Zeit für faire Alterspflege

Schon lange betreuen Pflegerinnen aus dem Osten Schweizer Senioren. Doch erst jetzt werden die Arbeitsbedingungen der Care-Migrantinnen diskutiert.

Helfende Hände im Alter. Immer häufiger kommen sie aus dem Osten. (Bild: Keystone/Gaetan Bally)

Schon lange betreuen Pflegerinnen aus dem Osten Schweizer Senioren. Doch erst jetzt werden die Arbeitsbedingungen der Care-Migrantinnen diskutiert.

Wenn jemand aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis gestorben ist, hört man ihn immer wieder, diesen tröstenden Satz: Er konnte wenigstens bis zu seinem Lebensende zu Hause sein. Gefolgt vom Lob an die Frau oder die Tochter, die ihn aufopfernd gepflegt hätten – denn es sind zu 70 Prozent Frauen, die die Betreuung von Familienmitgliedern übernehmen. Anders die Reaktion, wenn jemand seine letzten Jahre in einem Alters- oder Pflegeheim gelebt hat. Wenn überhaupt die Rede auf den Heimaufenthalt des verstorbenen Menschen kommt, dann oft in entschuldigendem Ton: Es sei halt nicht anders gegangen. Nicht zufällig ist die Formulierung «ins Heim abgeschoben» noch immer geläufig.

In der schweizerischen Gesellschaft, sagt die Soziologin Sarah Schilliger von der Uni Basel, die auf dem Gebiet der transnationalen Care-Arbeit und der 24-Stunden-Betreuung von Senioren in Schweizer Haushalten forscht, werde diesbezüglich der Familie eine hohe moralische Verantwortung zugeteilt. Verstärkt durch den Wunsch vieler alter Menschen, möglichst lange in den eigenen vier Wänden leben zu können.

Der Staat hält sich zurück

Das zeigt sich auch in unserem Gesundheitssystem: Privat geleistete Betreuung bleibt privat, sie wird nicht entschädigt. Von der Krankenkasse vergütet werden einzig medizinische Leistungen und nur, wenn sie von einer kantonal zugelassenen Spitexorganisation oder einer medizinisch ausgebildeten Fachperson erbracht werden. Für alle anderen Hilfeleistungen wie Betreuungsdienste, Einkaufen, Kochen, Putzen gibt es keine Entschädigung.

Das rechnet sich. Zumindest für die öffentliche Gesundheitskasse: Laut Statistik zur häuslichen und stationären Langzeitversorgung tragen Privathaushalte in der Schweiz einen Viertel der Gesamtkosten der Gesundheitsausgaben. Wie man einer OECD-Studie entnehmen könne, sagt Sarah Schilliger, sei die Schweiz im europäischen Vergleich betreffend öffentlich-solidarischer Finanzierung der Langzeitpflege auf der Skala ziemlich tief unten positioniert. «Während in vielen anderen Ländern über 80 Prozent dieser Kosten vom Staat übernommen werden, sind es hier gerade mal 40 Prozent.» Davon geht der Hauptanteil (80 Prozent) an die institutionelle Pflege.

Entsprechend gross ist auch der finanzielle Druck, dass Angehörige die Betreuung ihrer betagten Eltern oder Partner (gratis) übernehmen. Das Modell der Rundum-Pflege durch Familienangehörige funktioniert aber nur, wenn jemand aus der Familie auch verfügbar ist, sprich: nicht aus­ser Haus arbeitet. Und da hat sich in der Schweiz in den vergangenen Jahren bekanntlich einiges verändert. Die Vollzeit-Hausfrau gehört heute zu einer Minderheit, die Statistik weist für das Jahr 2012 bei den 15- bis 64-jährigen Frauen eine Erwerbs­quote von gut 77 Prozent aus.

Wie schon früher holt man aus dem Ausland, was hierzulande fehlt.

Das bedeutet, dass Frauen heute weniger selbstverständlich für die ­Betreuung ihrer hilfebedürftigen Verwandten zur Verfügung stehen. Gleichzeitig werden aufgrund der höheren Lebenserwartung die Menschen, die auf Hilfe und Pflege angewiesen sind, immer mehr. Das schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) geht davon aus, dass sich die Zahl der pflegebedürftigen Senioren hierzulande bis im Jahr 2030 auf 182 000 erhöhen wird, was 46 Prozent mehr sind als noch 2010.

Als Reaktion auf diese Entwicklung ist von politischer Seite bislang einzig ein verschärfter Druck auf die Ausgaben im Gesundheitswesen erfolgt, damit diese nicht aus dem Ruder laufen. Was wiederum zur Folge hat, dass die private Betreuung noch mehr gefordert ist.

Und wie so oft in der Vergangenheit hilft man sich aus der Patsche, indem man aus dem Ausland holt, was hierzulande fehlt. So wie einst in den 1960ern bis 1980ern, als Saisonniers aus den südeuropäischen Ländern für das Bau- und Gastgewerbe und die Industrie gebraucht wurden, bedient man sich heute gerne in Osteuropa, um personelle Lücken zu füllen. Die erweiterte EU-Personenfreizügigkeit machts möglich.

Eine Frau aus Polen deckt auf

Damals wie heute kommen die Menschen, weil sie hier eine Verdienstmöglichkeit sehen, die sie in ihrer Heimat nicht haben. So auch die Frauen aus dem Osten, die meist als Kurzaufenthalterinnen hierher kommen und in Privathaushalten hilfsbedürftige Senioren betreuen. Für diese Frauen hat sich in Fachkreisen schnell einmal der neudeutsche Begriff «Care-Migrantinnen» etabliert, und dank diversen Medienbeiträgen diesen Sommer ist der Begriff auch der Allgemeinheit bekannt.

Auf das Thema aufmerksam wurden die Medien vor allem durch die aus Polen stammende Bozena Domanska, die in Basel seit 2009 Senioren betreut und vor Gericht gegen ihren früheren Arbeitgeber, eine private Spitex-Firma, eine Entschädigung für geleistete Überstunden erkämpfte. Durch Domenska und die Berichte über ihren Fall erfuhr eine breite ­Öffentlichkeit, dass bei den Arbeitsbedingungen der Care-Migrantinnen vieles im Argen liegt. Dass diese, weil sie im gleichen Haushalt wohnen wie ihre Klienten, rund um die Uhr verfügbar sind, also keine geregelte Freizeit haben und dafür mit einem kleinen Lohn abgespiesen werden.

Man erfuhr von ausländischen Verleih- und Vermittlungsfirmen, die die Notsituation der Frauen aus dem Osten auszunutzen wissen und sie unter illegalen Bedingungen in Schweizer Haushalten platzieren. Obwohl die Lücken in der Seniorenbetreuung hier schon seit ein paar Jahren von Care-Migrantinnen ausgefüllt werden, ist man erst jetzt richtig auf die «Aschenputtel aus dem Osten» oder die «Engel aus Polen», wie die Zeitungen titelten, aufmerksam geworden.

Fachleute gehen davon aus, dass private Arrangements mit Care-Migrantinnen weiter zunehmen.

Zu Recht hat deshalb der «Beobachter» Bozena Domanska, die Frau, die all das aufbrachte, für den jährlich vergebenen Prix Courage nominiert. Ob auch die in diesen Tagen bekannt gewordene Entlassung Domanskas durch ihren jetzigen Arbeitgeber, der sie mit ungenügenden Leistungen begründet, gerechtfertigt ist, werden wohl die Richter entscheiden müssen. Laut Gewerkschaft vpod, bei der Domanska auch teilzeitlich als Beraterin für Care-Migrantinnen tätig ist, wird man die Kündigung als missbräuchlich anfechten.

Wie diese Geschichte auch ausgeht, das Thema der Care-Migrantinnen wird weiterhin aktuell bleiben. Denn Fachleute wie Sarah Schilliger gehen davon aus, dass die Verbreitung von privaten Arrangements mit Care-Migrantinnen weiter zunehmen wird. Aus den bereits geschilderten Gründen, aber auch, sagt sie, weil die prekären Arbeits- und Lebenssituationen in Ländern wie Polen dazu führen, dass Frauen temporär nach Arbeit in der Schweiz suchen.

Die «Engel» fliegen EasyJet

Das Pendeln zwischen der Schweiz und dem Herkunftsland in Osteuropa sei für die Familien eine Überlebenspraxis, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen habe. Zudem gebe es bald billigere und weniger beschwerliche Reisemöglichkeiten als die Cars, mit denen die Pendelmigrantinnen bislang in die Schweiz kamen. Demnächst würde zum Beispiel eine neue EasyJet-Verbindung zwischen Basel und der polnischen Stadt Krakau eröffnet. Laut Schilliger gilt es, neben der Suche nach langfristigen Lösungen für das Leben im Alter wie Tagesheime, Mehrgenerationenhäuser etc. und einem massiven Ausbau der öffentlichen Dienste, nun unmittelbare Massnahmen für eine rechtliche Besserstellung der Care-Migrantinnen zu ergreifen.

Mindestens eine Verbesserung verspricht die im Juni 2011 verabschie­dete UNO-Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) für mehr Rechte der privaten Hausangestellten. Demnach wäre eine Betreuung rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, nicht mehr zulässig, sondern es müssten einmal in der Woche 24 Stunden am Stück Freizeit gewährt und Überstunden vergütet werden. Am Mittwoch hat der Bundesrat eine Botschaft veröffentlicht, in der er sich für die Ratifizierung dieser Konvention ausspricht.

In guten Händen bei Caritas

Bereits gehandelt hat Caritas Schweiz: In Zusammenarbeit mit Caritas Rumänien startete sie im vergangenen September ein drei Jahre dauerndes und auf die Kantone Zug, Zürich und Luzern beschränktes Pilotprojekt unter dem Titel «In guten Händen». In Pflege geschulte Betreuungspersonen aus Rumänien kommen als Kurzaufenthalter (maximal 3 Monate) in die Schweiz und übernehmen hier die 24-Stunden-Betreuung von Senioren in deren Haushalt. Sie wohnen zwar ebenfalls mit ihnen unter einem Dach, aber Arbeits- und Freizeit sowie Lohn sind klar geregelt.

Nach Ablauf ihrer Aufenthaltsfrist kehren die Betreuer wieder an ihre Arbeitsstellen in Rumänien zurück. Damit will Caritas verhindern, dass die Care-Migration eine Betreuungslücke in den Herkunftsländern verursacht. Kurz: Care-Migration mit Fair-Gütesiegel. Die Nachfrage sei gross, sagt Projektleiter Beat Vogel. Deshalb steht bereits fest: «Das Projekt wird weitergeführt.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 30.08.13

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