Am Ende einer denkwürdigen Saison steht der Double-Gewinner in der Pflicht: Der FC Basel muss sich künftig aus eigenem Interesse um das Wohl der Konkurrenz kümmern.
Samstagabend in einer Schweizer Bahnhofsunterführung. Im Laden eines Telefonanbieters läuft auf sechs Bildschirmen ein Fussballspiel. Es ist sechsmal das gleiche, GC gegen Luzern. Niemand schaut hin. Drei Schritte näher, und der Zwischenstand wird ersichtlich – 1 : 2. Was heisst das, wenn es so bleibt? In den grosszügig bemessenen Bereichen, die das Hirn dem Fussball zuzugestehen gelernt hat, bricht die übliche Hektik aus: Tabellenkalkulationen, Europacup-Prognosen.
Doch schnell kehrt wieder Ruhe ein, denn zu Hektik besteht kein Anlass: an diesem Abend nicht, seit Wochen nicht mehr. Es spielt hier zwar ein Abstiegskandidat gegen einen Titelanwärter. Doch kann diesem Abstiegskandidaten nichts mehr passieren, weil sich bereits vor Monaten ein direkter Konkurrent für immer verabschiedet und sich ein weiterer durch einen Effort neben dem Spielfeld 36 Minuspunkte erkämpft hat.
Und der Titelanwärter kann auf seine Titel pfeifen, weil er den einen schon lange hat abschreiben müssen und den andern nicht braucht, um im Europacup dabei zu sein. Und so könnte GC gegen Luzern an diesem Abend auch auf 12 oder 144 Bildschirmen gleichzeitig laufen, es würde niemanden interessieren.
Es wurden in den vergangenen Monaten schon genug Hände verworfen über den Zustand des Schweizer Profifussballs. Jetzt, in der Stunde der Gewissheit, dass es wenigstens zu einem echten Schweizer Meister und einem ansprechend spannenden Cupfinale gereicht hat in diesem Jahr, stellt sich die Frage nach den Lehren. Und dabei dreht sich fast alles um den FC Basel.
Auch der Primus ist gefährdet
Die eindrückliche sportliche Leistung des FCB verdient allen Respekt. Doch muss es dem Titelhalter zu denken geben, dass ihm inzwischen die grösste Gefahr nicht durch die Stärke, sondern durch die Schwäche der Gegner entsteht. Mag der FCB dem Rest der Liga spielerisch noch so überlegen sein: Wenn die Liga als solche ins Wanken gerät, reisst das auch den Primus mit.
Es wurden im Verlauf der beeindruckenden Champions-League-Kampagne deshalb Stimmen laut, die den FCB künftig in einer anderen Liga sehen. Das ist Nonsens. Niemand in Deutschland wartet auf einen Übersiedler aus der Super League, und keine Liga würde freiwillig auf einen Aufsteiger verzichten, um Platz zu machen für einen Gast aus dem Nachbarland. Es bleibt dabei: Der FCB spielt in der Schweiz. Und er ist mehr denn je gefordert, sich dieser fussballerischen Heimat zum eigenen Nutzen anzunehmen.
Im Unterschied zum Biermarkt etwa, wo es sich für die Grossbrauereien offenbar lohnt, kleinere Konkurrentinnen mittels unverschämter Angebote an die Wirte auszustechen, sind Fussballvereine von ihren direkten Konkurrenten abhängig. Kein Spiel findet ohne Gegner statt, keine Meisterschaft ohne fixes Teilnehmerfeld.
Attraktiv ist eine Liga dann, wenn der Ausgang möglichst vieler Spiele und möglichst jeder Meisterschaft offen ist. Die Zuschauerzahlen in der Bundesliga erreichen nicht nur deshalb immer neue Höchstwerte, weil mit Stehplatzkurven und günstigen Saisonkarten die Stadien weiterhin auch einkommensschwachen Schichten offenstehen, sondern weil bei aller Dominanz des FC Bayern die Liga spannend und spektakulär bleibt. So kürte, als Indiz, die Bundesliga in den vergangenen zehn Jahren fünf verschiedene Meister, während es in Italien, Spanien und England nur drei waren.
Sind Güter und Kompetenz im Schweizer Fussball zu einseitig verteilt, schadet das mittelfristig auch den Starken. Er sei richtig froh gewesen, als der FC Zürich endlich einmal ein paar Millionen kassiert habe in der Champions League, gestand ein mit Haut und Haar dem FCB Verfallener unlängst im vertraulichen Gespräch. In der Tat ist das Bewusstsein über den Wert gesunder Konkurrenz in der Fanszene ausgeprägt. Nichts ist für eine Kurve schlimmer als eine leere Kurve jenseits des Spielfelds. Wohin denn mit all der Präpotenz, wenn von den andern keiner da ist? An wem denn sich reiben, messen, aufbauen, gegen wen die Identität festigen, wenn die eigenen Gesänge statt mit Schmähungen beantwortet als hohle Farce widerhallen?
Da hilft nur Solidarität
Droht der Verlust des Gegners, hilft nur Solidarität. So erklärt sich die Reaktion der Zürcher Südkurve auf den jüngsten, umstrittenen Einsatz der Zürcher Polizei gegen die Fans des FCB. Der Grasshopper Club wiederum hat sich in dieser auslaufenden Saison nur auf eine Weise Respekt verschafft: durch den ungebrochenen Willen einiger Hundert Anhänger, ihren Verein bei allem Elend überallhin zu begleiten.
Dass diese Fans dann in Lausanne lauter und heller waren als das Megafon des GC-Präsidenten, der ihnen mit Aussperrung drohte, am Ende aber nicht nur von seiner Ankündigung, sondern auch von seinem Amt zurücktrat, war treffliche Symbolik: Beim Versuch, noch den letzten Rest Leben aus seinem Verein auszuschliessen, scheitert der Präsident, worauf er in seiner Arbeit keinen Sinn mehr sieht und geht.
Der FC Basel, das ist sein Schicksal, ist demgegenüber voller Leben und sehr gesund. Wenn er nicht bald gegen eine Liga aus lauter Xamaxen, Servettes, Grasshoppern, Sions und in welcher Phase gerade auch immer sich befindenden Young Boys antreten will, muss er die Liga an seinen Errungenschaften teilhaben lassen.
Man kann nicht verlangen, dass der FCB künftig die Hälfte seiner Transfereinnahmen zur Rettung konkursiter Konkurrenten einsetzt. Wo der Schweizer Meister aber den Weg weisen muss, ist in der Rückbesinnung auf das Wesen des Sports und der Liga: Der FC Basel muss den Konkurrenzbegriff im Schweizer Fussball neu definieren.
Respekt über alle Grenzen
Als Marco Streller seine jungen Mitspieler im Zürcher Letzigrund freundlich, aber bestimmt darauf hinwies, dass provokativer Torjubel vor der Heimkurve zu unterlassen sei, handelte er nicht nur im Sinne der FCB-Charta. Er bewies auch, dass der FCB über alle Grenzen hinweg respektiert wird, wenn er sich für Höheres einsetzt. Nicht die oft zu Unrecht angefeindete Swiss Football League, nicht der behäbig-bürokratisch wirkende Fussballverband und schon gar nicht die Medien können einen Christian Constantin davon überzeugen, dass er seine vor Jahrzehnten von der Uefa erlittene Kränkung nicht unbedingt zum Leidwesen aller Schweizer Profiklubs rächen soll. Nein, solche Aufgaben muss künftig der FC Basel übernehmen.
Eine Charta für alle
Ob im Rahmen eines Gentlemen’s Club, wo sich Vereinsverantwortliche zum Wohle ihrer Liga regelmässig austauschen, oder in bilateralen Gesprächen, wo Neuankömmlinge in Präsidentenämtern wohlwollend auf ihre Ernsthaftigkeit geprüft werden: Der FCB muss die Wege innerhalb der Super League verkürzen, Kontakte herstellen, Verbindlichkeiten schaffen. Eine FCB-Charta (Marco Streller müsste sie Aleksandar Dragovic und Yann Sommer vielleicht noch einmal laut vorlesen) reicht nicht, wenn sich andere aus der Liga um Respekt, Solidarität und Seriosität scheren. Es braucht eine Charta für alle. Und das Kompetenzzentrum hierfür liegt nicht in Thun und auch nicht in Genf. Es liegt in Basel.
Wenn ein Cup-Halbfinal bei einem Zweitklassigen beinahe zum Jahrhundertspiel emporgeschrieben wird, weil ein Grossteil der Liga-Matches nur noch langweilig ist, spricht daraus die Sehnsucht nach dem Kern des Spiels: Wurst, Bier, Spannung. Es verträgt vielleicht eine Saison, in der es heisst: Wurst, Bier, fünf-null. Oder Wurst, Bier, Bier. Oder Wurst, Bier, spielfrei.
Sehr viel mehr als eine solche Saison verträgt es aber nicht. Wenn fünf Runden vor Schluss der Zweite gegen den Drittletzten spielt, sollte wenigstens einer vor dem Shop in der Bahnhofsunterführung stehen bleiben wollen. Das wäre im Sinne aller. Auch und gerade des FCB.
* Pascal Claude (42) schreibt unter dem Titel «Knapp daneben» seit 15 Jahren über Randgebiete des Fussballs. Von 2002 bis 2004 war er Wirt der Flachpass-Bar im Stadion Letzigrund. Claude betreibt den Blog knappdaneben.ch. Er lebt mit seiner Familie in Zürich und arbeitet als Lehrer in einem Kinder- und Jugendheim.
Jubel, immer wieder Jubel – die FCB-Spieler haben alle Gegner distanziert. Foto: Keystone
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 25.05.12