Ein Leben im Namen der totalen Freiheit. Vor 75 Jahren verstarb Emma Goldman, ihre Autobiografie ist noch heute ein beeindruckendes Stück Zeitgeschichte.
Das bekannteste ihr zugeschriebene Zitat ist wahrscheinlich falsch: «If I can’t dance to it, I don’t want to be part of your revolution», soll Emma Goldman so oder ähnlich gesagt haben. Der Satz ist so knackig, dass er seither auf T-Shirts, Buttons und Plakaten seine Kreise zieht. Und als Slogan in die DNA von Reclaim-The-Streets-Bewegungen wie «Tanz Dich Frei» eingegangen ist.
Wo der Satz entstanden ist, lässt sich nicht mehr ergründen, in ihrer Biografie hat Goldman 1931 allerdings etwas Sinnverwandtes festgehalten: An einem Tanzabend in New York Ende des 19. Jahrhunderts, an dem sie laut ihrer Erinnerung ausgelassen teilnahm, sprach sie ein junger Aktivist an und ermahnte sie, ihre Frivolität sei der «Sache» unwürdig. Goldman war ausser sich: «Ich konnte nicht glauben, dass eine Sache, die für ein wunderbares Ideal stand, die Freude am Leben ablehnen sollte.» Die «Sache», das war der Anarchismus, die «Befreiung von Konventionen und Vorurteilen.» Und Emma Goldman war eine seiner glühendsten und radikalsten Apologeten.
«Gelebtes Leben» heisst die Autobiografie Goldmans. Und es ist kaum vorstellbar, dass mehr Leben zwischen zwei Buchdeckel passt als die Erinnerungen dieser Frau mit der auffälligen Haartolle und dem stets strengen Blick hinter ihren runden Brillengläsern. Emma Goldman, geboren 1869 im russischen Zarenreich, im Alter von 17 Jahren in die USA ausgewandert, galt dort manchen ihrer Mitmenschen als gefährlichste Frau ihrer Zeit.
Eine frühe Feministin
Bereits in Russland als Teenager in Berührung mit sozialistisch-revolutionärer Literatur, wurde sie in den USA durch die Haymarket-Affäre von 1886 in Chicago radikalisiert: Während Tagen protestierten und streikten Arbeiter, um bessere Arbeitsbedingungen zu erzielen. Der Protest eskalierte, am Ende gab es Tote sowohl unter den Arbeitern als auch bei der Polizei, und mehrere Anarchisten wurden per Richterspruch gehängt.
Die Aufstände standen am Ursprung des Gedenktags der Arbeiterbewegung, des 1. Mai, und im damaligen antiliberalen Klima gewann Goldman ihre Überzeugung, dass die Revolution nur durch die «Tat» zu erringen sei. Auch wenn ihr ein Gewaltakt nie zur Last gelegt werden konnte, landete sie mehrmals in Gefängnissen – war sie frei, so setzte sie ihre Überzeugungen dort ein, wo gestreikt wurde, gegen die Ausbeutung oder gegen die Armeerekrutierung, sie gab das Magazin «Mother Earth» heraus und bildete sich, überzeugte Autodidaktin, weiter.
Ihre Autobiografie gibt einen Eindruck davon, wie umfassend sie ihre Freiheitsideale verstand: Ihr revolutionärer Anspruch zielte nicht nur auf die Arbeiter, sondern ebenso gegen das Militär, das sie als Mittel der Unterdrückung anderer Nationen kritisierte und dessen Abschaffung sie forderte. Vor allem aber lag ihr an der Befreiung der Frau: Das Recht des Individuums auf Selbstbestimmung galt ihr, einer frühen Feministin, genauso für die Frau – und zwar nicht nur betreffend der gesellschaftlichen Stellung, sondern in der Autonomie über den eigenen Körper. Nur konsequent, dass Goldman als eine der ersten Befürworterinnen der Abtreibung in die Geschichte einging und 50 Jahre vor der Hippie-Ära totalliberal für freie – oder besser: frei gewählte – Liebe eintrat.
In der tosenden Weltgeschichte
Dass sie in ihrer revolutionären Empathie die politischen Zeichen nicht verkannte, gehört zu ihren eindrücklichsten reflexiven Leistungen. 1917 wurde sie nach Russland ausgewiesen. Dort beobachtete sie die bolschewistische Revolution und die Errichtung der Parteidiktatur aus nächster Nähe und erkannte, früher als viele Kommunisten im Westen, die Brutalität des Regimes, die später in die Exzesse des Stalinismus mündeten. 1921 verliess sie die junge Sowjetunion ernüchtert wieder. «Ich war am Ende. Ich konnte es nicht mehr länger aushalten», schrieb sie.
Später lebte sie in England, nahm am Spanischen Bürgerkrieg teil, und schrieb an der südfranzösischen Küste ihre Autobiografie. Das Haus stellte ihr die Kunstmäzenin und Milliardärin Peggy Guggenheim, die einer Schweizer Familie entstammte, zur Verfügung. Vor vier Jahren wurde «Gelebtes Leben» neu überarbeitet und mit einem Vorwort des Schriftstellers Ilija Trojanow begleitet, neu herausgegeben. Ein 900 Seiten starker, fesselnder und leidenschaftlich geschriebener Bericht über ein Leben in der tosenden Weltgeschichte, in dessen Zentrum stets das Ideal der totalen Freiheit stand.
Emma Goldman starb vor 75 Jahren, am 14. Mai 1940, an einem Schlaganfall in Toronto. Bestattet wurde sie auf einem Friedhof in New York, auf ihrem Grabstein steht: «Liberty will not descend to a people, a people must raise themselves to liberty.» (Freiheit steigt nicht zu einem Volk herab; ein Volk muss sich selbst zur Freiheit erheben.) Dass dieser Satz von ihr stammt, daran gibt es keine Zweifel.