Der Puls steigt im Mediencenter des FC Thun. Der FC Basel ist zu Gast. Wir sind zwei Etagen unter Tag, wo sich wie vor jedem Spiel im Berner Oberland die Journalisten zur letzten Vorbereitung versammeln. Hier wird das Matchblatt verteilt, hier gibts Kaffee.
Fabian Aebischer, Sportkommentator mit kräftiger Stimme und Sensler Dialekt, braucht keinen Kaffee, er ist wach genug. «Lass uns loslegen», sagt er zu Matthias, 30 Minuten vor Anpfiff. Und Matthias und Fabian legen los.
Fabian Aebischer (20) und Matthias Oppliger (27) bewegen sich auf der selben Umlaufbahn wie die übrigen Medienschaffenden. Woche für Woche dasselbe Ritual. Akkreditieren, ankommen, verkabeln, berichten.
Ihre Hörerinnen und Hörer tun dasselbe auf Seiten der Rezipienten, mit einem kleinen aber matchentscheidenden Unterschied: Sie sind zu einem grossen Teil blind oder sehbehindert, dabei nicht weniger angefressene Fussballfans.
Und wie unterstützt man seine Farben, wenn man sie nicht sehen kann? Nun, indem man sie hört. Dank Leuten wie Fabian und Matthias, den Audiodeskriptoren von Radio Blind Power.
Verbales Dribbling
Audiodeskription, so nennen sie das beim Radio Blind Power. Kommentieren tun die anderen. Die, die es sich leisten können. Das Publikum von Matthias und Fabian will dagegen erstmal wissen, was überhaupt passiert, und das möglichst genau. Also bleiben die beiden sprachlich so eng am Ball, wie es die gängige Fussballsprache eben zulässt. Und die lässt mehr zu, als man denkt.
Das Spiel «wogt» bei Radio Blind Power nie einfach «hin und her». Es spielt sich präzise ab. «Bei der rechten Eckfahne der Basler», «an der linken Hälfte der Thuner Grundlinie», «auf Höhe des Mittelkreises» oder «am Elfmeterpunkt».
Immer wieder streuen die Audiodeskriptoren solche Koordinaten ein und beleben damit das Spielfeld der Fantasie. Man könnte die Audiodeskription als Königsdisziplin der mündlichen Spielberichterstattung bezeichnen.
Szenen aus dem Spiel FC Thun gegen FC Basel (0:3) vom 5. August 2017 mit Matthias Oppliger und Fabian Aebischer.
Wenn an den Wochenenden in den Schweizer Stadien der Ball rollt, ist er wiederum ganz Ohr: Yves Kilchör, 30 Jahre alt, selbst Radiomoderator in Freiburg und sehbehindert. Wo andere auf 100 Meter scharfe Konturen erfassen, muss Kilchör auf zwei Meter heranrücken, sein Sehvermögen liegt bei zwei Prozent.
Kilchör gehört zum Gründungsteam von Radio Blind Power und ist einer von mehreren ehrenamtlichen Mitarbeitern beim Sender, die ihrer Arbeit mit Handicap nachgehen.
«Wir senden nicht nur barrierefrei, wir sind barrierefrei als Arbeitsplatz» sagt Kilchör, «bei uns sind vom ersten bis zum letzten Schritt Leute involviert, die normal sehen, und solche, die wenig bis gar nichts sehen.» Jedes Reporterteam, es sind mittlerweile 20 Leute im Einsatz, wird beispielsweise von einem Techniker unterstützt, manche davon sehbehindert, dafür umso hörsensibler.
Auf der Pressetribüne in Thun ploppt plötzlich eine Nachricht auf: «Dreh doch bitte dem Fabian das Mikro ein bisschen leiser», lautet die Message, geschickt aus der Zentrale. Und Matthias tut, wie ihm geheissen.
Matthias und Fabian sitzen auch mit einem schlanken Lohn gerne in der Thuner Stockhorn Arena, «weil ich das eine gute Sache finde», sagt Matthias, aber auch, weil er so das Spiel zu sehen kriegt. Unter der Woche ist er Fluglotse in Bern, am Wochenende lenkt er Fantasien in Bahnen. Passt. Auch Koordinator Kilchör ist seit Kindsbeinen begeisterter Fussballfan, «da wo ich herkomme ist der Dorfverein alles.»
Das geht auch live!
Nur: Was ist ein Fussballspiel für einen, der nicht sehen kann? Fühlt sich Fussball ohne visuelle Information nicht ähnlich trostlos an, wie wenn wir ein Geisterspiel unter Ausschluss der Fans und ihrer Gesänge schauen (müssen)?
Für Kilchör ist das eine Sache der Auslegung. Was heisst schon «visuell»? Bloss weil die Dinge für ihn nicht sichtbar sind, sind sie noch lange nicht unsichtbar, findet er.
Der 30-Jährige ist Radiomacher der ersten Stunde, mit seinen Jugendfreunden Jolanda Schönenberger und Daniele Corciulo sass er schon 1997 in der Blindenschule Zollikofen an den Reglern. Es war die Geburtsstunde von Radio Blind Power, das in diesem Jahr so gesehen den 20. Geburtstag feiert. Die Dimension hat sich verändert, klar, und Kilchör ist heuer nur einer von vielen Mitarbeitenden. Aber das Ziel bleibt: Die Welt abzubilden, sie in Worte zu verpacken und durch den Äther zu schleusen. Vor dem Radio sind (fast) alle gleich.
Porträt von Radio Blind Power aus dem Jahr 2002 bei «Quer» mit Röbi Koller.
Zum 20. Geburstag hat Radio Blind Power auch dank eines Partnervertrags mit der Super League einen Königstransfer landen können: Pedro Lenz, Mundartherold und Ballsportfanatiker, spricht neu ein Fussballlexikon für den Sender. Dort erklärt er sachlich und präzis, was das denn genau ist, ein Handshake. Oder ein Spielsystem. Denn wie gesagt: nur weil diese Elementarteilchen des Fussballs für Blinde und Sehbehinderte nicht sichtbar sind, sind sie nicht gleich unsichtbar.
In der laufenden Saison soll in der Entwicklung des Radios der entscheidende Schritt gelingen: die Übertragung in Echtzeit zu gewährleisten. Noch erreichen die Audiodeskriptoren ihre Zuhörerinnen und Zuhörer mit einer Verzögerung von ca. acht Sekunden, im Stadion sind das Lichtjahre. Aber die Macher sind zuversichtlich, dass ihr Publikum die Spiele bald live im Stadion verfolgen können. Ohne Einschränkungen, Barrierefrei. Kopfkino total.
Die Spiele von Radio Blind Power sind jeweils live als Stream oder nach dem Schlusspfiff als Podcast zu hören. Eine Vorschau auf die nächsten Matches, die übertragen werden, gibts hier. Das Heimspiel zwischen dem FC Basel und dem FC Lugano vom 20. August wird live übertragen.
Und noch eine Leseempfehlung: Das Fussballmagazin «11 Freunde» hat blinde und sehbehinderte Fans gefragt, was sie ins Stadion zieht.