5:3 – nach 56 Jahren bezwingt die Schweiz den grossen Nachbarn

Von Sensation bis grosse Genugtuung reicht die Einschätzung des ersten Länderspielerfolgs einer Schweizer Fussball-Nationalmannschaft gegen Deutschland seit 1956. Die Helden des historischen Ereignisses von Basel waren Eren Derdiyok mit drei Toren und Tranquillo Barnetta mit seinen drei Vorlagen dazu.

Einer ragte heraus: Eren Derdiyok, dreifacher Torschütze für die Schweiz beim historischen 5:3-Sieg gegen Deutschland. (Bild: Reuters/ARND WIEGMANN)

Von Sensation bis grosse Genugtuung reicht die Einschätzung des ersten Länderspielerfolgs einer Schweizer Fussball-Nationalmannschaft gegen Deutschland seit 1956. Die Helden des historischen Ereignisses von Basel waren Eren Derdiyok mit drei Toren und Tranquillo Barnetta mit seinen drei Vorlagen dazu.

Einen Test von «untergeordneter Rolle» nannte Joachim Löw am Freitag das Spiel gegen die Schweiz. Vielleicht fanden das auch diejenigen, die nicht in den St.-Jakob-Park gepilgert sind, wo knapp über 27‘000 Zuschauer für eine seltsam dünne Kulisse sorgten. Man mag sich kaum erinnern an ein Länderspiel im Dreiländereck gegen die Deutschen, das nicht genügend Fussballinteressierten  auf die Beine gebracht hätte, um für ein ausverkauftes Haus zu sorgen.

An der Lobpreisung des deutschen Bundestrainers, der nur ein paar Torwartabschläge entfernt vom Rheinknie aus dem oberen Wiesental stammt, kann es nicht gelegen haben. «Die Schweiz ist das kleine Holland», hatte Löw im Vorfeld gesagt und den hiesigen Fussball etwas gar über den grünen Klee gelobt: «Die Schweizer sind unglaublich geordnet, diszipliniert, sie sind wahnsinnig systemtreu und in der Defensive eine der Mannschaften, die absolut mit am besten verteidigen kann. Sie sind schwer auszuspielen, das haben sie gelernt seit frühester Jugend, weil in der Schweiz alle das gleiche System spielen.»

Der erste Heimsieg seit 71 Jahren

Da konnte einem ganz warm ums Herz werden angesichts einer Länderspielgeschichte gegen den grossen Nachbarn, der 56 Jahre darben beinhaltet. Seit 1956 und einem 3:1 in Frankfurt hatte die Schweiz nie mehr gewonnen gegen Deutschland. 18 Anläufe hat sie seither genommen und 16 Mal verloren. Der letzte Heimsieg (ein 2:1 in Bern 1941) lag sogar 71 Jahre zurück. Und dann warnte Löw im Jahr 2012: «Wir treffen auf einen Gegner, der uns viel abverlangen wird.»

Und wie. Mehr noch: Wer am Samstag nicht im Joggeli dabei war, hat Historisches verpasst. Denn dieser 5:3-Erfolg – ganz gleich, dass er mitten in eine nicht einfache Vorbereitungsphase der Deutschen fällt, die erst ab Sonntag auf acht Stars des FC Bayern München zurückgreifen können – wird in den Geschichtsbüchern ohne Fussnote geführt werden.

Das Ergebnis wie auch der spielerisch frische und freche Auftritt der Schweizer ist wie ein Befreiungsschlag einer Nationalmannschaft, die in den vergangenen zwei Jahren wenig Freude verbreitet hat. Das 5:3 gegen einen der Hauptanwärter, Spanien ab dem 8. Juni an der Euro 2012 in Polen und der Ukraine den Europameistertitel streitig zu machen, ist nicht hoch genug einzuordnen.

Faustpfand für die WM-Qualifikation

Vor allem auch für Ottmar Hitzfeld, der zuletzt viele mediokere oder gar miserbale Spiele zu moderieren hatte und schliesslich das schwer enttäuschende Aus in der EM-Qualifikation. Für den Nationaltrainer, dessen Herkunft noch näher zur Mündung der Wiese in den Rhein liegt als Löws, ist dieses Ausrufezeichen gegen den dreifachen Welt- und Europameister nicht nur ein Trostpflaster für ein entgangenes grosses Turnier, sondern ein wichtiger Faustpfand auf dem Weg in die WM-Ausscheidung. Die Schweizer machen daraus hoffentlich mehr als aus dem grandiosen 1:0-Erfolg gegen Spanien an der WM 2010.

«Es hat mich überrascht, wie eiskalt die Mannschaft zugeschlagen hat», sagte Hitzfeld. Es schwang keinerlei Triumphgeheul in seiner Analyse, dafür ist der gefühlte Schweizer doch zu sehr Deutscher, aber ein «sensationell» lag dann schon drin. Und noch am Spielfeldrand gab er seinem Kollegen nach dem Schlusspfiff eines mit auf den Weg: «Das ist ein gutes Omen: Wir haben 2010 auch als einzige Mannschaft gegen Spanien gewonnen, und die sind dann Weltmeister geworden. Und deshalb bin ich überzeugt, dass Deutschland Europameister wird.»

Deutsche Schwächen weidlich ausgenutzt

In Hitzfelds Heimatgemeinde wird der Abend von Basel daran einige Zweifel gesäht haben. Fünf Gegentore gab es zuletzt beim 1:5 in Rumänien am 28. April 2004 unter Bundestrainer Rudi Völler. Vor allem im Defensivverhalten, dem Kerninhalt der zurückliegenden Trainingstage im südfranzösischen Tourrette, offenbarte die deutsche Mannschaft mit dem aus einer Langzeitverletzung kommenden Innenverteidiger Per Mertesacker und dem Schalker Höwedes als Spielball von Barnetta grosse Defizite.

Diese weidlich ausgenutzt zu haben, ist das grösste Kompliment an diese Schweizer Nationalelf. Sie geriet zwar früh unter Druck (1:7 Corner nach einer Viertelstunde), stand «mit dem Rücken zur Wand» (Hitzfeld), verteidigte aber gut und stiess dann urplötzlich in die Lücken des nicht funktionierenden deutschen Verteidigungsverbandes. Den Anfang machte der offensichtlich ausser Form spielende Mario Götze von Meister Dortmund. Sein Ballverlust wurde von Fernandes provoziert, der ein guter Zerstörer an der Seite von Captain GökhanInler war, dem wiederum endlich einmal auch in der Nationalmannschaft ein starker Auftritt gelang.

Eine Sternstunde erlebten Eren Derdiyok und Tranquillo Barnetta. Beides Spieler, die keine einfache Saison hinter sich haben. Derdiyok war in Leverkusen nur zweite Wahl und wechselt nun voller Hoffnung nach Hoffenheim, und Barnetta plagte sich ebenfalls in Leverkusen mit Verletzungen herum. Für Barnetta, mit 60 Länderspielen der Dienstältste, war es gar der erste Auftritt im Schweizer Dress seit dem viel beachteten 2:2 im Wembleystadion gegen England vor Jahresfrist. Mit zwei Toren Barnettas.

Barnetta, der grosse Wegbereiter

Am Samstag war Barnetta der grosse Wegbereiter. Zu allen Toren Derdiyoks – dessen Treffer Nummer 5, 6 und 7 für die Schweiz – lieferte Barnetta den Assist. Erst ein schönes Zuspiel, das Derdiyok eindrückte, dann eine schöne Flanke aus dem Halbfeld auf den Kopf von Derdiyok, und schliesslich eine wohltemperierte Freistosshereingabe, die der Basler wieder mit dem Kopf vor dem Hünen Mertesacker erwischte.

Wirkte das deutsche Defensivverhalten irritierend vogelwild, sah etwa auch Torhüter-Debütant Marc-André ter Stegen beim letzten Gegentreffer äusserst unvorteilhaft aus, als er am von Inler gefühlvoll in den Strafraum gechipter Ball vorbeisegelte und Lichtsteiner dessen zweites Tor im 47. Länderspiel offerierte, so waren auch die Schweizer in der Abwehr keineswegs über alle Zweifel erhaben.

Die erste Stunde war ein Schweizer Lehrstück für zügiges Umschalten, die letzte halbe Stunde ein munteres Scheibenschiessen auf beiden Seiten, wobei Diego Benaglio an den Gegentreffern zwei und drei seinen Anteil hatte. Schürrles Distanzschuss liess er gegen die tiefstehende Sonne eigenartig passieren, und Draxlers Schuss parierte er ungenügend und Reus direkt auf den Stiefel.

«Für die Zuschauer, vor allem für die Schweizer, war es fantastisch», sagte Hitzfeld zu dem Acht-Tore-Unterhaltungsspektakel, bei dem Schweiz durch Derdiyok (auf Zuspiel Xhaka), Mehmedi und Fernandes Kopfball ans Torgestänge sogar noch einige Gelegenheiten ausliess.

«Immer eine grosse Genugtuung»

«Es gibt einiges aufzuarbeiten. Die Schweizer waren frischer und konzentrierter. Alle unsere Fehler wurden aufgedeckt, und wir haben viele Fehler gemacht», musste Löw eingestehen, für den allerdings ab Sonntag die EM-Vorbereitung «erst richtig los geht». Womit er sich und eine ganze, grosse Fussballnation beruhigen kann: Die Elf von Basel wird wenig zu tun haben mit der, die am 9. Juni in Lwiw gegen Portugal ins Turnier einsteigt.

Die Schweiz wird dann in der Zuschauerrolle sein, erstmals seit 2002 fehlt sie wieder bei einem grossen Turnier. Aber sie wird mit dem Gefühl zuschauen, einen ganz Grossen des Weltfussballs bezwungen zu haben. «Gegen Deutschland zu gewinnen, ist immer eine grosse Genugtuung» sagt Peter Stadelmann, «das ist einfach historisch bedingt.» Ganz schweizerisch wollte der Nationalmannschafts-Delegierte sogleich darauf hingewiesen haben, dass nun kein Grund bestehe, um abzuheben, «aber es war sicher einer sehr gute Leistung, das Ergebnis ist sehr schön und hilfreich, denn wir standen alle unter Druck».

Was Stadelmann befriedigte, ganz speziell in Hinsicht auf das Wirken des Trainers: «Ich habe gegen Deutschland umgesetzt gesehen, was vorher in der Teamsitzung besprochen wurde.» Das war offenbar in jüngerer Vergangenheit nicht immer so. Vielleicht strahlt das Ergebnis von Basel bis nach Luzern aus, wo die Lust auf Nationalmannschaft auch sehr begrenzt scheint. Für das erste Länderspiel in der Innerschweiz nach 15 Jahren, am Mittwoch in der Swissporarena gegen Rumänien, sind erst 8000 Tickets verkauft.

Schweiz–Deutschland 5:3 (2:1)

Basel, St.-Jakob-Park. – 27‘381 Zuschauer. – SR Gautier (Frankreich).

Tore:

21. Derdiyok 1:0 (drückt ein schönes Zuspiel von Barnetta aus sieben Metern ein).

23. Derdiyok 2:0 (Kopfball auf Flanke Barnetta).

45. Hummels 2:1 (Kopfball via Lattenunterkante auf Freistoss Özil).

50. Derdiyok 3:1 (Kopfball auf Freistoss Barnetta).

64. Schürrle 3:2 (Schuss aus 30 Metern und Benaglio sieht beim Flatterball gegen die tief stehende Sonne ganz schlecht aus).

67. Lichtsteiner 4:2 (Kopfball über den herausstürzenden Ter Stegen hinweg auf feinen Heber von Inler).

72. Reus 4:3 (Nachschuss aus zehn Metern nachdem Benaglio einen Draxler-Schuss nur abklatschen kann).

76. Mehmedi 5:3 (Nachschuss nachdem Ziegler den Pfosten trifft nach einer tollen Freistossfinte, ausgelöst von Inler).

Schweiz: Benaglio; Lichtsteiner, Senderos, von Bergen, Ziegler; Inler, Fernandes (92. Djourou); Mehmedi, Xhaka (90. Wiss), Barnetta (78. Stocker); Derdiyok.

Deutschland: Ter Stegen; Höwedes (78. S. Bender), Mertesacker, Hummels, Schmelzer; Khedira (46. Gündogan); Schürrle, Götze (78. L. Bender), Özil (46. Reus), Podolski (62. Draxler); Klose (78. Cacau).

Bemerkungen: Die Schweiz ohne Shaqiri (verletzt), Dzemaili (Napoli/am Samstag verletzt abgereist), Rodriguez (Wolfsburg/verletzt), Behrami (Fiorentina/verletzt), Fabian Frei (Basel/nicht aufgeboten). – Verwarnungen: 65. Inler (Foul), 75. Hummels (Foul). – Deutschland nach Seitenwechsel mit Reus neben Klose in einem 4-4-2. – Länderspieldebüts bei Deutschland für Ter Stegen und Draxler; bei der Schweiz für Wiss /Luzern . – 88. Kopfball an die Latte von Fernandes. 

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