Zwei Schweizen

Der Graben zwischen der humanitären Tradition der Schweiz und der Realität wird immer grösser.

Falsche Anzeigen: Eine Bilderserie der TagesWoche zur Titelgeschichte über die Schweizer Asylpolitik. (Bild: Montage Nils Fisch/Hans-Jörg Walter)

Der Graben zwischen der humanitären Tradition der Schweiz und der Realität wird immer grösser.

Wir leben in zwei Schweizen, die nichts miteinander zu tun haben. Die eine Schweiz, das ist der Rentner Ernst Huser aus Alpnach in ­Obwalden. Er wohnt gleich neben einer neuen Bundesunterkunft für 100 Asylbewerber – und er hat die Nase voll. Ständig würde man angelogen von den Behörden, hinters Licht geführt und beschissen. «Sollen die Asylanten doch auf den Glaubenberg. Dort stören sie niemanden!» Huser hat neben seinem Briefkasten auf einem Blatt A4 die Verhaltensregeln für seine neuen Nachbarn festgehalten. «Verbot», steht zuoberst auf dem Blatt und darunter: «Es ist verboten, Grundstück und Haus zu betreten – Alarmanlage – Lebensgefahr.» Illustriert hat der Rentner seine Anweisung mit einem Piratentotenkopf. 5000 Franken hat seine neue Alarmanlage gekostet, wie er jeder Journalistin und jedem Journalisten in diesen struben Tagen in Alpnach gerne erzählt.

Und sie sind da, die Journalisten. So wie sie in Bremgarten waren, nachdem die Behörden den Asylbewerbern den Badibesuch verboten hatten; oder in Solothurn, als die Ausländer wegen fehlendem Tageslicht in ihrer Unterkunft demonstrierten («Dabei haben sie doch einen Fernseher und einen Töggelikasten!», regten sich die Passanten auf dem Bahnhofsplatz auf). Es ist die Schweiz des «Blick» und von «20 Minuten». Keine Strassenumfrage, die nicht geführt wird, kein empörter Bürger, der nicht empört sein darf, keine noch so kleinliche Klage «gegen die Asylanten!», die es nicht ins Blatt schafft.

Nicht von Interesse

Die andere Schweiz findet nicht auf der Frontseite der grössten Zeitungen statt. Sie wird leicht übersehen, weil sie nur am Rande interessiert. Auf Seite 33 der «Basellandschaftlichen Zeitung» von diesem Mittwoch etwa, wo ein Loch zwischen einer Werbung für ästhetische Zahnheilkunde und einer Voranzeige der Flugtage von Dittingen mit einer Gemeindemitteilung aus Reinach gefüllt wurde. «Kinder aus dem Asylwohnheim entdecken die Schweiz», teilte die Gemeinde der Zeitung mit und schwelgte danach in schönster Ausflugs-Rhetorik von den «leuchtenden Augen» der Kinder und von der Freude, die ihnen inmitten der prächtigen Berglandschaft ins Gesicht geschrieben gewesen sei: «Im Gepäck hatten sie Vorfreude und Spannung auf das, was sie erwarten würde. Sie alle wohnen im Asylwohnheim in Reinach und haben in ihren ­jungen Jahren Schreckliches durchgemacht. Fernab der Heimat versuchen sie hier ein möglichst ­normales Leben zu führen, Ferientage gehören da in der Regel aus verschiedenen Gründen aber nicht dazu», schreibt die Gemeinde.

Die andere Schweiz, sie findet im Verborgenen statt. Nicht nur in Reinach, auch in Sainte-Croix im Waadtland beispielsweise, wo eine Gruppe von Freiwilligen einen Treffpunkt für die Asylbewerber im Dorf organisiert hat, Kontakte zu Anwälten herstellt und warme Kleider für den Winter sammelt.

Wir Rassisten? Gehts noch!

Gebührende Aufmerksamkeit erhält diese andere Schweiz, erhalten die rührigen Angestellten der Gemeinde Reinach und die Freiwilligen aus dem Waadtland nur in Ausnahmesituationen. Vor zwei Wochen etwa, als die internationale Presse auf ­kuriose Art und Weise die Vorkommnisse in Bremgarten und den verunglückten Täschli-Kauf von Moderatorin Oprah Winfrey verknüpfte und die Schweiz – nicht zum ersten Mal – als Insel der ­verstockten Rassisten diffamierte. Die Reihen in der Schweiz schlossen sich rasant, der Tenor war eindeutig: Wir Rassisten? Gehts noch!

Die «Weltwoche» schrieb eine fulminante Verteidigungsrede über die von Ausländern geprägte «Lebensrealität der Schweizer» und den «eindrücklichen Anteil von binationalen Ehen». «Es ist bezeichnend», schrieben die Autoren zum Schluss, «auch jetzt ist es Medien und Mahnern trotz fieberhafter Suche nicht gelungen, robuste Fälle von Fremdenfeindlichkeit ans Licht zu bringen.» Damit stand die «Weltwoche» für einmal nicht alleine. In sämtlichen Sonntagsblättern beschworen die Chefredaktoren nach Bremgarten die Offenheit der Schweiz und ihre humanitäre Tradition. Martine Brunschwig Graf, die neue Präsidentin der Eidgenössischen Rassismuskommission, sagte der «Sonntagszeitung»: «Auch andere Länder werden für ihr diskriminierendes Verhalten kritisiert. Es entsteht aber schon der Eindruck, dass gerade die Schweiz in den internationalen Medien sehr schnell und manchmal auch zu Unrecht wegen angeblich rassistischer Vorfälle kritisiert wird.»

Schockpotenzial

Die definitive Absolution folgte allerdings erst durch den Polit-Geografen Michael Hermann. Die Darstellung der Schweiz als rassistisches Land sei ein Zerrbild, Grund dafür sei die direkte Demokratie, schrieb er im «Tages-Anzeiger»: «Die ausgebauten direktdemokratischen Mitspracherechte schaffen erst das Schockpotenzial, an dem sich internationale Medien ergötzen. (…) Die direkte Demokratie bringt Unbehagen auf den Tisch, das andernorts unter dem Deckel bleibt.»

Von links bis rechts erhielt Hermann viel Beifall für seinen Beitrag. Das Thema «Rassismus in der Schweiz» war damit erledigt, die eigene Wahrnehmung wieder geradegerückt: Die Schweiz als Inte­grationsnation, als Hüterin der humanitären Tradition. Die Schweiz als positiver Sonderfall in einer Welt, in der alles noch viel schlimmer ist.

Hermanns Analyse stimmt: Das restliche Europa ist noch restriktiver mit seinen Asylbewerbern. Kein anderes Land (mit Ausnahme von Schweden) nimmt prozentual so viele geflohene Ausländer bei sich auf. Und hätten andere Länder in Westeuropa die gleichen direktdemokratischen Instrumente wie wir, dann würden Initiativen gegen Minarette oder für die Ausschaffung krimineller Ausländer wohl noch deutlicher als in der Schweiz angenommen.

«Das geht mir auf den Senkel»

Doch Fakt ist auch: Selten war der Graben ­zwischen der viel beschworenen humanitären Tradition der Schweiz und der Realität grösser als heute. «Das Gerede von der humanitären Tradition geht mir gehörig auf den Senkel», sagt Stefan Frey von der Schweizer Flüchtlingshilfe. «Wer redet denn zum Beispiel am 1. August von dieser Tradition? Es sind genau jene, die die Schraube immer ­weiter anziehen.»

Tatsächlich ist die Geschichte des Schweizer Asylrechts eine Geschichte der ständigen Verschärfungen: Seit 1981 wurde das Gesetz zehnmal revidiert und dabei jedes Mal strenger und restriktiver. Die letzte Verschärfung, bei der das Botschaftsasyl abgeschafft wurde, liegt erst zwei Monate zurück, die nächste Revision steht bereits bevor.

Die Aufnahmepolitik ist angesichts der weltweiten Migrationsströme restriktiver geworden.

Vor dem ersten Asylgesetz in den 70er-Jahren wurden Schutzsuchende ausschliesslich mit humanitären Kontingenten aufgenommen, ein individuelles Asylverfahren gab es nicht. «Das oft revidierte Asylgesetz und die entsprechenden Verordnungen haben die Asylpolitik und -praxis sehr verrechtlicht», sagt Peter Arbenz, der ehemalige Leiter des Bundesamts für Migration (siehe dazu auch das ­Interview auf Seite 14). Seit den späten 80er-Jahren habe man im damaligen Bundesamt für Flüchtlinge einen intensiven internationalen Austausch über die Migrationspolitik mit den wichtigsten Aufnahmestaaten in Europa und den klassischen Einwanderungsländern USA, Kanada und Australien ­geführt. «Dies führte schrittweise zu einer internationalen Angleichung der Asylverfahren. Die heutige schweizerische Asylpolitik ist in keiner Weise härter als diejenige anderer europäischer Staaten. Die Aufnahmepolitik ist aber angesichts der weltweiten Migrationsströme generell restriktiver ­geworden.»

Eine vergessene Erfolgsgeschichte

Wenn heute Bundespräsident Ueli Maurer (SVP) in seiner Ansprache zum Bundesfeiertag an die humanitäre Tradition der Schweiz erinnert, dann meint er – neben der klassischen humanitären Nothilfe der Schweiz im Ausland – die Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg (der von der Rückweisung jüdischer Flüchtlinge überschattet war) und dem Inkrafttreten des ersten Asylgesetzes. Dazwischen nahm die Schweiz Tausende von Kontingentsflüchtlingen auf, die wegen eines Konflikts in ihrem Land eine neue Heimat suchten. 1956 kamen 12 000 Ungarn in die Schweiz, 1968 8000 Tschechoslowaken, 1977 bis 1981 7000 Flüchtlinge aus Vietnam, dazu eine vierstellige Zahl aus Tibet, Chile, Polen und Bosnien. Eine «Erfolgsgeschichte» nannte der Autor Michael Walther die Politik der Kontingentsflüchtlinge an einem Symposium zum Thema. Eine Erfolgsgeschichte mit einer stark politischen Komponente: «In den Fällen Ungarn, Tschechoslowakei und Tibet solidarisierte sich die Schweizer Bevölkerung mit kleinen Völkern, die von einem übermächtigen, kommunistischen Feind unterdrückt wurden. Und auch Vietnam und Polen passen in das Links-Rechts-Schema der damaligen Zeit», sagte Walther.

Von dieser Solidarisierung ist heute kaum noch etwas zu spüren. «Seit zwanzig Jahren werden jene in die Defensive gedrängt, die sich nach wie vor für Flüchtlinge einsetzen. Die humanitäre Tradition, sie lebt noch durch die meist diskret arbeitenden vielen Freiwilligen und die Betreuerinnen vor Ort», sagt Stefan Frey von der Flüchtlingshilfe. Schuld daran sei die Bewirtschaftung des Themas durch eine im Asylbereich als «rechtsextrem einzustufende Partei» und deren Zuträger aus der Mitte: «Die Schutzsuchenden werden seit zwanzig Jahren systematisch stigmatisiert.» Auswirkungen habe das auf das Abstimmungsverhalten der Bevölkerung, die Mentalität gegenüber Ausländern, den Sprachgebrauch. «Vor zwanzig Jahren nannte man einen Asylbewerber höchstens hinter vorgehaltener Hand einen Asylanten. Heute ist der Begriff salonfähig geworden. Teile der Medien dürften daran nicht ganz unschuldig sein.»

Verbreitete Fremdenangst

Die Schweiz des Rentners Ernst Huser hat die Schweiz von Reinach und Sainte-Croix in Geiselhaft genommen. Seit Jahren stehen Probleme mit Ausländern an der ersten Stelle des Sorgenbarometers – auch beim politisch linken Teil der Bevölkerung. Die letzte Verschärfung des Asylgesetzes wurde von 54 Prozent der SP-Basis angenommen; mit Ausländern ist auf der Linken keine Politik mehr zu machen. «Es gibt auch bei der SP eine verbreitete Fremdenangst», sagt die Basler Menschenrechtsaktivistin Anni Lanz. Eine Fremdenangst, die in den letzten Jahrzehnten grosse Bevölkerungsteile erfasst habe, «sie ist in die Breite gewachsen», sagt Lanz und habe dazu geführt, dass die Abschreckungspolitik der Bürgerlichen zum Normalfall geworden sei: «Obwohl diese Politik nachweislich keinen Asylbewerber davon abhält, in die Schweiz zu kommen.»

Die Schweiz von Rentner Ernst Huser hat die Schweiz von Sainte-Croix in Geiselhaft genommen.

Die Basler SP-Nationalrätin Silvia Schenker teilt die Analyse von Lanz, mindestens teilweise: «Asylsuchende müssen für vieles hinhalten, was den Menschen in der Schweiz Angst macht und sie verunsichert.» Auch ihre eigene Partei sei davon nicht ausgenommen. «Die Linke scheint mir verunsichert. Ein Teil von uns meint, mit mehr Härte und mit Verschärfungen könne man bei der Bevölkerung punkten.»

Das ist kein exklusives Schweizer Phänomen – in ganz Europa wird der Ton gegenüber Ausländern rauer. In Griechenland werden Asylbewerber von faschistischen Banden durch die Strassen gejagt, in Deutschland werden die Bewohner eines neuen Asylheims mit dem Hitlergruss begrüsst. Gleichzeitig ertrinken im Mittelmeer regelmässig Flüchtlinge – und niemand scheint es zu kümmern.

Angst vor der Radikalisierung

Diese Art von Radikalisierung wird auch von den Bürgerlichen bedauert. Selbst bei der SVP, die in den Augen der linken Parteien mitverantwortlich für den verschärften Ton gegenüber Ausländern ist.

Dort, in der Volkspartei, ist der Bündner Nationalrat Heinz Brand in den vergangenen zwei Jahren zum wichtigsten Asylexperten aufgestiegen. Brand steht für eine neue Art von SVP-Ausländerpolitik: eher analytisch denn populistisch, eher leise denn laut. Er sagt: «Ich bin für eine grosszügigere Aufnahme von tatsächlich Verfolgten. Heute tummeln sich aber im Asylwesen zu viele, die dort nichts ­verloren haben. Das führt zu einer pauschalen ­Ablehnung aller Asylbewerber durch die Bevölkerung.» Man müsse die überlangen Verfahren in den Griff bekommen, sonst bestehe die Gefahr, dass die Radikalisierung in der Bevölkerung überhandnehme. «Und das wäre falsch.» Für Brand ist die Gleichung einfach: Man hat ein Problem mit gewissen Asylbewerbern, man löst dieses Problem und hat dann wieder mehr Raum für echte Flüchtlinge.

Vor einem Jahr skizzierte Brand eine mögliche Lösung in einem Interview der «Aargauer Zeitung» folgendermassen: «Die Verfahren müssten schnell, günstiger und fair, die Qualität der Verfahrensentscheide müsste hoch und die Fehlerquote tief sein.»
Davon, von einer echten Lösung des Problems, ist man heute noch weit entfernt. Jede neue Bundesunterkunft muss mit der Dorfbevölkerung hart erstritten werden, noch immer dauern die Verfahren viel zu lange, und es ist offen, ob das von Bundesrätin Simonetta Sommaruga favorisierte «niederländische Modell» mit wenigen grossen Aufnahmezentren umgesetzt werden kann – und ob es überhaupt etwas bringt. In der Zwischenzeit wird der Unmut in der einen Schweiz immer grösser und die Hoffnung in der anderen Schweiz immer kleiner. Anni Lanz sagt es so: «Die Parteien müssen immer schnelle Lösungen bieten. Ich kann es mir leisten, zu sagen: Solange die Ressourcen auf der Welt so ungleich verteilt bleiben, wird es für das Migrations- und Asylproblem keine Lösung geben.»

Quellen

Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus untersucht, wie rassistisch die Schweizer Asylpolitik ist.

Eine Diskussionsendung von Radio SRF 1 nach den Vorfällen in Bremgarten.

Zahlen zur Schweizer Asylpolitik von Amnesty International und ein Dossier von SRF.

Die Kolumne von Michael Hermann im «Tages-Anzeiger».

Die Berichterstattung des «Blick» zur Asylunterkunft in Alpnach.

Interview mit SVP-Nationalrat Heinz Branz in der «Aargauer Zeitung».

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 23.08.13

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