Arnold Gjergjaj: Schritt für Schritt, Schlag für Schlag zum grossen Kampf

Aus dem Kosovo über Pratteln auf die Weltbühne des Boxens: Arnold «The Cobra» Gjergjaj hat einen langen Weg hinter sich. Gegen den Briten David Haye wird er bald seinen grössten, schwierigsten Kampf bestreiten müssen.

Arnold Gjergjaj im Sparring am 13. September 2014. Boxen, Boxclub Basel. (Bild: Aurel Fischer)

Aus dem Kosovo über Pratteln auf die Weltbühne des Boxens: Arnold «The Cobra» Gjergjaj hat einen langen Weg hinter sich. Gegen den Briten David Haye wird er bald seinen grössten, schwierigsten Kampf bestreiten müssen.

Der folgende Text entstand im Oktober 2014. Damals stand Arnold Gjergjaj vor seinem ersten Titelkampf. Gjergjaj siegte, gewann damit einen EBU-Titel und verteidigte diesen erfolgreich. Nun folgt der nächste, der grösste Karriereschritt: Am 21. Mai wird die Kobra dem ehemaligen Weltmeister David Haye gegenüberstehen. Es ist Gjergjajs erster grosser internationaler Kampf. Aus diesem Anlass publizieren wir dieses Portrait nochmals.

Samstagmorgen kurz vor elf, Keller des Boxclubs Basel. Angelo Gallina ist nicht zufrieden. Im Ring läuft sich einer warm, den er sein «Baby» nennt: Arnold Gjergjaj, 197 Zentimeter gross, Kampfname «The Cobra», Schwergewichtsboxer aus Pratteln. Mit der Sanftmut eines Lamms ausserhalb des Rings – und der Wucht von 550 Kilogramm in der rechten Faust, die er einsetzt, wenn der Gong geschlagen hat. 

Arnold Gjergjajs Titelkampf in der TagesWoche

Am 4. Oktober kämpft der Prattler Schwergewichtsboxer Arnold «the Cobra» Gjergjaj gegen Adnan «Bosnian Lion» Redzovic um den Europa-Titel der nicht EU-Staaten. Die TagesWoche hat zum Kampf ein Paket mit diesen Berichten zusammen gestellt:

Sechs Jahre lang haben Gallina und Gjergjaj daran gearbeitet, dass sie einen Titelkampf bestreiten können. Und jetzt, da es am 4. Oktober um einen kontinentalen Gürtel geht, verspäten sich die Sparring-Partner? Nein, Gallina ist ganz und gar nicht zufrieden. 

Aber was soll er machen? Eigentlich müsste der Manager und Trainer seinem Schützling ein Trainingscamp mit vier professionellen Trainingspartnern hinstellen. Bloss fehlt dazu das Geld. Also ist Gallina um jeden valablen Boxer froh, der sich vor Gjergjajs Fäuste stellt. Das ist nicht unbedingt ein Vergnügen; bereits 2008 ging einer der damals besten Schweizer Schwergewichtsboxer im Sparring gegen Gjergjaj k.o. 

«Ich will Weltmeister werden»

Das war ganz am Anfang der Zusammenarbeit; und für Gallina einer der Momente, in denen er daran zu glauben begann, dass es mit Gjergjaj ganz nach oben gehen könnte. Der heutige Präsident des Boxclubs Basel stellte also einen Drei-Phasen-Plan auf. Die letzte Stufe bringt Gjergjaj auf einen kurzen Nenner: «Ich will Weltmeister werden.»

Das klingt ziemlich einfach. Ist aber verdammt kompliziert. Da ist einerseits die Boxwelt mit ihrer unübersichtlichen Struktur und schier unzähligen Verbänden, in der jeder Box-Profi als Ich-AG auf sich selbst gestellt ist. Und wenn einer in Pratteln wohnt, nicht Meier, sondern Gjergjaj heisst, im Kosovo geboren wurde und erst mit 14 Jahren in die Schweiz gezogen ist, dann wird es noch etwas schwieriger.

Inzwischen sind die ersten Trainingsgegner doch noch im Boxkeller eingetroffen. Gallina mahnt zur Eile, stellt die Musikanlage an, deckt die gefährlichen Kanten der Heizkörper ab. Die Einrichtung des Boxclubs atmet den Hauch der Geschichte. Ein Ring in Originalgrösse hätte gar keinen Platz hier unten. Gjergjaj beginnt mit Schattenboxen.

Boxen und albanischer Nachname – da schliessen sich viele Türen

Für Gallina ist der Kampf um finanzielle Unterstützung der härteste, den er mit seinem Schützling zu bestreiten hat. Und er glaubt auch zu wissen, warum er auf seiner Suche nach Sponsoren reichlich erfolglos Klinken putzt: «Die Kombination von Boxen und einem albanischen Nachnamen sorgt an vielen Orten für geschlossene Türen.» Kampfsportler und Albaner? So schnell kannst du gar nicht gucken, wie du da in der Schublade «Schläger und Raser» verschwunden bist.

Wer Arnold Gjergjaj kennenlernt, den springt es geradezu an, wie absurd solch rassistische Kategorisierungen sind. Steht er nicht auf der Boxmatte, strahlt dieser Hüne eine Ruhe und Gutmütigkeit aus, die jeden nur überraschen kann, der ihn zum ersten Mal trifft. Das also soll der Typ sein, der im Ring so hart zuschlägt, dass 19 seiner bislang 25 Gegner das Kampfende auf dem Boden des Rings erlebt haben?

Nein, Gjergjaj hat so rein gar nichts zu tun mit den Stereotypen, die die grösste Schweizer Volkspartei gerne mit ihren xenophoben Initiativen bewirtschaftet. Dieser Mann hat in diesem Jahr als Anerkennung für seine lokale Jugendarbeit den Prattler Stern erhalten. Vom Preisgeld hat er als Erstes dem Jugendhaus eine komplette Boxausrüstung gekauft, weil er selbst erlebt hat, wie ihm der Kampfsport geholfen hat, sich in der Schweiz zurechtzufinden.

Gjergaj arbeitet mit dem Hilfswerk «Terre des Hommes Schweiz» zusammen. Und er schämt sich nicht zuzugeben, dass er weint, wenn ein Stammkunde nicht mehr im Geschäft seines Bruders erscheint, weil er gestorben ist.




(Bild: Aurel Fischer)

Ein Werber müsste nicht einmal eine gute Story erfinden, um mit Gjergjaj sein Produkt zu verkaufen: Die positive Geschichte liefert der 29-Jährige gleich mit. Sie handelt von einer Familie, die zusammenhält. Von jemandem, der vieles opfert, um seinem grossen Traum zu folgen. Und von einer erfolgreichen Integration.

Aufgewachsen ist Gjergjaj als jüngstes von sieben Geschwistern in Gjakova. Ein kleines Dorf im Kosovo, wo jeder stehen bleibt, um ein paar Minuten zu plaudern, wenn er den anderen trifft. Für den jungen Arnold eine ländliche Idylle, die jäh endet, als der Krieg über die Gemeinschaft hereinbricht. «Mir kommt es vor, als habe ich zwei Leben gelebt», sagt Gjergjaj, «eines vor und eines nach dem Krieg.» Noch heute zuckt der schlagkräftigste Mann des Landes zusammen, wenn in seiner Nähe plötzlich etwas knallt.

Die Tränen in der fremden Welt

Erst als der Krieg beendet ist, wird Gjergjaj von seinem Vater in die Schweiz geholt. Nach Pratteln, wo ihn die vielen Leute und Strassen verwirren, wo er die Sprache nicht versteht – und wo er zu Beginn fast jeden Tag weint, weil er sich so fremd fühlt.

Heute sagt Gjergjaj: «Ich möchte nicht mehr zurück in den Kosovo, denn ich habe hier meine Familie und meine Freunde.» Er hat sich durchgebissen. Ist zweieinhalb Jahre in die Schule gegangen und hat danach eine Lehre als Heizungsmonteur begonnen. Eine harte, körperlich anstrengende Arbeit.

Sechs Jahre lang hat er auf dem Job gearbeitet, dann konnte er den Beruf nicht mehr mit seiner Berufung vereinbaren. Wer im Ring etwas erreichen will, der muss Boxer sein. Boxer – und nichts anderes. Sonst reicht es nicht, da kann er sich den Traum von einem WM-Gürtel gleich abschminken.

Boxer – und nichts anderes, das ist Arnold Gjergjaj derzeit tatsächlich. Nicht, dass er bereits von seinem Sport leben könnte. Aber er wird durch den Boxclub unterstützt, sein Trainer und Manager Gallina leistet viel Fronarbeit. Und dann ist da eine Art Familiensponsoring: Bruder Anton hat an der Birsstrasse eine Spar-Filiale, ein Familienunternehmen, in dem Arnold in Teilzeit-Anstellung hinter der Kasse sitzt oder die Gestelle einräumt und dafür hundert Prozent verdient.




(Bild: Aurel Fischer)

Derzeit hat Anton Gjergjaj seinem Bruder komplett freigegeben, damit dieser sich auf seinen EM-Kampf vorbereiten kann. Die ganze Familie steckt zurück, damit der jüngste Bruder sein hohes Ziel verfolgen kann. Für Anton war das nie ein Diskussionsthema: «Für uns war immer klar, dass wir ihn bei seinem Traum unterstützen.»

Dieser Traum verlangt viel Abeit. Von Anton, dem leidenschaftlichen Verkäufer, der sein Geschäft aufbaut und gleichzeitig den Bruder finanziert. Und von Arnold, der an diesem Samstag zwölfmal drei Minuten duchboxt, während sich die Sparring-Partner laufend abwechseln.

Kaum ein Gegner hielt länger als drei Runden durch

Der 29-Jährige braucht diese Kampfsimulation über die volle Distanz. Noch nie ist Gjergjaj länger als sieben Durchgänge im Ring gestanden. Seine letzten zwölf Kämpfe hat er alle durch Knock-out gewonnen, nur einer ging länger als drei Runden. 

Im März dieses Jahres war das, gegen Emilio Ezequiel Zarate, dem Gjergjaj vor dem Kampf noch eine anständige Hose leihen musste, damit der überhaupt Einlass ins Grand Casino Basel erhielt. Der Argentinier hatte im Kampf zwar nie den Hauch einer Chance – aber immerhin blieb er erst nach dem vierten Niederschlag liegen. Und behielt dafür danach die Hose.

Das ist die Kategorie von Boxern, mit denen sich Gjergjaj bislang herumzuschlagen hatte: Aufbaugegner, die für ein paar Tausender plus Flug und Übernachtung in den Ring steigen. Die Finanzierung ist immer eine Aufgabe von Manager Gallina und des Boxclubs Basel. Wer einen Boxer aufbauen will, der muss als Erstes richtig Geld in die Hand nehmen.

Wer wagt schon so ein Projekt?

Damit soll nun Schluss sein. Auch dafür schwitzt Gjergjaj im Ring. Mit dem EM-Kampf will er eine neue Stufe erklimmen. Eine, in der er Anerkennung verdient – und vielleicht auch etwas Geld. Dafür haben er und Gallina sechs Jahre lang gearbeitet. Eine lange Zeit, über die Gallina sagt: «Wie viele Leute gehen mit dir in ein auf mindestens sechs Jahre angelegtes Projekt, ohne Aussicht auf grossen Ertrag?»

Im Ring geht es inzwischen zur Sache. Der südbadische Meister setzt Gjergjaj beim Sparring unter Druck, der rächt sich mit einem Konter. Trotzdem bleibt Gallina kritisch. Die Kobra ist ihm noch zu passiv: «Antäuschen Arnold! Versuch mal eine Finte, Arnold!»




(Bild: Aurel Fischer)

Würde er heute gefragt, er wüsste nicht, ob er noch einmal in dieses Projekt einsteigen würde, gibt Gjergjaj später zu: «All die Entbehrungen, die Probleme auf der Arbeit, der Verzicht auf ein Privatleben, Verletzungen, das harte Training.»

Aber er hat das Ding durchgezogen, weil er weiss: «Es ist zwar hart. Aber nur was hart ist, hat auch einen Wert.» Er ist damit auch zu einem Helden seiner Landsleute geworden. Viele Albaner sind in der Schweiz inzwischen KMU-Gründer, sie arbeiten schwer für ihren Erfolg. «Arnold lebt ihren Werdegang im Ring nach», sagt Gallina, «es geht um Kampf, Verzicht, Bescheidenheit.»

Heute ist es Gjergjaj, der für Erinnerungsfotos posiert

Die zwölf Runden sind um. Arnold Gjergjaj umarmt seine Sparring-Partner, die er eben noch mit harten Hieben eingedeckt hat. An der Wand hängen Bilder von den Trainings, die er mit den Grössen seiner Zunft absolviert hat. Es sind diese Sparrings, die ihm und seinem Trainer die Gewissheit geben, dass er dereinst mit den Besten der Welt mithalten kann. «Wenn Arnold dort nicht gut gewesen wäre, wäre er sofort nach Hause geschickt worden», sagt Gallina.

Auf einem Bild sind Gallina und Gjergjaj zu sehen, wie sie mit Wladimir Klitschko posieren, dem unbestrittenen Dominator im Schwergewichtsboxen. Heute ist es Gjergjaj, um den sich ein Sparring-Partner und dessen Coach für Erinnerungsbilder aufstellen.

Gjergjaj boxt mit einer Schweizer Lizenz, ist hierzulande aber noch kaum jemandem ein Begriff. Im Kosovo dagegen, wo Boxen ein populärer Sport ist, werden grosse Hoffnungen auf ihn gesetzt. Das bringt auch Druck mit sich, meint Gallina: «Alle Kosovaren weltweit setzen auf ihn.»

Eine Situation, aus der nur einer glücklich entrinnt

Im Ring aber, da steht Gjergjaj jeweils allein. Nur er verspürt den Schmerz. Nur er kann die Angst überwinden, die jedem eigenen Angriff voraus geht, weil dieser dem Gegner zugleich die Chance zum Konter gibt. Bleibt die Frage, was ihn dazu treibt, diese Situation zu suchen, aus der es nur für einen von zweien ein glückliches Entrinnen gibt. Wie er, der ausserhalb des Rings lieber schweigt, als einen Konflikt zu suchen, im Ring plötzlich so aggressiv sein kann, dass er sein Gegenüber k.o. schlägt.

Erklären kann er es selbst nicht so richtig. Wahrscheinlich ist es seine Lust daran, sich mit anderen zu messen, die er bereits als Kind im Kosovo verspürt hat. Schon früh war er ein kräftiger Junge, einer, der Ringen mochte, Armdrücken: «Einfach schauen, wer stärker ist.» Und eines steht für ihn fest: Dass es im Boxen nicht darum geht, Gewalt auszuleben: «Es geht um Spass. Da stehen zwei Menschen im Ring, die das gerne machen. Es geht darum, dass beide den Ring als Sieger verlassen wollen.»

Das wird auch am 4. Oktober so sein, wenn Gjergjaj gegen den Bosnier Adnan «The Bosnian Lion» Redzović in seinen bislang wichtigsten Kampf steigt. Erstmals geht es für den Prattler um einen Titel, zum ersten Mal wird der Sieger des Kampfes mit einem Gürtel ausgezeichnet.

Der EM-Titel soll erst der Anfang sein

Noch ist es ein kleiner Titel eines kleinen, aber wenigstens international anerkannten Verbandes. Es geht um den Gürtel, den die European Boxing Union für europäische Boxer aus Nicht-EU-Staaten vergibt. Welchen sportlichen Wert dieser Titel hat, ist gar nicht so sehr ausschlaggebend. Viel wichtiger ist der Titelkampf, weil er bislang verschlossene Türen öffnen soll.

Bei Gallina haben sich seit Bekanntmachung des Kampfes bereits zwei potenzielle Gross-Sponsoren gemeldet. Und dann ist der EM-Kampf auch dazu da, sich für einen interkontinentalen Titelkampf in Stellung zu bringen. «Das alles ist erst der Anfang», gibt sich Arnold Gjergjaj sicher, «glücklich bin ich erst, wenn ich einen WM-Titel habe.»

Er ist angekommen, jetzt kann es weitergehen

Dazu muss die Kobra erst den bosnischen Löwen besiegen. Der scheint kein übermächtiger Gegner zu sein. Aber im Schwergewichtsboxen ist schon mancher reichlich schmerzhaft aus seinem Titelträumen gerüttelt worden. Wie sagt Angelo Gallina? «Seit sechs Jahren lebe ich mit dem Risiko, dass eine Faust reicht – und alles ist vorbei.»

Der Keller des Boxclubs leert sich. Die Sparring-Partner sind gegangen, Arnold Gjergjaj tänzelt alleine durch den Ring. Noch ein paar Schrittfolgen, noch ein paar Schlagkombinationen gegen einen imaginären Gegner. Das Boxen hat ihm geholfen, in der Schweiz anzukommen. Er scheint bereit für einen Schritt nach vorn.

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