Das Ende der dicken Schenkel

Das Eisschnelllaufen ist im Umbruch – ein Sport auf Sinnsuche zwischen Tradition und Moderne.

Natureis und dünne Schenkel: Der Holländer Jorrit Bergsma (r.) macht sich daran, das Eisschnelllaufen von heute zu verändern. (Bild: EPA/Keystone)

Das Eisschnelllaufen ist im Umbruch – ein Sport auf Sinnsuche zwischen Tradition und Moderne.

Was bei uns das Skifahren, ist in Holland das Eisschnelllaufen: Volkssport. Ohne Berge wäre die Schweiz keine Nation der Skifahrer, Holland ohne Grachten keine der Eisläufer. Genug Schnee oder Minustemperaturen – und die massenhafte Eroberung des landestypischen Terrains beginnt. Diese Bewegung bringt ihre Sportstars hervor: Hollands erfolgreichste Eisschnellläufer sind im Land der Tulpen und Windmühlen mindestens so bekannt wie hier Didier Cuche, Lara Gut und Co. So weit, so gut.

Doch während sich die alpine Schweiz gerade an den Erfolgen eines Beat Feuz berauscht, befindet sich das Eisschnelllaufen in Holland in einem kritischen Zustand. Nicht, weil es an erfolgreichen Läufern mangeln würde oder grundlegend neue Technologien eingeführt worden wären. Sondern weil sich der Sport im Widerspruch befindet. Weil er sich neu zu erfinden versucht und sich gleichzeitig nach der guten alten Zeit sehnt. Wohin die Reise geht, ist offen.

Sieger haben ausgesorgt

Dieses Wochenende finden in Moskau die Eisschnelllauf-Weltmeisterschaften im Mehrkampf statt. Eine Annäherung an diese in der Schweiz eher exotische Sportart sollte aber nicht in Russland beginnen, sondern in Holland, wo ihr kulturhistorisches Zentrum liegt. Noch besser in Friesland, wo das traditionsreichste Eisschnelllauf-Rennen der Welt stattfindet, die «Elfstedentocht». Ein Wettkampf über 200 Kilometer zugefrorene Grachten und durch elf Städte – ist denn das Eis überall dick genug. Das war 1909 erstmals und 1997 zum fünfzehnten und letzten Mal der Fall.

Die Strahlkraft der «Elfstedentocht» in Holland ist enorm. Wer diese Tortur auf Natureis gewinnt, der wird zur nationalen Ikone und hat fürs Leben ausgesorgt. Mit dem modernen Eisschnelllaufen auf 400-Meter-Bahnen hatte das für lange Zeit allerdings wenig zu tun – mit der internationalen Sportart also, die seit 1924 an Olympischen Winterspielen ausgetragen wird. Doch das scheint sich nun grundlegend zu ändern.

Wer Geld hat, läuft auf Kunsteis

An den Spielen 1960 in Innsbruck zogen die Eisschnellläufer erstmals auf künstlich gefrorenem Wasser ihre Bahnen. Schon bald wurde Kunsteis zum weltweiten Standard, und die Eishallen wurden mehrheitlich überdacht. Schliesslich gehören zum modernen Sport gleiche Voraussetzungen für alle. Das war mit ein Grund, weshalb sich in Holland zwei unterschiedliche Kulturen des Eislaufens herausbildeten.

Vereinfacht gesagt: Wer sich auf Kunsteis und die olympischen Distanzen konzentriert, der kommt für gewöhnlich aus der Stadt und hat Geld. Er entscheidet sich für das Duell gegen Kontrahent und Zeit – für die «noble» Version des Sports. Das ist wie Leichtathletik auf Eis: Kraft und Koordination sind Trumpf.

Auf Kunsteis-Wettkämpfe über 150 oder 250 Runden und auf Rennen auf Natureis dagegen richtet sich die ­Jugend vom Land. Der Vergleich mit dem Radsport drängt sich hier auf: Es wird im Feld gestartet, Ausdauer und Instinkt sind die wichtigsten ­Qua­li­täten. Im Grunde ist es unmöglich, in beiden Welten zu brillieren. Entweder bildet einen das jahrelange Training zum Filigrantechniker aus oder zum grobmotorischen Ausdauerathleten.

Wenigstens war das lange Zeit so. Bis Jorrit Bergsma begann, ein Augenmerk auf die olympische Disziplin zu legen. Der 26-Jährige – ein Natureisspezialist durch und durch – hatte zuvor Rennen über 200 Kilometer auf dem zugefrorenen Weissensee in Österreich gewonnen und letzte Woche zum zweiten Mal die holländischen Meisterschaften über 100 Kilometer Natureis. Der Friese wird als Topfavorit gehandelt, sollte die «Elfstedentocht» in den nächsten zehn Jahren je wieder stattfinden.

Unvorstellbares geschieht

Aber die internationale Anerkennung lockt ihn eben auch. Diese Saison lief er sich ins Rampenlicht der Weltbühne: In Tscheljabinsk und Heerenveen fuhr der gelernte Velomechaniker seine ersten Weltcup-Siege über fünf und zehn Kilometer heraus – vor dem gleichaltrigen Olympiasieger und mehrfachen Europa- und Weltmeister Sven Kramer, der unweit von ihm wohnt.

Das ist in etwa so, wie wenn hierzulande ein Tourenski-Fahrer aus dem Nichts die nächste Lauberhorn-Abfahrt gewänne. Eigentlich unvorstellbar. Und Jorrit Bergsma ist keine Ausnahmeerscheinung: Das Team seines Trainers Jillert Anema will insgesamt vier Natureisläufer nach Sotschi 2014 bringen. Es ist auf bestem Wege dazu. Mit Jorrit Bergsma als Favoriten auf Olympia-Gold.

Jorrit Bergsma ist der lebende Beweis, dass es die dicken Oberschenkel eines Sven Kramer nicht braucht, um im Eisschnelllaufen erfolgreich zu sein. Die seien eben Symbol der alten Schule, raunt man sich in Holland schon hinter vorgehaltener Hand zu. Jorrit Bergsmas Beine sind ebenfalls muskulös, sicher. Aber lange nicht so aufgeblasen. Einen Kraftraum hat er kaum je von innen gesehen. Neben unzähligen Stunden auf dem Eis sitzt er vor allem auf dem Rennrad.

Als einen seiner grössten zukünftigen Kontrahenten fürchtet Jorrit Bergsma den Belgier Bart Swings. Auch der 21-Jährige ist neu im Sport: Letztes Jahr hat das momentan grösste Talent aus dem Inline-Sport den Wechsel aufs Eis gewagt. In seiner erst zweiten Wintersaison erlief der vierfache Inline-Weltmeister im Januar an den Mehrkampf-Europameisterschaften in Budapest den zehnten Platz.

Fast schon klapprige Beine

Eine grosse Zukunft wird ihm vorausgesagt. Erstaunlicherweise schaut auch der Belgier überhaupt nicht wie ein typischer Eisschnellläufer aus. Schmächtig ist er, fast klapprig wirken seine Beine. Wartet Bart Swings auf den Startschuss, dann wirkt das fast so, als stünde Skispringer Simon Ammann im Starthaus der Hahnenkamm-Abfahrt.

Der Transfer von Inline-Skatern aufs Eis hat mittlerweile Tradition. Denn auch die Athleten auf Rollen dürsten nach olympischen Weihen, die ihnen in ihrer eigenen Sportart nicht vergönnt sind: Vorbilder sind die US-Amerikaner Derek Parra und Chad ­Hedrick, die sich 2002 respektive vier Jahre später zu Olympioniken krönten.

Es waren auch Ex-Inline-Skater, die frischen Sauerstoff ins Eisschnelllaufen pumpten und die International Skating Union (ISU) aus ihrem langen Winterschlaf weckten: Seit den Spielen 2006 ist die Team-Verfolgung Teil des olympischen Programms. Zuvor hatte sich an Distanzen, Rennformen und -regeln während rund hundert Jahren so gut wie nichts geändert.

Immerhin wurde der Sport hin und wieder durch eine technologische Revolution aus seiner eigentümlichen Starre gelöst. Durch den anfangs belächelten hautengen Einteiler, mit dem der Schweizer Franz Krienbühl ab 1974 seine Runden drehte. Oder die Klappschlittschuhe, die in den Neunzigerjahren die Rekorde purzeln liessen.

Aber sonst machte man es sich behaglich. Wieso auch etwas ändern? Die Zuschauerzahlen stimmten, der Nachwuchs strömte nach. Aber das ist Vergangenheit. Der Sport hat an Popularität eingebüsst und muss sich neu erfinden, will er nicht früher oder später aus dem olympischen Programm gestrichen werden.

Auf der Suche geht einiges schief

Das Eisschnelllaufen ist ein Sport auf Sinnsuche. Bart Swings und Jorrit Bergsma sind Figuren, die die gegenteiligen auf ihn einwirkenden Kräfte repräsentieren: Der Natureis-Spezialist Jorrit Bergsma steht für Tradition und Geschichte, der Inline-Skater Bart Swings für Erneuerung und Zukunft. Beide aber könnten sie den Sport der Gegenwart verändern. Welcher Weg die Disziplin zurück in die Belangstellung führen wird, ist ungewiss.

Auf der Suche nach dem wahren Kern des Eisschnelllaufens geht auch mal etwas schief. Das zeigte sich vergangenen Winter, als die ISU aus dem Nichts eine Regel einführte, die jeden Läufer ausschloss, der die Bahnbegrenzung überfuhr. Schon bald hagelte es Disqualifikationen – die Bahn ist auch sehr schmal. Nach einer Saison wurde die «Bibber-Regel», wie sie bald genannt worden war, wieder abgeschafft.

In Holland selbst steht die Zukunft des Nationalsports wie selten zuvor zur Debatte. Die Wettkämpfe auf Kunsteis seien klinisch, langweilig und vorhersehbar, meinte der dreifache Olympiasieger Ard Schenk kürzlich in der Zeitung «De Telegraaf».

Zurück zur Natur

Dabei hat die ISU in den letzten Jahren vieles versucht, um den Sport attraktiver zu machen: Sie führte den 100-Meter-Sprint an den Weltcups ein, verwarf die Idee aber wieder, um wenig später ein neues Experiment zu wagen: Seit dieser Saison gibt es Weltcup-Punkte im Massenstart zu verdienen. Die Kritiker sagen, dass der Sport damit noch lange nicht sexy genug sei. Einige fordern gar fixe Kameras in den Umkleidekabinen.

Aber Ard Schenk ist gar kein Fürsprecher einer weiteren Modernisierung des Sports, im Gegenteil. Angetan vom Einfluss, den Wind und Schneefall auf den Ausgang der Mehrkampf-Europameisterschaften in Budapests Innenstadt hatte, fordert er: Zurück zur Natur! Mehr Aussenbahnen und mehr Kampf mit den Elementen.

Er dürfte sich wie der Rest der Nation gefreut haben, als letzte Woche alles nach einer 16. «Elfstedentocht» aussah – zum ersten Mal seit 15 Jahren. Doch das Eis war nicht dick genug. Jorrit Bergsma verzichtete trotzdem auf einen Weltcup-Start in Hamar. Er blieb zu Hause und fuhr einige Natureis-Klassiker im eigenen Land. Während der Holländer das Rennen «Dwars door Akkrum» gewann, lief Bart Swings in Norwegen auf Kunsteis. Und erreichte mit Platz acht sein bislang bestes Weltcup-Resultat über fünf Kilometer.

Quellen

Die WM-Läufe vom Sonntag werden auf Wiziwig.tv gestreamt.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 17.02.12

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