Besonders gelassen oder phlegmatisch? Der Trainer von Argentinien muss viel einstecken

Er hat den besten Spieler der Welt und müsste Lionel Messi nur die passende Begleitung mit aufs Feld schicken, doch so ganz einfach ist der Job von Alejandro Sabella nicht. Der Trainer von Argentinien muss auch mal eine Dusche der Spieler mit der Wasserflasche hinnehmen.

Alejandro Sabella lässt Lionel Messi viele Freiheiten – auf und neben dem Platz. Der Superstar darf auch die Aufstellung kritisieren. Es scheint zu funktionieren: Messi hat unter ihm mehr Tore geschossen als in den sechs Jahren zuvor. (Bild: PILAR OLIVARES)

Er hat den besten Spieler der Welt und müsste Lionel Messi nur die passende Begleitung mit aufs Feld schicken, doch so ganz einfach ist der Job von Alejandro Sabella nicht. Der Trainer von Argentinien muss auch mal eine Dusche der Spieler mit der Wasserflasche hinnehmen.

Warum es in Sheffield eine Band namens Sabella gibt, ist eine kuriose Geschichte. Sie beginnt 1978, als sich der Manager des lokalen Zweitligisten United auf eine Geschäftsreise nach Argentinien begab. Sein Ziel: Diego Maradona zu verpflichten.

Schweiz gegen Argentinien, Achtelfinale, 18 Uhr (SRF 2). Die TagesWoche berichtet live.

Die Kunde von dem 17-jährigen Ausnahmetalent hatte sich auf die Insel herumgesprochen. Doch die 600’000 Pfund, die sein Klub Argentinos Juniors als Ablöse verlangte, erschienen Sheffield United dann doch etwas viel. Ganz umsonst sollte der Trip über den Atlantik aber nicht bleiben. Das Budget des Zweitligisten erlaubte es immerhin, eine andere begabte Nummer Zehn einzukaufen: Alejandro Sabella.

Für ihn mussten nur 160’000 Pfund an River Plate überwiesen werden, avancierte in der Folge aber wenigstens zum Maradona von Sheffield. Als eine Gruppe junger United-Fans 2012 nach einem Namen für ihre Band suchte, entsann sich einer ihrer Väter des Spielmachers, seiner technischen Klasse, seines lustigen Englischs und des warmen Klangs seines Namens – Sabella. Der Erinnerung mag geholfen haben, dass der einstige Provinzheld inzwischen argentinischer Nationaltrainer geworden war.

Sabella übernahm den ersten Chefposten erst 2009

Ausserhalb von Sheffield und Argentinien war Sabella indes kaum bekannt, als er im Sommer 2011 zum Nachfolger des bei der Copa América im eigenen Land gescheiterten Sergio Batista bestellt wurde. Nach der Rückkehr aus England hatte er bei Estudiantes de la Plata seine ordentliche Spielerkarriere vervollständigt, während der er viermal für die argentinische Nationalelf spielte. Danach wurde er Co-Trainer des einstigen Weltklasseliberos Daniel Passarella. Das Duo coachte bei Klubs in Südamerika und Europa und bei der WM 1998 auch die argentinische Nationalelf.

Erst 2009 übernahm Sabella erstmals das Amt des Cheftrainers, bei seinem alten Klub Estudiantes. Dann ging es ziemlich schnell. Gleich in der ersten Saison gewann er die Copa Libertadores. Und zwei Jahre später schien der unglamouröse Sabella dem Verband als idealer Fachmann, um wieder etwas Sachlichkeit in die von Batista und seinem Vorgänger Maradona aufgescheuchte Nationalmannschaft zu bringen.



Argentina's coach Alejandro Sabella gestures during the 2014 World Cup Group F soccer match against Nigeria at the Beira Rio stadium in Porto Alegre June 25, 2014. REUTERS/Edgard Garrido (BRAZIL  - Tags: SOCCER SPORT WORLD CUP)

Wenn er mal was macht, ist auch nicht gut: Alejandro Sabella gilt als «phlegmatisch». (Bild: EDGARD GARRIDO)

Was dabei verloren ging, ist bei jeder Pressekonferenz zu sehen. Wo die Audienzen von Maradona zu den unbestrittenen Höhepunkten der WM in Südafrika zählten, hält sich das Interesse der Weltmedien an Sabella vornehm zurück. Die argentinischen Journalisten versuchen es zwar tapfer mit ihren Fragen, denen oft ein minutenlanger Diskurs über ihre eigenen taktischen Ansichten vorangestellt wird. Auf der Antwortseite ist das Spektakel jedoch überschaubar. «El Pachorra», wird Sabella nicht umsonst genannt. Das kann der Gelassene heissen – aber auch der Phlegmatische.

Am Montag in São Paulo immerhin, einen Tag vor dem Achtelfinale gegen die Schweiz, zeigte sich Sabella durchaus inspiriert. Bis zum Rauch einer Zigarre oder kreativer Beleidigungen für Pelé reicht es natürlich nicht, dafür hatte er unter anderem eine klare Ansage mitgebracht: «Jenseits der Technik und aller Weisheiten des Fussballs geht es jetzt um den Charakter, das emotionale Gleichgewicht. Wie ein Philosoph mal gesagt hat, ein Gramm Neuron wiegt mehr als ein Kilo Muskel.»

«Wie ein Philosoph mal gesagt hat, ein Gramm Neuron wiegt mehr als ein Kilo Muskel.»

Alejandro Sabella

Argentinien soll es nicht ergehen wie dem grossen Rivalen Brasilien, dessen Übereifer in Paralyse umschlug, als Chile am Samstag unerwartet heftig Paroli bot. Oder wie der eigenen Mannschaft von vier Jahren, die von Maradona im Herzen, aber nicht im Kopf erreicht wurde. Sabella ist Pragmatiker, er hat unter Passarella und vorher seinem Klubtrainer Carlos Bilardo, dem heutigen Nationalmannschaftsmanager, resultatsorientierten Fussball gelernt. Ausserdem, ist die Sache bei dieser WM nicht eigentlich ganz einfach? Er hat den besten Spieler der Welt. Alles, was es braucht, ist die richtige Begleitung und das richtige System um ihn herum.

Messi, den er in seiner ersten Amtshandlung zum Kapitän machte, funktioniert mittlerweile deutlich besser als früher. Unter Sabella hat er in drei Jahren mehr Tore für die «Albiceleste» geschossen (24) als in sechs Jahren unter dessen vier Vorgängern zusammen (18). Ein enormer Verdienst des Trainers, wenn man bedenkt, wie festgefahren die Situation bei seiner Amtsübernahme war. Weil es mit Argentinien nicht so klappte wie mit Barcelona, wurde Messi in der Heimat so kritisch debattiert, dass ihm oft gar das Interesse an der Nationalelf abgesprochen wurde.

Messi hat unter Sabella mehr Tore geschossen als in den vorherigen sechs Jahren.

Was bislang noch fehlt in Sabellas Team, ist die Balance. Im ersten Spiel versuchte er, den Verbund mit einem fünften Abwehrmann zu stärken. Das Ergebnis war so desaströs, dass die Spieler selbst das Experiment in der Halbzeit für beendet erklärten. Zuletzt durften sie nach Lust und Laune angreifen, liessen beim 3:2 gegen Nigeria aber auch etliche Kontergelegenheiten zu. Vor dem Schweiz-Spiel deutet nun manches daraufhin, dass Sabella mit Maxi Rodríguez einen vierten Mittelfeldspieler neben Mascherano, Gago und Di María bringen könnte, um die Spielkontrolle zu erhöhen.

Geopfert würde dann Ezequiel Lavezzi, der während des Nigeria-Spiels durchaus überzeugend den Part des dritten Stürmers neben Messi und Higuaín vom verletzten Sergio Agüero übernahm, weltweiten Ruhm aber eher dadurch erwarb, dass er den Trainer mit seiner Wasserflasche bespritzte.

 

Die Beteiligten versuchten in den letzten Tagen, der Aktion den Anschein von Demütigung zu nehmen. «Ich habe es getan, weil er übernervös wirkte», scherzte der Angreifer, derweil der Coach am Montag die Dusche mit Lavezzis Rolle als Teamspassvogel entschuldigte: «Er hat eine besondere Art, und ein Trainer muss verstehen zu differenzieren, damit die Spieler nicht aufhören, Individuen zu sein. Ich habe es vor allem als einen Beweis von Zuneigung verstanden.»

Den Wasserspritzer hat Sabella als «einen Beweis von Zuneigung verstanden».

Dass Sabella sich stark von Messi und anderen Prätorianern wie Mascherano oder Di María beeinflussen lässt, gilt unter Insidern als offenes Geheimnis. Dass er darüber nicht alle Überzeugungen von Bord wirft, hat er jedoch auch schon demonstriert. Bei der Kadernominierung verzichtete er nicht nur auf den im Team wenig geschätzten Carlos Tévez, sondern überraschend auch auf den von Messi und Di María protegierten Mittelfeldmann Éver Banega. Der Aussortierte sass danach auf Di Marías Zimmer, beide heulten. Beobachter wähnen in dem Vorfall eine Entfremdung im vorher exzellenten Verhältnis zwischen Trainer und Mannschaft.



Argentina's coach Alejandro Sabella reacts during the 2014 World Cup Group F soccer match between Argentina and Iran at the the Mineirao stadium in Belo Horizonte June 21, 2014.  REUTERS/Sergio Perez (BRAZIL  - Tags: SOCCER SPORT WORLD CUP)

So richtig schlau wird der Beobachter aus Sabella nicht: Ist der man nur besonders gelassen oder eben doch phlegmatisch? (Bild: SERGIO PEREZ)

Womöglich schreckte Messi auch deshalb nicht davor zurück, in aller Öffentlichkeit das System mit den fünf Verteidigern zu diskreditieren und damit auch Sabella bloss zu stellen. «El Pachorra» nahm es ohne grosse Aufregung zur Kenntnis. Gelassenheit oder Phlegma? Es ist eine feine Linie. Das Ergebnis dieser WM wird darüber entscheiden, mit welchem Beigeschmack sein Spitzname in die Geschichte eingehen wird.

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Mehr zum Thema in unserem Dossier: WM 2014

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