Andy Murray: Vom Jäger der Weltnummer 1 zum Gejagten

Andy Murray wird am Montag die neue Nummer 1 der Welt. Der Schotte steht damit erstmals an der Spitze des ATP-Rankings – nach einem langen, harten Kampf.

Andy Murray, der Schotte, die neue Weltnummer 1.

(Bild: Keystone)

Andy Murray wird am Montag die neue Nummer 1 der Welt. Der Schotte steht damit erstmals an der Spitze des ATP-Rankings – nach einem langen, harten Kampf.

Als Novak Djokovic am Ende von zwei quälenden Grand Slam-Wochen im verregneten Paris das letzte grosse Rätsel seiner Karriere aufgelöst hatte, als die Nummer 1 der Weltrangliste auch die Nummer 1 bei den French Open war, da war die Hackordnung im Welttennis noch wie in Stein gemeisselt. Djokovic, der stolze, glückliche Gewiner, hatte etwa doppelt so viele Punkte auf seinem Arbeitskonto, über 8000 Zähler trennten ihn von der Nummer 2, seinem weit zurückgefallenen Verfolger Andy Murray.

Man muss noch einmal auf diese grauen Frühlingstage in der französischen Kapitale zurückblicken, auf den damals am Boden zerstörten Murray und den triumphalen Sieger Djokovic, um zu verstehen, welch epochaler Umbruch seitdem stattgefunden hat – eine Zeitenwende, ein Umbruch und nun ein Machtwechsel, den niemand vorhersehen konnte, zuallerletzt die Beiden, um die es geht. Um den tatsächlich enthronten Djokovic. Und um den neuen Weltranglisten-Spitzenreiter Murray, der während des Pariser Hallenturniers nun den nächsten Meilenstein seiner komplexen Achterbahn-Laufbahn erreichte.

«Es war die härteste Aufgabe, die ich je als Spieler hatte, dieser Sprung an die Spitze», sagte Murray, der sich zwischen Paris und Paris wie Phönix aus der Asche erhob und seitdem die Rolle des Dominators in der Branche übernommen hat, mit einer Paradebilanz von zuletzt 42:3-Siegen.

Auf dem Gipfel

Es ist eine der erstaunlichsten Geschichten, die das moderne Tennis, überhaupt aber der Sport in den letzten Jahren, schrieb – diese Geschichte des Bravehearts Murray, der sich allen Widerständen, allen Skeptikern und Zweiflern zum Trotz doch zu einer der prägenden Persönlichkeiten des Wanderzirkus erhob. Und nun, sieben Jahre nachdem er erstmals die Nummer 2 der Weltrangliste wurde, auch den Gipfel erklomm, in einer Epoche gemeinsam mit den Superhelden Djokovic, Federer und Nadal.

«Wir haben einen neuen König. Gratulation, Sir Andy», verbeugte sich Federer vor dem neuen Branchenführer, einem in Kollegenkreisen hochgeschätzten und respektierten Kämpfer. Alle, die Besten wie Federer voran, wissen nur zu gut, welche Herkules-Mission hinter Murray liegt, einem Mann, auf dessen Schultern Erwartungsdruck wie auf keinem zweiten im Welttennis lag. «Niemand hat es schwerer gehabt als er in seiner Karriere», sagt der legendäre schwedische Altmeister Björn Borg, der schon im Sommer nach Murrays Wimbledonsieg eine Wachablösung in der Weltrangliste prophezeite.

Wendepunkte und Schwächen

Tatsächlich waren die beiden Wochen im grünen Rasenparadies an der Church Road ein Wendepunkt in diesem verrückten Tennisjahr – und vielleicht sogar darüberhinaus. Jedenfalls bewegten sich die Leistungs- und Ergebniskurven der langjährigen Weggefährten und Rivalen Djokovic und Murray plötzlich in entgegengesetzte Richtungen.

Murray fand mit dem an seine Seite zurückgekehrten Coach Ivan Lendl neuen Halt, neue Balance, neues Selbstbewusstsein. Und Djokovic, der Unberührbare, der Ausserirdische, der Seriensieger, landete zurück in irdischer Schwerkraft – private Probleme, aber auch eine Sättigung, eine Erschlaffung nach dem grossen Paris-Moment machten ihm zu schaffen. Bis heute hat er sich nicht wirklich erholt und aus dem Motivationsloch gefunden, in der Sinnkrise suchte er zuletzt sogar Hilfe bei einem spanischen Meditationsspezialisten, einem Guru namens Felipe Imaz.

Murray nutzte die Schwächen seines ewigen Spielverderbers Djokovic gnadenlos aus, seit dem Sommer ist er fast immer der Mann gewesen, über den Titel zu holen waren. Aber eben auch jener, der die Titel für sich behielt, ob nun bei den Olympischen Spielen in Rio, beim Masters in Schanghai oder zuletzt in der Wiener Stadthalle.

Dass ihm am Ende Platz 1 vorerst wie ein Geschenk zufiel, durch den Verletzungsrückzug des Kanadiers Milos Raonic im Pariser Palais Omnisports – geschenkt: Murray hatte sich den Capitano-Rang mehr als verdient, es war die Krönung eines langen, mit beschwerlich nur unzureichend beschriebenen Weges. «Ich habe oft und hart an mir gezweifelt», sagt Murray, «vor allem, als ich die ersten grossen Endspiele immer wieder verlor.» Und zwar immer wieder gegen den gleichaltrigen Djokovic, den Frusterzeuger aus Belgrad.

Von unten nach oben

Was hat Murray nicht alles zu hören bekommen in seiner Karriere vom aufgepeitschten Londoner Zeitungsboulevard, welche Hoffnungen und Sehnsüchte wurden nicht auf den Mann aus Schottland projiziert? Und doch löste er, nach vielen bitteren Rückschlägen, nach zunächst vier verlorenen Grand Slam-Finals, nach Spott und Häme übers wiederholte Scheitern («Er ist wie Popeye ohne Spinat»), doch noch die massiven Erwartungen des Vereinigten Königreichs ein – 2012 erst mit dem Olympiasieg in Wimbledon, danach mit dem Triumph bei den US Open in New York.

Und 2013 dann auch mit dem Grand Slam-Coup auf dem Heiligen Rasen, am 7.7., 77 Jahre nach Fred Perrys letztem Sieg. «Er ist das Paradebeispiel für einen Profi, der sich niemals, wirklich niemals unterkriegen lässt», sagt Chris Kermode, der Chef der Spielergewerkschaft ATP. Ganz nebenbei: Auch Murrays Bruder Jamie, in Kindertagen der bessere der beiden Brüder, rückte in diesem Jahr zwei Mal für insgesamt neun Wochen auf Platz 1 der Doppel-Weltrangliste vor.

Brite Nummer 1

Murray ist seit 2004 erst der vierte Spieler, dem der Satz auf den Ranglisten-Thron gelang, neben Federer, Nadal und Djokovic. Der erste Brite seit Einführung des neuen Leistungssystem in den 70er Jahren ist er sowieso – und nun die Nummer 26 seit einem gewissen Ilie Nastase, der am 23. August 1973 die Charts anführte.

«Nur die Besten der Besten schaffen es nach ganz oben. Nummer eins zu werden, ist die ultimative Prüfung», sagt Boris Becker, der Cheftrainer von Murrays grösstem Konkurrenten, Djokovic. Becker schaffte dieses grosse Lebensziel auch erst fünfeinhalb Jahre nach dem ersten Wimbledontriumph, Murray hatte sogar zwölf Berufsjahre zu warten, bis das Werk vollendet war.

Jener unwahrscheinliche Held Andy Murray, der – nicht zu vergessen – auch die grossen Traumen seiner Kindheit auf dem langen Marsch durch die Tennis-Institutionen hinter sich liess. Erst das Schulmassaker in seiner Heimstadt Dunblane, bei dem er sich mit seinem Bruder Jamie vor dem amoklaufenden Pistolenschützen Thomas Hamilton verstecken musste. Und später die familiäre Tragödie, die Trennung seiner Eltern. «Wenn man weiss, was er in jungen Jahren durchlebt hat, weiss man, wie gigantisch seine Karriere eigentlich ist», sagt Tim Henman, einst einmal der britische Spitzenspieler.

Der zweite Führungswechsel im Welttennis ist aber noch nicht das Abschlussdokument für die Saison, anders als bei den Damen, wo Angelique Kerber nach einer ähnlichen Aufholjagd gegen Serena Williams bereits als Erste den Urlaub geniesst. Wer das Jahr als Nummer 1 beenden wird, entscheidet sich erst bei der WM in London ab dem nächsten Sonntag. Murray wird dann der Gejagte sein, Djokovic der Jäger. Aber ob er Jäger sein kann und will, steht in Zweifel. Nicht aber der Wille von Murray, daheim in der 02-Arena den Platz an der Sonne zu verteidigen.

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