Was Roger Federer ausgelöst hat, wäre mit Euphorie untertrieben ausgedrückt. Grösser war die Federer-Mania wohl noch nie, der Athlet selbst war aber noch nie irdischer. Am Morgen danach vergewisserte er sich erstmal, dass der Sieg kein Traum war.
Die Nacht war kurz, es gab sie eigentlich gar nicht. Die Beine waren schwer, der Rücken schmerzte. Aber all jene, die Roger Federer am Montag in Melbourne begegneten, bei dem üblichen offiziellen Pokalfoto des Turnierchampions, sahen dem relaxten Maestro die schönen, erfolgreichen Strapazen nicht wirklich an.
«Eine Stunde habe ich geschlafen. Und als ich wieder munter war, habe ich nochmal gedacht: Ja, es stimmt. Es war kein Traum», sagte Federer mit einem zufriedenen Lächeln, der Mann, der in den Stunden nach dem Sensationscoup «am liebsten die ganze Welt umarmt hätte». Und der seinerseits schon von der ganzen Welt umarmt wurde, er, der universellste, beliebteste und prägendste Sportler dieser Zeit.
Er habe sie selbst auch «schon ein wenig mitbekommen», die grosse Freude und Euphorie über seinen Sieg, sagte Federer, «aber mich hat natürlich am meisten glücklich gemacht, wie meine Familie und meine engsten Freunde gefeiert haben.»
Und es stimmt ja: Keiner war mehr als Federer selbst davon überzeugt, dass noch einmal ein Titellauf wie der von Melbourne möglich sei – selbst dann noch, als in den letzten Jahren immer mal wieder körperliche Wehwehchen auftraten und zuletzt gar eine halbjährige Auszeit erforderlich war. «Roger hat immer die Vorstellung gehabt: Ich kann noch einen Grand Slam gewinnen», sagt der langjährige Weggefährte, Trainer Severin Lüthi, «sonst würde er diese Arbeit nicht mehr machen. Diese langen Trainingstage, dieses Come-back zuletzt.»
Federer wurde in den frühen Jahren seiner Laufbahn gern auch als Glückskind beschrieben, dem kraft seiner Talente vieles ganz automatisch zufalle, es war eine Zeit, in der viele, auch in seiner Schweizer Heimat, Titel und Trophäen mit einer gleichmütigen Selbstverständlichkeit registrierten. Diese Wahrnehmung veränderte sich jenseits seines 30. Geburtstages, als Federer zwar noch einmal auf dem geliebten Grün von Wimbledon triumphierte, danach aber wie der unermüdliche Sisyphos der Tenniswelt den früheren Triumphen, den Pokalschätzen nachjagte. Und ein ums andere Mal scheiterte.
Die hymnische Verehrung, die nun die Begleitmusik seines Melbourne-Coups ist, hat ursächlich damit zu tun: Federer war noch nie so wenig Tennis-Gott wie jetzt. Und noch nie so sehr Mensch, Kämpfer, Arbeiter, Identifikationsfigur wie jetzt. So erlebte er, was auch schon andere ganz Grosse des Sports erlebten: Im Moment der Verletztlichkeit, abseits der scheinbar abonnierten Erfolgsmomente, wurde die Liebe und Zuneigung am intensivsten.
«Es kommt mir alles wie ein Märchen vor», sagt Federer auch noch am Tag nach dem Sieg über Nadal. Dass er ihn, den alten Freund und Weggefährten, besiegte, war im Übrigen die perfekte Addition – denn Federer weiss nur zu gut, wie sehr sie beide sich gegenseitig anstachelten zu bedeutenden Siegen, jeder der Bessermacher des anderen.
Und wie geht es nun weiter mit diesem überlebensgrossen Regisseur und Hauptdarsteller des Melbourne-Wunderfilms? Es hätte, auf den ersten Blick, kaum einen idealeren Moment zum sofortigen Rücktritt gegeben als diesen 28. Januar in Melbourne. Der späte Doch-Noch-Sieg, der Sieg gegen Nadal, diese dramatische Comebackgeschichte. Aber Federer hätte auch vor viereinhalb Jahren schon gehen können, nach dem Wimbledonsieg gegen Murray, auch damals war es schon ein Erfolg wider die Erwartung der Fachwelt.
Was er danach sagte, in den nicht mehr so glorreichen Jahren, war bemerkenswert und zugleich selbstverständlich für Federer: «Ich verliere jetzt öfter. Aber das stört mich nicht. Denn ich liebe diesen Sport immer noch, mit jeder Faser meines Körpers.» Es störte ihn schlichtweg nicht, dass andere Sätze wie eine Monstranz vor sich her trugen, Sätze wie den, dass der oft titellose Federer sein Image als Champion der Champions beschädige.
Federer ist endgültig zum Phänomen geworden. Aber es handelt sich bei ihm um jemanden, der nie die irdische Schwerkraft verlassen hat, der über den Dingen geschwebt wäre. Auch deshalb gehören seine eigenen Kollegen zu den grössten Laudatoren.
Keinem haben die Kollegen den Sieg so gegönnt wie ihm, einem Mann, der nicht als eiskalter Egoist das Gesicht des Tennis war, kein unnahbarer Star. Sondern einer aus Fleisch und Blut, der ihnen Tipps und Ratschläge für die Karriere gab, sie zu Trainingsstunden einlud, der junge Spieler förderte und forderte. Seine Sympathiewerte sind keine Magie, kein Zufall, sondern die Folge, wofür der Mensch und Sportler Federer stand – und steht.
Federer wird sich erst einmal ausruhen nach dem Parforceritt von Melbourne, dem Grand Slam-Titel Nummer 18 in seiner Laufbahn. 13,5 Jahre nach seinem ersten Major-Triumph hat er diese verblüffende Nummer hingelegt, diesen emotional hoch aufgeladenen, den bedeutendsten Sieg überhaupt. «Es wird eine Zeit dauern, bis ich das alles richtig begriffen habe», sagte Federer. Auch damit ist er nicht allein.
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Wer noch nicht genug hat von Roger Federer, dem empfehlen wir dieses Stück: Roger Federers Glücksmomente – die Bilder aus Melbourne