Die Curling-WM gastiert in Basel. 35 Millionen Zuschauer schauen sich die Spiele im TV an – und verpassen das Beste: Gebrüll, Emotionen und ein erklärungsbedürftiges Anfeuern im Stadion.
Das Kinn ruht auf der Brust, die Augen sind geschlossen. Die Curlingspiele an diesem Nachmittag sind noch keine 30 Minuten alt, schon döst ein älterer Herr auf der Tribüne. Wer sich schon mal Curling im Fernsehen angesehen hat, der würde sagen: «Pah, live ist dieses Rumgeschubse also genau so einschläfernd!» Der monotone Kommentar, die gleitenden Bewegungen der Spieler, das ewige Gewische – so ein Curlingmatch ist im TV wirklich alles andere als prickelnd. Dass der gute Mann aber an diesem Mittwochnachmittag in der St. Jakobshalle eingeschlafen ist, ist hingegen mehr als erstaunlich.
«Wuaaaaaaaah!», brüllt auf dem Sheet gerade ein Kanadier. «Ooooohhhh!», schreit ein Franzose auf dem Spielfeld nebenan und der schottische Skip peitscht seine Wischer an: «Come on! Hard, haaarrrrrrrrd!» Nein, live ist Curling wirklich alles andere als ein Schlafmittel. Schon alleine auf den vier Sheets (es spielen Schottland gegen Frankreich; Kanada/Dänemark; Deutschland/Neuseeland und USA/Norwegen) mit 32 Spielern und 64 Steinen den Überblick zu behalten, ist eine Herausforderung.
Aber zugegeben, wer sich dieser Tage zur St. Jakobshalle traut, der wünscht sich zunächst zurück vor den Fernseher: Vor der Halle gähnende Leere statt fröhlicher Menschenmengen, in der Bierecke stossen Silberrücken mit ihrer Stange an und der Raclettekäse riecht so penetrant, dass man das Gefühl hat, die Kleider nach dem Anlass verbrennen zu müssen.
Das Schnurren des Curling-Steines
Timo und Karin stört das nicht. Mutter und Sohn schieben auf einem Miniatur-Curling-Feld winzige Curling-Murmeln herum. «Er spielt seit einer halben Saison im Verein», sagt Karin und schiebt eine Murmel an. «Was spannend ist am Curling?», wiederholt Timo die Frage und bolzt die Kugel gegen die Bande: «Keine Ahnung. Mami, Du bist dran.»
Aussenstehenden Curling schmackhaft zu machen, ist keine einfache Sache. Andreas Oestreich weiss das. Er holte 1990 den ersten Juniorenweltmeistertitel für die Schweiz. Nun sitzt er im einzigen vollbesetzen Bereich der Halle: dem VIP-Rang. Im Fernsehen sei Curling einfacher zu verstehen, sagt der 43-Jährige, aber hier in der Halle sei der einzige Ort, wo der Funke überspringen könne. «Man hört den Stein über das Eis gleiten, das Fitzen der Besen beim Wischen und spürt die Anspannung und die Emotionen der Spieler.» Er sitzt so nahe am Spielfeldrand, dass er fast unverständlich ist wegen dem Gebrüll im Hintergrund.
Läuft es im Fussball nicht, sagt Oestreich, haut man mal einen um, «lässt Wut und Emotionen freien Lauf». Im Curling ist jegliche Aggression gegen die Gegner verpönt. Verhaut das gegnerische Team einen Stein, müssen Publikum und Spieler ruhig bleiben – so will es der «Spirit of Curling». «Die Anspannung muss aber raus, deshalb brüllen die Spieler ihre Steine oder Wischer an.» Selbst die Fans dürfen sich nicht über Fehler der Gegner freuen. Gejubelt wird erst und nur, wenn das eigene Team einen guten Stein gespielt hat – vergleichbar mit dem Tennis. Nur mit dem feinen Unterschied, dass im Curling auf vier Feldern gleichzeitig gespielt wird. «Irgendwer jubelt also immer», sagt Oestreich und lacht, weil selbst das Jubeln erklärungsbedürftig ist.
Ein «It’s ok»-Gastgeschenk
Trotz dem Wirrwarr aus Spieler-Gebrüll und Fan-Gejohle ist die Stimmung in der St. Jakobshalle bedächtig, um es freundlich zu formulieren. Curling habe in der Schweiz nicht die nötige Popularität, um genügend Zuschauer für ein Spektakel anzulocken, sagt Oestreich. «In Kanada finden Spiele vor über 10’000 Fans statt. Da geht die Post ab.» In Basel spielen die Teams an diesem Nachmittag vor leeren Rängen.
«It’s ok.» Dawn und Stu Buchan Andrews meinen es gut mit Basel. Als Schotten kennen sie Curling als Spektakel. Dawn will die Gastgeber nicht beleidigen. «Die Schweizer sind etwas ruhig», sagt sie und lächelt. Sie zeigt schottische Höflichkeit, während ihr Vater im Hintergrund gerade brüllt: «Let’s go Scotland – let’s go!»
Und was machen die Gastgeber? Sie frönen selbst an einer Heim-WM dem, was weitherum als Schweizer Mentalität wahrgenommen wird: der Zurückhaltung. Mehr noch: «Jetzt sigget mol still!», schimpft auf der Tribüne ein aufgebrachter Herr. Die Ratschen und Glocken der Schotten vor ihm stören ihn ganz offensichtlich in seiner Konzentration. Vielleicht wollte er aber auch ein Schläfchen halten. Pech, dass er nicht vor dem Fernseher blieb – beim monotonen Kommentar, den gleitenden Bewegungen der Spieler und dem ewigen Gewische.
Wer sich selbst ein Bild von der Curling-WM machen will, für die Finalspiele am Samstag und Sonntag gibt es noch Tickets ab 50 Franken. Wer lieber doch einfach Strategie und Taktik verfolgt, der kann die Spiele samt Resultaten und Statistiken live auf der Seite der Curling-WM verfolgen.