sich auf die Annahme gestützt, dass Bashar al-Assads Sturz kurz bevorsteht. Nun hat sich diese Annahme als falsch erwiesen und wir ändern unsere Politik entsprechend.»
Ich habe noch nie gesehen, dass ein Mitglied der türkischen Regierung vor der Kamera einen Fehler eingestanden hätte.
Genau das habe ich beklagt. Einige meiner Kollegen in der Partei hat das gestört und sie haben aus diesem Grund meinen Ausschluss beschlossen. Meine Kommentare zur Nahostpolitik der Türkei … Nun, ich bin Gründungsmitglied der AKP, war erster Aussenminister dieser Partei und derjenige türkische Diplomat, der am längsten im Nahen Osten und am Golf gedient hat – je vier Jahre in Syrien, Saudi-Arabien und Ägypten. Ich war der Ansicht, mit dieser Erfahrung sei es meine Pflicht, meine Einschätzung der Lage mit der Regierung und der Öffentlichkeit zu teilen. Aber ich sehe nun, dass dies meine Kollegen ein wenig verstört hat.
Ist es in der Türkei also gar nicht möglich, aussenpolitische Fragen zu diskutieren?
Ich werde das weiterhin tun. Aber ich glaube, sie wollen nicht, dass ich all diese Dinge als Parteimitglied sage.
«Assads Sturz vorherzusagen ist wie ein Erdbeben vorherzusagen. Es kann in drei Minuten geschehen, es kann aber auch drei Jahre lang nicht passieren.»
Warum haben Sie sich eigentlich an der Gründung der AKP beteiligt?
Es gab Ideale, die mich bei der Gründung der Partei motivierten. Heute sehe ich sie nicht mehr. 2001 war ich eine von sechs Personen in einem Arbeitskreis, der das Programm der Partei schrieb. Wir vermieden jeden Bezug zur Religion. Wir sagten, wir stehen in einem gleich weiten Verhältnis zum Christentum, zum Judentum und zum Islam. Da unser Führer wegen des Vortrags eines Gedichts ins Gefängnis geworfen worden war, erklärten wir, die Justiz von ihrer Voreingenommenheit zu befreien. Und wir verpflichteten uns, die Korruption auszurotten. Ich glaube nicht, dass wir alle diese Ziele erreichen konnten.
Und was die türkische Aussenpolitik betrifft?
Die Erbsünde, der Hauptfehler ist in der Syrienkrise begangen worden. Die Türkei platzierte unnötigerweise alle ihre Eier im selben Korb, wieder ausgehend von der Annahme, dass Assad bald gestürzt würde. In der Diplomatie macht man das nicht, man verteilt die Eier auf verschiedene Körbe. Assads Sturz vorherzusagen ist wie ein Erdbeben vorherzusagen. So hatte ich es Ende 2011 in einer Fernsehrunde erklärt: Es kann in drei Minuten geschehen, es kann aber auch drei Jahre lang nicht passieren. Wäre Assad damals gestürzt, hätte die Türkei allen Nutzen eingeheimst. Aber er stürzte nicht. Und so haben wir nun die Folgen zu ertragen.
Wie sehr hat der Arabische Frühling die türkische Aussenpolitik bestimmt?
Die türkische Aussenpolitik hat mehrere Dimensionen. Doch die Nähe zur ägyptischen Muslimbruderschaft – von der die AKP auch inspiriert ist – mag eine wichtige Rolle in der Gestaltung der türkischen Aussenpolitik gegenüber den Ländern des Arabischen Frühlings gespielt haben.
«Als Mursi vom Militär gestürzt wurde, wollte die Türkei das nicht akzeptieren.»
Inwiefern war das so?
Der Arabische Frühling begann in Tunesien mit dem Sieg der Ennahda-Bewegung. Und als er später in Ägypten und dann in Syrien ankam, dachten meine Freunde in der Partei wohl, es gebe jetzt einen Ring von Ländern mit gleichgesinnten Parteien der Muslimbruderschaft. Die Türkei könnte diese Gruppe führen, so wurde gedacht, weil sie mehr Erfahrung mit der Demokratie hat. Doch dann scheiterte die Bruderschaft in Ägypten. Präsident Mursi war vielleicht von seiner Umgebung in die Irre geführt worden und dachte, wenn er einmal die Mehrheit habe, könne er einfach alles tun. Als er vom Militär gestürzt wurde, wollte die Türkei das nicht akzeptieren.
Es wurde eine sehr persönliche Angelegenheit zwischen Erdogan und der neuen Führung in Kairo.
Die Türkei nahm eine sehr starke Position für Mursi ein. Davon konnte sie dann nicht mehr abweichen.
Wie sehr ist die türkische Aussenpolitik derzeit auf die Unterstützung des sunnitischen Islam ausgerichtet?
Die Türkei hat Position für die Sunniten bezogen, aber ich würde nicht sagen, dass dies geschah, weil es das Ziel der Regierung war. Der Grund dafür waren andere Entwicklungen in der Region, vor allem der Aufstieg des schiitischen Iran.
«Der Säkularismus hat in der Türkei ein extremes Ausmass erreicht.»
Die Türkei selber ist ein eher säkulares Land.
Ja, die Türkei hat eine jahrzehntelange Erfahrung mit dem Säkularismus. Ich glaube nicht, dass man sie leicht in ein religiöses Land verwandeln kann. Im Gegenteil. Der Säkularismus hat in der Türkei ein extremes Ausmass erreicht. Die Kemalisten interpretierten Mustafa Kemal Atatürks säkulare Ideen auf eine sehr strikte Art. Mit dem Aufkommen der AKP ist dieser Druck durch die Kemalisten nun gelockert worden. Das hat die Gesellschaft erleichtert, es war eine gute Sache. Aber dieser Erfolg sollte nun auch nicht zu weit in die andere Richtung getragen werden.
Anfang 2003, kurz vor Beginn des Irakkriegs, waren Sie als Aussenminister im Weissen Haus und haben George W. Bush getroffen. Was wollten die Amerikaner damals von Ihnen?
Ich kam nach Washington, um die Position der Türkei zu erklären. Ich sagte Ihnen, die erste Wahl der Türkei wäre, dass Amerika nicht im Irak einmarschiert. Aber ich sah, dass sie bereits alle Vorbereitungen getroffen hatten.
Konnten Sie trotzdem noch etwas erreichen?
«Zerstören Sie wenigstens nicht die Baath-Struktur», sagte ich, «weil die Baath-Partei eine Vielzahl von Funktionen in der irakischen Gesellschaft erfüllt. Zehntausende von Menschen arbeiten für Baath, nicht weil sie sich den Ideen der Partei verpflichtet fühlen, sondern weil sie Geld nach Hause bringen. Die machen Sie sich zu Feinden, wenn Sie die Struktur zerstören.» Sie sagten: «Okay, okay, wird die Türkei nun die Erlaubnis für den Durchmarsch der Truppen geben – ja oder nein?» Sie waren nicht bereit, sich irgendetwas anderes anzuhören.
Entscheiden musste aber das türkische Parlament.
264 Abgeordnete stimmten für die Erlaubnis zum Durchmarsch in den Irak und 251 dagegen. Der US-Botschafter, der die Abstimmung mitverfolgte, kabelte dann nach Washington: «Der Durchmarsch ist genehmigt.»
Etwas voreilig, wie sich dann zeigte.
Allerdings. Ein Abgeordneter protestierte: «Ihr habt falsch gezählt», sagte er. Dann wurde in der Geschäftsordnung nachgeschlagen und es kam heraus, dass der Antrag tatsächlich abgelehnt worden war. Denn im türkischen Parlament zählen auch Enthaltungen als Nein-Stimmen. (19 Abgeordnete hatten sich enthalten, der Antrag war damit mit einer Mehrheit von 270 Stimmen abgelehnt. – Anmerkung der Redaktion).
«Es gibt niemanden, der auf Putin Druck ausüben könnte, seine Einstellung gegenüber der Türkei zu ändern.»
Das war eine Überraschung für Erdogan und die Regierung.
Vor der Abstimmung im Parlamentsplenum hatten wir eine Fraktionssitzung. Erdogan bat uns, auf einen Zettel zu schreiben, ob wir ja oder nein stimmen würden. Es gab eine klare Mehrheit für das Ja. Er war deshalb zuversichtlich. Seine Einschätzung erwies sich auch als richtig. Nur: Der Umstand mit den Enthaltungen änderte eben das Ergebnis. In der Partei gab es viele, die gegen den Einmarsch der Amerikaner waren. Sie waren nun erfreut. Aber andere argumentierten, dass wir mehr erreichen könnten im Irak, wenn wir zusammen mit den Amerikanern agierten. Sie waren enttäuscht.
Wie, glauben Sie, könnte heute der Konflikt zwischen der Türkei und Russland gelöst werden?
Wenn Sie die Persönlichkeit von Wladimir Putin und Tayyip Erdogan in Betracht ziehen, dann sieht es etwas schwierig aus. Ich habe dasselbe schon über Benjamin Netanjahu und Erdogan gesagt, aber im Streit um den Zwischenfall auf der «Mavi Marmara» von 2010 wurde ein gewisser Ausgleich zwischen der Türkei und Israel gefunden. Putin wird sich als dickköpfiger als Netanjahu erweisen. Dieser wurde von Barack Obama gedrängt, sich zu entschuldigen. Es gibt niemanden, der auf Putin Druck ausüben könnte, seine Einstellung gegenüber der Türkei zu ändern.
Sie werden aus der AKP ausgeschlossen. Machen sie die «Störungen» mit ihren Parteifreunden, wie Sie es nennen, traurig oder finden Sie es nur lästig?
In meinem Alter ist das weniger ein Anlass für Trauer oder Freude. Für mich ist es eine Entwicklung. Parteien werden gegründet, sie entwickeln sich, sie werden stark und sie verschwinden wieder. Das ist natürlich. Das geschieht auch in der Türkei. Die Türkei wird deshalb nicht abstürzen oder von der Landkarte gelöscht. Doch wenn wir unsere Energie mit solchen Dingen verschwenden, mit politischen Entscheidungen, die diskutabel sind, dann wird die Türkei das Potenzial, das sie hat, nicht ausschöpfen können.
Yakiş war Botschafter in Riad, in Kairo und in Damaskus sowie bei der UNO in Wien. Nach seiner Ministerzeit als Minister führte er den EU-Ausschuss im türkischen Parlament, in dem er bis 2011 Abgeordneter blieb.
Als er 2015 Kolumnen für die Tageszeitung «Today’s Zaman» und später das türkische Mutterblatt «Zaman» zu schreiben begann, wurde ein Parteiausschlussverfahren eröffnet. «Zaman» wird dem Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen zugeschrieben, vereint aber eine Vielzahl von Kolumnisten aus einem weiten politischen Spektrum.