Vor zwei Jahren ist vor Lampedusa ein Boot mit Hunderten Flüchtlingen gekentert. Die Katastrophe hat die Insel zum Symbol der gescheiterten europäischen Flüchtlingspolitik gemacht. Für die Menschen vor Ort ist das auch heute keine einfache Situation.
«Das sind doch nur Möwen», versuchte Vito zu beruhigen. Sein Freund hatte ihn vorzeitig geweckt. Er hatte Schreie gehört.
Zu acht sind sie am Vorabend aufs Meer gefahren, um am frühen Morgen zu fischen. Der Motor war ausgeschaltet, nur das Gekreische der Möwen und die ans Schiff klatschenden Wellen durchbrachen die Stille. Warum also die Aufregung, fragte sich Vito. Und dann wusste er es: «Plötzlich sahen wir all diese Menschen am Horizont, die im Wasser um Hilfe schrien.»
Paradoxer Entscheid des EU-Parlaments
Lampedusa, die kleine italienische Mittelmeer-Insel, nur 130 Kilometer östlich von Tunesien gelegen und somit näher an Afrika als an Europa, rückt im Herbst 2013 wiederholt in den Mittelpunkt der Medien – und damit in den Fokus der Politik.
Es geschah am 3. Oktober. Ein Flüchtlingsboot aus Libyen hatte am frühen Morgen nahe der Küste Lampedusas eine Panne. Ein paar Passagiere zündeten ihre T-Shirts an, um so auf das Schiff aufmerksam zu machen. Doch dadurch fing auch das Boot Feuer. Es kenterte. Viele der rund 545 Flüchtenden aus Somalia und Eritrea versuchten daraufhin, die Küste schwimmend zu erreichen. Die italienische Küstenwache und einheimische Fischer retteten etwa 155 Menschen, über 360 ertranken.
Diese Tragödie darf sich nicht wiederholen, hiess es dann. «Lampedusa muss ein Wendepunkt für die europäische Flüchtlingspolitik sein», liess sich etwa Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, zitieren. Doch wie reagierte dieses? Lediglich eine Woche nach dem Unglück stimmte das Europäische Parlament dem Grenzkontrollsystem Eurosur (European border surveillance system) zu, das es ermöglichte, den gesamten Mittelmeerraum mit Satelliten zu überwachen. Es war ein entscheidender Schritt für Europas Grenzregelung, ein Schritt hin zu noch mehr Abschottung.
Der Schmerz der Helfer
«Die ganze Situation mit diesen vielen Menschen im Wasser fühlte sich an wie in einem Film», erzählt Vito, der auf Lampedusa eine kleine Eisdiele betreibt und regelmässig mit Freunden zum Spass fischen geht. Bis sie sich an jenem Morgen aus der Schockstarre lösen konnten, brauchte es einen Moment. Endlich rief jemand die Küstenwache um Hilfe, der Rettungsring wurde ausgeworfen, erste Menschen aufs Schiff geholt. «Ich dachte, auf unserem Schiff wäre höchstens Platz für 10 bis 15 Personen», sagt Vito. Mit 46 Menschen an Bord kamen sie schliesslich im Hafen an.
Dort sahen sie Simone, einen Tauchlehrer, der mit seiner Gruppe gerade loswollte, und schrien um Hilfe. Simone fuhr sofort selber los, die Küstenwache, die ihn über das gekenterte Boot informierte, hatte er bereits am Telefon. «Wir hofften zutiefst, dass wir noch mehr Menschen retten könnten, und hielten im weiten Meer Ausschau nach Überlebenden», sagt Simone. Doch schon bald wurde ihm und den anderen Tauchern schmerzlich klar, dass dafür viel zu viel Zeit vergangen war.
Dann kam die Wut – auf alles, auch auf die Politik. «Man muss sich das vorstellen», sagt Simone, «da ertranken Menschen zwei Kilometer vor unserer Küste und offenbar wurde nichts dagegen unternommen.» Und während er im Meer tauchte und immer mehr Leichen sah, füllte sich seine Taucherbrille allmählich mit seinen Tränen. Dieser Schmerz, er sei immer da, wenn er an jenen Tag zurückdenke.
Als Vito und die anderen Fischer erneut aufs Meer hinaus wollten, um mehr Menschen zu retten, hielt sie die Küstenwache auf. Es sei nicht erlaubt, so viele Personen an Bord zu haben. Später sollte Vito für die Küstenwache ein Protokoll zu den Vorkommnissen des 3. Oktobers unterschreiben. Er verweigerte aber seine Unterschrift. Im Protokoll war ihr Hilferuf unter einer völlig falschen Zeitangabe vermerkt: 7.01 Uhr statt 6.40 Uhr.
Unter solchen Platzverhältnissen versuchten Hunderte Migranten aus Somalien und Eritrea nach Europa zu gelangen. (Bild: Claudio Peri)
Heute erinnert PortoM an jenen Tag. Das Museum wird von einem lokalen Kollektiv namens Askavusa organisiert. An den Wänden sind Schwimmwesten zu sehen, Bibeln und Zahnbürsten. Schuhe baumeln von der Decke. Alles Fundgegenstände von Flüchtlingen. Am Eingang befindet sich ein kleines Magazin mit Büchern. Das Kollektiv setzt sich intensiv mit dem Thema Migration auseinander und möchte die Geschichte von Lampedusa und seinen Bewohnern erzählen.
So ist zum Beispiel der Film «Lampedusa – Die Tage der Tragödie» entstanden, der von Erlebnissen verschiedener Lampedusani während jenen Tagen erzählt. Oder das «LampedusaInFestival», das seit 2009 jedes Jahr stattfindet und auch auf Tour geht – letzten Februar war es auch in der Schweiz zu Besuch, in der Roten Fabrik in Zürich.
Sorge um die Zukunft der Insel
Symbol sein für Europas Flüchtlingspolitik, das ist für viele Lampedusani nicht leicht. Es fallen Touristen weg, fürchten sie – die Haupteinnahmequelle vieler Inselbewohnerinnen und -bewohner. Michèle ist Kellner in einer Bar an der Via Roma, die Hauptachse der Touristen auf Lampedusa. Er schimpft. Nicht über die Flüchtlinge, sondern über Bürgermeisterin Giusi Nicolini.
Seit 2012 ist sie im Amt. International bekannt wurde sie wegen eines offenen Briefs. Darin hatte sie die europäische Einwanderungspolitik angeprangert, die den Tod vieler Menschen in Kauf nähme, um die Migrationsflüsse einzudämmen. Lampedusa und seine Bewohner stellte sie als Gegenbeispiel dar, weil man hier stets andere Menschen willkommen geheissen habe.
«Giusi Nicolini und ihre stete Suche nach Aufmerksamkeit für Lampedusa als Symbol für die Flüchtlingspolitik Europas! Darunter leidet das Image unserer Insel als Urlaubsort», sagt Michèle. «Es ist klar, dass wir Menschen helfen, wenn es ihnen schlecht geht», betont Michèle. Auch sei er stolz darauf, wie sich die Lampedusani nach dem 3. Oktober und oft auch später verhalten hätten. Doch irgendwann müsse wieder Normalität einkehren.
In den Augen mancher Lampedusani sucht Bürgermeisterin Giusi Nicolini zu sehr die Aufmerksamkeit Europas. (Bild: ETTORE FERRARI)
«Schon immer gab es hier Einwanderer, Migration gehört zu Lampedusa», sagt Hobby-Fischer Vito. Doch wie die Behörden jetzt auf die Flüchtlinge reagierten, sei nicht normal. Im Anschluss an die Seenotrettung und das fragwürdige Protokoll, das er hätte unterschreiben sollen, hat Vito eine Anklageschrift eingereicht. Darin hielt er seine Sicht der Dinge fest. Einen Bescheid erhielt er aber nie. Als er mal nachhakte, hiess es bloss: Man habe noch nichts Genaueres herausgefunden.
Tauchlehrer Simone schwärmt für Lampedusa. Sie sei die perfekte Insel für Badeferien. Noch mehr wünscht er sich aber, dass Lampedusa für seine Hilfsbereitschaft, das Mitgefühl seiner Bewohner und deren Geschichten in Erinnerung bleibt. «Wir Lampedusani verhalten uns anders als die Politiker Europas», sagt er bestimmt.
Würde Simone von den Politikern, deren Entscheidungen sein tägliches Leben mitbestimmen, ein offenes Ohr bekommen, so würde er ihnen sagen: «Kommt mal mit mir mit, wenn ich die nächsten Leichen bergen gehe. Schaut in diese toten Augen. Und sagt mir dann nochmals, dass dies die Politik ist, die ihr machen wollt.»
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Das Kino in der Reitschule Bern zeigt den Film «Lampedusa – Die Tage der Tragödie» anlässlich des Jahrestags am 3. Oktober.