36 Partien in der Gruppenphase? Ja! Aber diese sollten Sie wirklich nicht verpassen

Die ausgedehnte Gruppenphase der EM verspricht eine Flut an Spielen. Die Spitzenspiele sind klar, aber es gibt auch ein paar heimliche Topspiele. Unsere Auswahl zum dick Unterstreichen im Kalender.

(Bild: Keystone)

Die ausgedehnte Gruppenphase der EM verspricht eine Flut an Spielen. Die Spitzenspiele sind klar, aber es gibt auch ein paar heimliche Topspiele. Unsere Auswahl zum dick Unterstreichen im Kalender.

Italien gegen Belgien? Klar. England gegen Wales? Logisch. Spanien gegen Kroatien, Schweiz gegen Frankreich? Sowieso. Pflichttermine für jeden EM-Interessierten. In der erstmals auf 36 Partien ausgedehnten Gruppenphase der Europameisterschaft gibt es aber auch noch ein paar andere Spiele, die man sich im Kalender vormerken sollte. Spiele mit heimlichem Charme und Spiele mit offenen Rechnungen. Spiele mit Geschichte.

Schweiz–Albanien: Duell unter Brüdern

Samstag, 11. Juni, 15 Uhr.

Rund sechs Millionen Albaner leben auf dem Balkan, noch mal ein paar Millionen dazu in Mittel- und Nordeuropa. Als Fussball-Nation galten sie bislang nicht. Dieses Bild wird sich bei der EM nicht nur wegen der erstmaligen Turnierteilnahme des Mutterlandes ändern. Auch die Schweiz wäre ohne ihre albanische oder exakter gesagt kosovarische Note nicht dasselbe Team. Womöglich wäre sie nicht mal qualifiziert. 

Sechs Spieler mit albanischen Wurzeln stehen im Schweizer Kader, vier in der wahrscheinlichen Startformation: Xherdan Shaqiri, Valon Behrami, Admir Mehmedi und Granit Xhaka, für den Arsenal gerade rund 45 Millionen Euro Ablöse an Mönchengladbach bezahlt hat.

Mit seinem energischen, furchtlosen Spiel wirkt der Mittelfeldchef prädestiniert für die Premier League. Es gibt aber auch Situationen, in denen der harte Granit ganz weich werden kann. Das Schweizer Auftaktspiel gegen Albanien am ersten EM-Samstag in Lens dürfte so ein Nachmittag werden.



Mehr als nur ein Bruderduell: Im Schweizer Team steckt fast ebenso viel Albanien wie umgekehrt.

Mehr als nur ein Bruderduell: Im Schweizer Team steckt fast ebenso viel Albanien wie umgekehrt. (Bild: KEYSTONE/Walter Bieri)

 

Granit Xhaka hatte sich dieses Spiel nie gewünscht – er trifft ja nicht nur auf seine Wurzeln, sondern auf sein eigenes Blut. Taulant Xhaka, der Verteidiger vom FC Basel, durchlief zwar alle Schweizer Jugendnationalmannschaften, nahm im Dezember 2013 jedoch die albanische Staatsbürgerschaft an, um ab 2014 für die dortige Nationalmannschaft zu spielen.

Es ist das zweite Bruderduell bei einem grossen Turnier, nachdem an der WM 2010 schon Jerome (Deutschland) und Kevin-Prince (Ghana) Boateng aufeinandertrafen. Anders als jenes Spiel vor sechs Jahren steht es jedoch zugleich sinnbildlich für die Querverbindungen beider Mannschaften.

Während sechs Schweizer auch für Albanien spielen könnten, stehen im albanischen Kader sogar acht Profis, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind und dort für Jugendnationalteams gespielt haben. Auch das albanische Team wäre ohne die Schweiz garantiert nicht dasselbe.

Türkei–Kroatien: Comeback, Revanche und (zu) viel Politik


Sonntag, 12. Juni, 15 Uhr.

Nach zwei verpassten Turnieren und einer wackligen Qualifikation spricht bei dieser EM nicht viel für die Türkei. Ausser vielleicht der Rückkehr von «Imperator» Fath Terim, unter dem die Türken die besten Resultate ihrer Geschichte verbuchten: das Halbfinale bei der WM 2002 und der EM 2008.

In der Schweiz und Österreich erwarben sich Terims Spieler damals den Ruf der Comeback-Könige mit den unendlichen Leben. Nach der Auftaktniederlage gegen Portugal besiegte die Türkei in der «Wasserschlacht von Basel» mit einem Tor von Arda Turan in der 92. Minute die Schweiz und erhielt so die Chance auf das Weiterkommen. Durch drei Tore in der letzten Viertelstunde schlugen die Türken schliesslich Tschechien 3:2.



Ruhig und friedlich ist das Prinzenparkstadion nur im Leerzustand. Die türkischen und kroatischen Fans dürften es in ein Pulverfass verwandeln.

Ruhig und friedlich ist das Prinzenparkstadion nur im Leerzustand. Die türkischen und kroatischen Fans dürften es in ein Pulverfass verwandeln. (Bild: Keystone/Francois Mori)

Nach Schlusspfiff gab es schwere Randale zwischen den Fans. Wo schon die Türken nicht immer gelassen bleiben (in der Schweiz erinnert man sich an das Play-off zur WM 2006), sind Kroatiens Anhänger wie keine anderen für ihren extremen Nationalismus gefürchtet.

Von den Spielern werden sie dabei immer wieder ermutigt. Unrühmlich besonders der faschistische Gruss von Verteidiger Josip Simunic nach erfolgter Qualifikation für die WM 2014, wegen dem er von der Fifa für das Turnier gesperrt wurde.

Wenn nun in Kroatien von Revanche für das Viertelfinale von 2008 die Rede ist, muss man hoffen, dass der Play-off-Sieg gegen die Türkei vor der EM 2012 die Gemüter schon etwas abgekühlt hat. Auch in der nächsten WM-Qualifikation treffen sich beide Teams wieder. Das Hinspiel in Kroatien findet im September unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt: Stadionsperre der Fifa für rassistische Gesänge der Fans.

Österreich–Ungarn: Reminiszenzen an den Donaufussball

Dienstag, 14. Juni, 18 Uhr.

In der Zwischenkriegszeit gab es zwar das Habsburgerreich nicht mehr, dafür galt Wien als Zentrum des kontinentalen Fussballs. Der Visionär Hugo Meisl initiierte als Funktionär unter anderem den Europapokal der Nationalmannschaften, eine Art Vorläufer der heutigen EM, und den Mitropa-Cup, Prototyp der Champions League.

Auch in seinem zweiten Job als österreichischer Nationaltrainer setzte er Impulse. Sein «Wunderteam» pflegte das Kurzpassspiel und emanzipierte den kontinentalen Fussball von der brachialeren Interpretation im britischen Mutterland.

Weil in Ungarn ein ähnlicher Stil praktiziert wurde, sprachen Zeitgenossen schon damals vom «Donaufussball». Und in Ungarn sollten sich bald sogar noch brillantere Interpreten des schönen Spiels zusammenfinden: die historische Mannschaft um Ferenc Puskas, die 1953 mit ihrem 6:3 im Wembley gegen England nicht nur für die erste Heimniederlage des Mutterlands gegen ein nicht-britisches Team, sondern auch für den vielleicht epochalsten Paukenschlag der Fussballgeschichte sorgte.

Es gab Zeiten, da war der Fussball von Österreich und Ungarn so schön wie ein filigran gemaltes Bild.

Es gab Zeiten, da war der Fussball von Österreich und Ungarn so schön wie ein filigran gemaltes Bild. (Bild: tschuttiheft.li)

Dass die Ungarn im Jahr darauf die WM im Berner Finale gegen Deutschland verloren, wird dort nicht umsonst als Wunder bezeichnet. Puskas hatte vor dem Turnier übrigens gesagt: «Die Einzigen, die wir wirklich fürchten, sind die Österreicher.»

Lang ist es her. Die Niederschlagung des Budapester Frühlings leitete zwei Jahre später einen Verfall ein, wie ihn bald auch Österreich erleben sollte. Es gibt Länder, die waren nie gross im Fussball, aber es gibt kaum welche, die mal so gross waren und es nie wieder wurden.

Die erste Qualifikation für eine EM-Endrunde in der Geschichte (Österreich; 2008 war man als Gastgeber automatisch dabei) bzw. seit 1972 (Ungarn) ist da immerhin ein Anfang. Doch trotz der imposanten Arbeit insbesondere von Marcel Koller in Österreich: So gepflegter Donaufussball wie einst ist im ersten Turnierduell beider Länder seit dem WM-Viertelfinale 1934 nicht zu erwarten.

Italien–Schweden: Machiavelli und Ibrahimovic

Freitag, 17. Juni, 15 Uhr.

Am Freitagabend, dem 18. Juni 2004, wurde im Estádio do Dragão von Porto ein Weltstar geboren. Seitlich im Sprung und mit der Hacke eine Bogenlampe aus bedrängter Position ins Tor zu bekommen – das schafft nur Zlatan Ibrahimovic.

Der Treffer des damals 22-Jährigen zum späten 1:1-Ausgleich gegen Italien begründete aber nicht nur die fortan durch weitere Wundertore immer wieder bestätigte Legende des Kung-Fu-Fussballers und begnadeten Grossmauls aus Malmö, es sorgte auch für eine pikante Ausgangsposition vor dem letzten Spieltag in der Gruppe C.

Auf vier Punkte kamen Schweden und Dänemark, bei zwei standen die Italiener. Während sie gegen die chancenlosen Bulgaren anzutreten hatten, duellierten sich die Skandinavier im anderen Stadion Portos unter verhängnisvoller Prämisse.

Jedes Unentschieden ab 2:2 würde beide in die nächste Runde bringen, unabhängig vom Resultat der Italiener. Bei Regen im englisch anmutenden Boavista-Stadion entwickelte sich eine abwechslungsreiche Partie. Tomasson brachte Dänemark in Führung, Torwart Sörensen verursachte kurz nach der Pause einen Elfmeter, den Larsson zum Ausgleich nutzte.

Tomasson traf erneut, es lief schon die 89. Minute, es würde doch nicht … doch, es würde. Sörensen liess eine Flanke nach vorn abklatschen, Jonson traf zum 2:2 – einem «sehr seltenen Resultat im Fussball», wie Schwedens Trainer Lars Lagerbäck noch vor dem Spiel gesagt hatte: «Ich glaube nicht, dass es so ausgeht.»

Während die italienischen Journalisten in Porto das Ergebnis achselzuckend zur Kenntnis nahmen («Unsere hätten es bestimmt nicht anders gemacht»), traf Antonio Cassano im Parallelspiel in der fünften Minute der Nachspielzeit zum wertlosen Sieg gegen Bulgarien.

«Zwei mittelmässige Mannschaften haben sich gegenseitig weitergebracht», zürnte Torwart Gigi Buffon. Die Skandinavier lehnten jeden Verdacht einer Absprache empört als südländische Phantasien ab («Machiavelli war Italiener, wir können so etwas nicht», Lagerbäck). Jahre später publizierte das schwedische Fussball-Magazin «offside» jedoch eine Geschichte mit kompromittierenden Dialogen der Profis beider Teams während des Spiels.

Wales–Russland: Doping? Nur ein Einzelfall

Montag, 20. Juni, 21 Uhr

Erstmals seit 1958 ist Wales wieder bei einem grossen Turnier dabei. Aber dabei soll es nicht bleiben. «Auf uns wartet noch eine Aufgabe in Frankreich», verkündet Superstar Gareth Bale. Sich für die nächste Runde qualifizieren zum Beispiel.

Das wichtigste Gruppenspiel gegen den Nachbarn England gewinnen. Das wichtigste Gruppenspiel? Als Chris Coleman nach der Auslosung auf den Bruderkampf angesprochen wurde, wechselte der walisische Trainer das Thema – zum vermeintlich unspektakulären Russland-Spiel: «Payback Time», sagte er. 

Zumindest in der kleinen Drei-Millionen-Einwohnernation wusste jeder, was gemeint war. In den Play-offs zur EM 2004 hoffte Wales schon einmal auf die Erlösung von seinem jahrzehntelangen Leid. Ein Team um Ryan Giggs und Gary Speed, trainiert von Mark Hughes, eroberte im Hinspiel ein 0:0 in Moskau. Zum Rückspiel füllten 73’000 Fans das Cardiffer Millennium Stadium. Jetzt oder nie, war ihr Gedanke. 

Es wurde ein Wieder-nicht. Russland erzielte schon in der ersten Halbzeit den einzigen Treffer der Nacht. Einer der wichtigsten Akteure bei den Gästen war Mittelfeldmann Jegor Titov, der überraschend spielen konnte, obwohl er eine hartnäckige Zehenverletzung mit sich herumschleppte.

Nach dem Spiel wurde Titov positiv auf das Stimulanzmittel Bromantan getestet, um das sich viele Legenden ranken. Es wurde in Russland entwickelt, offenbar gezielt für militärische und sportliche Zwecke. Wie auch immer – es stand auf der Dopingliste der Uefa.

Wales entschloss sich zur Anfechtung des Resultats. Doch die Uefa liess es bestehen und wurde darin letztlich vom Internationalen Sportgerichtshof bestätigt. Das Tribunal vertiefte anhand des Falles die bis heute gültige Rechtsauslegung, wonach ein gedopter Spieler nicht automatisch zu einer Teambestrafung führen müsse. Es gebe keine Beweise für gezieltes Doping durch die russische Teamleitung oder im russischen Fussball, argumentierten die Richter.

Was damals schon zweifelhaft erschien – bei den Olympischen Spielen von Atlanta 1996 waren fünf russische Sportler wegen Bromantan disqualifiziert worden –, klingt angesichts heutiger Erkenntnisse und der aktuellen Laboraushebungen geradezu abenteuerlich. Immerhin bietet sich Wales nun die Chance zur Revanche.

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