Alles zur Torlinientechnik an der WM in Brasilien

In Brasilien kommt zum ersten Mal an einer WM die Torlinientechnik zum Einsatz – die TagesWoche klärt offene Fragen.

Manuel Neuer ist geschlagen, doch der Schiedsrichter anerkennt Frank Lampards Tor nicht: Szene des Fehlentscheids an der WM 2010 in Südafrika. (Bild: Screenshot http://www.mirror.co.uk)

In Brasilien kommt zum ersten Mal an einer WM die Torlinientechnik zum Einsatz – die TagesWoche klärt offene Fragen.

Das «Wembley-Tor» gehört zu den umstrittensten Szenen der Fussballgeschichte. Ob der Ball im WM-Final 1966 hinter der Linie war oder nicht, wird bis heute diskutiert. Tatsache ist, dass der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst den Treffer gab – England gewann gegen Deutschland und war Weltmeister. 2010 wiederholte sich das Drama in Südafrika unter umgekehrten Vorzeichen: Diesmal entschied der Referee gegen England, worauf die Mannschaft im Achtelfinal gegen Deutschland unterging und ausschied.


Frank Lampards nicht gegebenes Tor im Spiel zwischen England und Deutschland an der WM 2010 in Südafrika.

Nun, vier Jahre später, sollen solche Fehlentscheide nicht mehr möglich sein, denn nach der WM in Südafrika rang sich die Fifa nach langer Gegenwehr zum Einsatz der Torlinientechnik durch. Das System Goalcontrol, erstmals bei der Klub-WM in Japan eingesetzt, entscheidet über Tor oder Nichttor. Wir klären offene Fragen.

Wie funktioniert die Torlinientechnik von Goalcontrol?
14 fest installierte Hochgeschwindigkeitskameras sind auf die Tore gerichtet, 7 auf beiden Seiten. Die Kameras decken mit 500 Bildern pro Sekunde die beiden Torräume ab. Ein Computer, der eine Datenmenge von 4,5 Gigabite pro Sekunde verarbeitet, unterscheidet zwischen Ball und Nichtball-Elementen. Zusätzlich gibt es für beide Tore eine virtuelle Fläche, Vorhang genannt. Dieser wird auf den Seiten von den Torpfosten, oben von der Latte und unten vom Rasen begrenzt. Der Computer errechnet eine Animation und zeigt ein Tor an, wenn der Ball von vorne diesen Vorhang mit vollem Umfang durchquert hat.

Wie genau ist die Torlinientechnik?
Die Fehlermarge des Systems liegt bei fünf Millimetern. Das ist unter der Limite von 1,5 Zentimetern, die von der Fifa gefordert ist.

Was passiert bei einem Tor?
Das System sendet bei einem Tor dem Unparteiischen ein optisches Signal auf dessen Armbanduhr, die gleichzeitig vibriert. Das Signal geht an den Schiedsrichter, die Linienrichter sowie den vierten Offiziellen. Zusätzlich sehen es die Techniker von Goalcontrol, die während der WM das System überwachen.

Gibt es an der WM in Brasilien zusätzlich zur Torlinientechnik auch Torlinienrichter?
Nein. Das Spiel leiten der Schiedsrichter, die beiden Linienrichter sowie der vierte Offizielle. Anders als beispielsweise in der Champions League kommen keine Torlinienrichter zum Einsatz.

Muss der Schiedsrichter einen Torentscheid via Goalcontrol anzeigen?
Nein. Der Unparteiische macht die gleiche Armbewegung wie bei einem unumstrittenen Tor. Er ist nicht dazu verpflichtet, den Spielern mitzuteilen, dass ein umstrittener Treffer von Goalcontrol bestätigt wurde. Es ist aber anzunehmen, dass er in solchen Situationen auf seine Uhr zeigen wird, wie dieser Fall aus der Premier League, die erste Liga mit Torlinientechnik, zeigt:


Wie der Schiedsrichter andeutet, dass ihn die Technik aufgeklärt hat.

Entscheidet das System über Tor oder nicht?
Nein. Das System ist lediglich eine Unterstützung für die Unparteiischen. Die Entscheidung liegt allein beim Schiedsrichter. Theoretisch kann er ein Tor aberkennen, auch wenn es von Goalcontrol anerkannt wurde – und umgekehrt.

Was ändert Goalcontrol bezüglich der Vorbereitung der Unparteiischen?
Zwischen 90 und 60 Minuten vor dem Spiel müssen die Schiedsrichter die Funktion des Systems testen, indem sie unter anderem den Ball in und neben das Tor schiessen (in diesem Video ab Minute 5:40 zu sehen). Die Tests dauern zwischen fünf und zehn Minuten. Sollten die Tests nicht zur Befriedigung des Schiedsrichters verlaufen, steht es ihm frei, während des Spiels auf das System zu verzichten. Diese Entscheidung muss er spätestens eine Stunde vor dem Spiel treffen. Zusätzlich gibt es vor der WM in Brasilien Trainingseinheiten zur Vorbereitung der Schiedsrichter auf die Torlinientechnik. Einige von ihnen kennen die Technik vom Confederations Cup, an dem das System getestet wurde; andere kommen in Brasilien zum ersten Mal mit der Torlinientechnik in Kontakt.

Was kostet die Torlinientechnik?
Gemäss der Firma Goalcontrol kostet die Installation der Technik pro Stadion einmalig zwischen 200’000 und 300’000 Euro. Die Fifa bestätigt diesen Betrag nicht, sondern verweist darauf, dass die Kosten variieren. Ob die Kameras nach der WM in den Stadien installiert bleiben, ist laut der Fifa noch in Diskussion.

Könnte das System auch für andere Spielsituationen eingesetzt werden? Zum Beispiel bei Abseitsfragen?
«Theoretisch ist alles möglich», sagt Rolf Dittrich, Pressesprecher von Goalcontrol. Problemlos anwendbar wäre das System beispielsweise für Entscheide, ob der Ball die Grund- oder Seitenlinie überquert hat. Dafür müssten lediglich weitere Vorhänge definiert werden. Den Entscheid über Abseits oder nicht könnte das System im Prinzip ebenfalls liefern, es müsste dafür laut der Produktionsfirma angepasst werden. Doch das International Football Association Board der Fifa ist aktuell der Meinung, dass Torentscheide die einzigen Situationen bleiben sollen, in denen Technologie eingesetzt wird.

Werden die Bilder der Goalcontrol-Kameras von den TV-Stationen verwertet?
Das System generiert Animationen, die den Ball, das Spielfeld und das Tor zeigen. Die Animationen werden dem TV-Zuschauer als Replay angeboten. Diese sind eine Weiterentwicklung der Replays, die bei der Club-WM in Marokko gezeigt wurden, wie das Beispiel dieses unumstrittenen Tores zeigt.

Wird das Bildmaterial gespeichert und nach dem Spiel verwendet?
Die Bilder der Torszenen und die Replays werden gespeichert. Sie haben nach der Partie aber keinen juristischen Wert, Entscheide können damit nicht angefochten werden. Auch werden die Bilder nicht zusätzlich verwendet, wenn beispielsweise beim Verdacht auf eine Tätlichkeit die TV-Kameras keinen klaren Schluss zulassen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass die Goalcontrol-Kameras nur Szenen in unmittelbarer Tornähe aufzeichnen. Alles, was davon entfernt passiert, wird nicht erfasst.

Ist Goalcontrol die einzige Torlinientechnik?
Nein. Die Fifa erteilte vier Firmen die Lizenz für die Torlinientechnik, was bedeutet, dass deren Systeme bei Fussballspielen zum Einsatz kommen dürfen. Zwei davon sind kamerabasiert: Hawkeye, das in der englischen Premier League angewendet wird und auch vom Tennis bekannt ist, und Goalcontrol, das an der WM in Brasilien zum Einsatz kommt. Die anderen beiden funktionieren mit Magnetfeldern. Der Nachteil dieser Systeme ist, dass der Ball und das Spielfeld Elemente der Technik beinhalten müssen. Dieser Nachteil war eines der Argumente, die für das kamerabasierte System gesprochen haben. Aktuell gibt es von der Fifa lizenzierte Installationen in Brasilien, Deutschland, England, Wales und Holland – alle entweder von Hawkeye oder Goalcontrol.

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