Die Tabellenspitze, die musste Real Madrid nicht abgeben. Doch das 0:4 im Madrider Derby beim Rivalen Atlético lässt die Temperaturen bei den Königlichen auf den Gefrierpunkt sinken.
Der Spiritus Rector von Atléetico. «Es ist alles genauso gekommen, wie er vorhergesagt hat», sagte Mittelfeldmann Tiago über seinen Trainer Diego Simeone.
Solche Tage schreiben Geschichten wie die von Saúl Ñíguez, 20 Jahre alt, Nachwuchsprofi aus der eigenen Jugend, Ersatzmann. Im Winter wollte er den Club verlassen, hiess es. Eine Woche nach Ablauf der Transferperiode wurde er in der 10. Minute für den verletzten Koke eingewechselt und in der 70. Minute ausgewechselt, selbst verletzt.
Aber zwischendrin, da hob Saúl ab: mit dem Rücken zum Tor schraubte er sich in die Luft, traf den Ball und lenkte ihn per Fallrückzieher an den Innenpfosten. Da sangen sie seinen Namen, 54’000 im Estadio Vicente Calderón. Es war ein Tor, wie es schöner nicht geht und wie es sich ein Junge, der bei Atlético Madrid aufwuchs, nicht besser erträumen kann, denn es ging an den Stadtrivalen Real und war der Höhepunkt einer historischen Demütigung.
Ob er sich so etwas hätte vorstellen können, wurde Atléticos Trainer und Spiritus Rector, Diego Simeone, später gefragt. Ob er jemals gedacht hätte, dass seine Elf mit 4:0 gegen Real Madrid führen würde und der Gegner in der Nachspielzeit bloss den Ball hinten raus schlägt, damit er nicht das 5:0 kassiert? «Manche Dinge stellt man sich nicht vor», antwortete Simeone. «Sie passieren.»
Während er sprach, konnte man von draussen das Hupkonzert der Fans hören. So einen Tag hätten sie sich nicht erträumen können. Trotz der jüngsten Erfolge, der Meisterschaft vorige Saison und der evidenten Sachlage, dem grossen Nachbarn unter die Haut gekrochen zu sein: Von fünf Derbys in Liga, Pokal und Supercup hatte Atlético in dieser Spielzeit kein einziges verloren. Atlético hatte allerdings auch seit 17 Jahren kein Ligaheimspiel mehr gegen Real gewonnen.
Atlético holte alles nach: die Tore, den Spott, das Gefühl, besser zu sein
In anderthalb Stunden holte es nun alles nach. Die Tore: Ausser Saúls Delikatesse zum 2:0 in der 19. Minute noch das von Real-Torwart Iker Casillas begünstigte 1:0 durch Tiagos Schuss (14.), das 3:0 durch Antoine Griezmann (67.) und das 4:0 durch Mario Mandzukic (89.). Den Spott: «Iker, Iker, Iker» verhöhnten die Anhänger den Keeper, der ihnen in den 17 Jahren mit seinen Paraden so viele Hoffnungen zerstört hatte – wenn sie nicht gerade damit beschäftigt waren, sich über das nächste verunglückte Ballerlebnis eines völlig indisponierten Cristiano Ronaldo zu amüsieren. Aber vor allem war da: das Gefühl, besser zu sein. Denn das war vielleicht das Erstaunlichste an diesem bitterkalten Winternachmittag: Atlético spielte den weitaus besseren Fussball.
Zum vorläufigen Ende des Derbyreigens – im Falle eines möglichen Champions-League–Duells könne Real die Spiele gleich am Telefon abgeben, lästerte «Marca» – implodierte damit auch dessen Standardnarrativ. Jenes, dass der kleine Nachbar den engelsgleichen Fussball von Real nur mit einer Mischung aus Sekundärtugenden wie Kampf, Disziplin, Glück und Härte annullieren kann. Mit den Mitteln des Underdogs.
Nach den drei Pleiten und zwei Remis im bisherigen Saisonverlauf hatten sich die Real-Profis dieser Geschichte vom hässlich und bisweilen dreckig spielenden Atlético gern bedient, die auch in den Medien immer wieder befeuert wurde. Doch diesmal wären sie für solche Ausreden selbst im vereinseigenen TV-Kanal ausgelacht worden.
Ein angefressener Cristiano Ronaldo in der Garage
«Gegen keine Mannschaft der Welt darf Real Madrid mit 0:4 verlieren», sagte Cristiano Ronaldo im Garagenbereich, während ihn vom Treppengeländer ein paar Real-Fans lautstark aufforderten, demnächst gefälligst mehr «Eier» in sein Spielrezept zu mischen.
Der dreifache Weltfussballer hatte auf dem Platz gewirkt, als würde er von einem Anfänger auf der Playstation gesteuert: ungelenk, ziellos. Er wurde verhöhnt von Atlético-Torwart Moyá, der nach einem seiner Schüsschen betont angestrengt in die Ecke hechtete.
Doch bevor er auf die Fiesta seines 30. Geburtstags entschwand, zeigte er wenigstens wieder die in letzter Zeit öfters zu beobachtende Neigung Klartext zu sprechen – nicht nur, als er einen Fragesteller anfauchte, der sich noch mal nach einem Detail seines Platzverweises vor zwei Wochen in Córdoba erkundigte («Du bist kein intelligenter Journalist!»), sondern auch in seiner Analyse des jüngsten Schiffbruchs: «Die Mannschaft ist nicht frisch, weder körperlich noch geistig. Wir haben einen sehr schweren Fehler begangen – und es an der Einstellung fehlen lassen.»
Der Trainer nimmt die Schuld auf sich
Derjenige, der für die Mentalität federführend zuständig ist, nahm die Schuld auf sich: Carlo Ancelotti erschien mit einer Leichenblässe zur Pressekonferenz, die nicht nur durch die Minustemperaturen in Madrid zu erklären war. Der Trainer geizte nicht mit Superlativen: «die schlechteste Partie, seit ich hier bin» hatte er gesehen: «Was soll ich noch mehr sagen?»
Zum Beispiel das: «Alles hat versagt, wir waren gar nicht da, kein einziger Spieler hat gut gespielt». Geradezu «anormal» sei vor allem die «Lustlosigkeit» gewesen, jeder solle seine Verantwortung überdenken, «der Trainer als erster. Ich werde jetzt aber keinen Lärm veranstalten, was es braucht, ist ein kühler Kopf». Mit dem hat er schon so manches Puzzle gelöst, in seiner anderthalbjährigen Amtszeit.
So schwer wie diesmal war es allerdings selten. Das Debakel im Calderón war ja nur die Kulmination eines rasanten Abwärtstrends, der sein vor Weihnachten noch federleichtes Ensemble im neuen Jahr erfasst hat. Plötzlich muss jeder Sieg hart erstritten und teuer bezahlt werden wie zuletzt am Mittwoch gegen Sevilla mit den Verletzungen von Sergio Ramos (mindestens einen Monat Pause) und James Rodríguez (mindestens zwei Monate).
«Man merkte die Abwesenden – aber genauso negativ die Anwesenden»
Dazu fehlten bei Real der seit Monaten unpässliche Luka Modric (Rückkehr wohl Ende März), der ebenfalls malade Pepe sowie der gelbgesperrte Marcelo. Fünf Stammspieler, darunter mit Ramos, Pepe und Marcelo nicht nur drei Viertel der Abwehrreihe, sondern auch die Aggressiv-Leader.
Als Entschuldigung wollte das aber niemand gelten lassen, denn es war es ja schon so, wie die Sportzeitung «As» schrieb: «Man merkte die Abwesenden, aber genauso negativ die Anwesenden.»
Bei Atlético, dem Finalisten der letztjährigen Champions League, kann festgestellt werden: Seine defensiven Grundtugenden hat das Team grösstenteils gewahrt. Aber durch das Zusammenspiel von Arda Turan, sowie Neuzugang Griezmann hat es an Spielkultur und durch Edelreservisten wie Fernando Torres an Varianten gewonnen.
Simeone steuert die Spieler wie Marionetten
Dazu kommt mit Simeone ein Trainer, der die Spieler, eigene und gegnerische, wie Marionetten steuert. Real Madrid jedenfalls bietet für ihn keine Geheimnisse mehr. «Es ist alles genauso gekommen, wie er vorhergesagt hat», verriet Mittelfeldmann Tiago. Wegen der überlegenen körperlichen Verfassung seiner Elf und Reals Personalengpässen traute er sich diesmal sogar das Spiel zu machen. «Diese Partie erforderte Kombinationsfussball», erklärte er.
Die Fans feierten ihn mit Olé-Rufen und standen immer noch selig vor dem Stadion, als Toni Kroos aus der Dusche kam. Der Deutsche war noch der engagierterste Madrilene gewesen, und auch jetzt gab er sich furchtlos, jedenfalls modisch: im rosa Klub-T-Shirt schritt er hinaus in den Frost des Abends, und den, der da noch kommen mag.