Am Samstag um 11.00 Uhr fahren die Männer in Schladming in der alpinen Königsdisziplin um die Krone des Abfahrts-Weltmeisters. Von den Schweizern ist keine Rede – höchstens als Sorgenkinder. Ex-Weltmeister und TV-Kommentator Bernhard Russi äussert im Interview seine schonungslose Analyse dazu und hat auch ein paar gute Vorschläge parat. Den Österreicher Toni Giger als Trainer zum Beispiel.
Bernhard Russi hat in seinem Leben schon viele Abfahrtspisten entworfen. Die Planai in Schladming trägt nicht seine Handschrift. «Der Berg ist nicht der idealste für eine Abfahrt», sagt der 63-Jährige vor dem Höhepunkt der Männerwettbewerbe an der Ski-WM. «Da muss man mit der Kurssetzung nachhelfen. Aber das haben sie hier gut gemacht. Es ist anspruchsvoller geworden, was der Strecke gut tut.»
Silvan Zurbriggen war mit 73 Hundertstel Rückstand auf den Überraschungsmann Brice Roger (Fr) Elfter, damit schnellster Schweizer im zweiten, von Ärger überlagerten Training zur Abfahrt und qualifizierte sich somit für das Rennen am Samstag. Mit Startnummer 12 geht Didier Défago ins Rennen, für das leichter Schneefall vorhergesagt ist, und nach den Favoriten folgen mit 24 und 25 folgen Carlo Janka und Patrick Küng sowie Zurbriggen mit der Nummer 27.
Die Startliste
Herr Russi, welcher Typ Abfahrer ist auf der Planai gefragt?
Man sollte schon auf der Gleiterseite sein, weil eineinhalb Minuten geht das so dahin. Aber das alleine reicht nicht. Die vielen Übergänge erfordern ein gewisses Feingefühl beim Fahren. Aber der Schwere, der Grosse, der hat hier sicher Vorteile. So ein Paris, ein Kröll oder auch ein Svindal.
Das sind die üblichen Verdächtigen: Kann es hier keinen Überraschungsweltmeister geben?
Es kann passieren, wäre ja auch nicht das erste Mal bei einem Grossereignis. Ich habe es mir ausgerechnet: Bei den letzten 20 Titelkämpfen waren 30 Prozent der Weltmeister eigentlich Überraschungsweltmeister. Zwilling, Tauscher, Lehmann, Kucera, Russi. Ich war 1970 ja auch klarer Aussenseiter. Ich bin sogar der Meinung, dass es in Zukunft in der Abfahrt sogar öfter sogenannte Überraschungen geben wird.
«Selbst die Nummer 34 kann Bestzeit fahren. Auch die Schweizer.»
Wie kommen Sie darauf?
Wir haben ein kleines Paket von Topfavoriten, aber daneben gibt es auch noch zwei Dutzend theoretische Medaillengewinner. Die Abfahrt ist eine heikle Disziplin: Eine Wolke weg, die Sonne kommt raus, und das macht gleich eineinhalb, zwei Sekunden aus. Da kann dann auch die Nummer 34 Bestzeit fahren.
Können das auch die Schweizer?
Ich glaube schon. Sicher, sie fahren nicht auf einem hohen Niveau in dieser Saison. Vor allem was die Technik betrifft. Aber so eine Fahrt kann passieren, und solche Sachen können auf einmal den Knopf lösen.
Wie wichtig war denn für das Schweizer Team die Silbermedaille von Lara Gut?
Ganz ehrlich: Ich glaube das Männer-Team ist im Eimer. Da nützt dann auch eine Medaille von den Frauen nichts. Was können sich die Männer davon kaufen? Nichts. Und dann reden wir im Skifahren ja von einer Einzelsport. Und das Frauen-Team war den ganzen Winter über erfolgreich.
«Man hat im Schweizer Team die Hausaufgaben nicht gemacht.»
Warum stecken die Schweizer Männer im Kollektiv in der Krise?
Ganz einfach: Man ist den falschen Weg gegangen. Man hat die Hausaufgaben nicht gemacht. Vor allem in der Detailarbeit.
Was meinen Sie konkret?
Ich versuche es einfach zu erklären: Beim alten Ski hat man vom Steuern geredet, da hat der Läufer den Ski gesteuert und das hat auch in Notsituationen noch funktioniert. Das geht mittlerweile mit dem neuen Material nicht mehr: Heute muss der Läufer erst auslösen und dann steuern. Das sind die zwei grundlegenden Sachen. Und wenn das Auslösen nicht sauber gemacht wird, dann kommen Fehler hinzu. Das hat man einfach zu wenig geübt im Feintuning, und dann funktioniert es bei Tempo 120 sowieso nicht.
Orten Sie noch ein Problem?
Ich finde überhaupt, dass man sich zu sehr auf das Material konzentriert hat. Mir kommt vor, dass es irgendwie heisst: ‚Die Ski kommen nicht mehr so schnell, die reagieren nicht so gut, also muss ich einen anderen Ski probieren.‘ Anstatt dass man sagt: ‚Das ist ein Krüpelski, der kann zwar nichts, aber ich bin ein guter Skifahrer und ich zeige dem, wie es funktioniert.‘
Als den Ski zähmen?
Genau. Wie ein Pferd, das nicht weiss, wie man springt. Da kann man ja dann auch nicht gleich das ganze Pferd austauschen.
Sehen Sie Licht am Ende des Tunnels?
Natürlich geht diese Negativspirale nach unten, die kannst du jetzt auch nicht mehr stoppen mitten in der Saison. Was jetzt geschehen ist, das hat mit dem Können auch nichts mehr zu tun, das ist längst auch eine Kopfsache. So schlecht sind sie auch wieder nicht.
«Die Slalomfahrer nehme ich aus. Die können es nur noch nicht so schnell.»
Was stimmt Sie positiv?
Ich würde zum Beispiel die Slalomfahrer von der Männerkrise ausnehmen. Das sind die einzigen, die von der Fahrweise her mit den Besten mithalten können. Die beherrschen die Bewegungen, die notwendig sind, um schnell zu sein. Wie ein Hirscher, natürlich auf einer anderen Ebene. Aber die Grundbewegung stimmt. Obwohl auch da die Ergebnisse nicht stimmen: Ich sage: Die können Slalom fahren, die können’s nur noch nicht so schnell.
Sind denn Personal-Rochaden notwendig?
Ich will jetzt gar nicht über Namen reden, aber ich glaube, dass die ganze Mannschaftsleitung inklusive Trainer durchmischt werden muss. Es braucht andere Positionen, andere Funktionen.
Braucht es auch Know-how aus dem Ausland?
Ausland, Nicht-Ausland. Ich hätte am liebsten den Besten. Nur der ist leider nicht mehr im Gespräch.
«Ich kann’s nicht. Ich bin kein Trainer. Der beste Mann auf dem Markt ist Toni Giger.»
Wer wäre das denn?
Der beste Mann auf dem Markt, um so eine Aufgabe zu übernehmen, ist der Toni Giger. Der bringt enormes Know-how mit. Der hat seine Stacheln abgekratzt, hatte einen riesigen Push und jetzt hat er sich in seiner neuen Funktion beim ÖSV beruhigen können. Ich glaube, Giger wäre heute noch besser als vorher. Aber das muss man akzeptieren, dass er es nicht wird.
Ein Dauerpatient ist Carlo Janka, was ist mit ihm los?
Er hat wieder ein Zwischenjahr, das zweite hintereinander. Ich halte ihn nachwievor für einen grossartigen Athleten. Da bin ich auch sehr zuversichtlich, dass er wieder kommt. Was der braucht, ist eine harte Hand. Der bräuchte einen Vater Hirscher zum Beispiel, der ihn einmal aus dem Weltcup heraus nimmt und sagt: ‚Komm, jetzt gehen wir Skischule machen.‘
Warum machen Sie es nicht?
Ganz einfach: Ich kann’s nicht, ich bin kein Trainer.
Die 3,282 Kilometer lange WM-Abfahrtsstrecke der Männer auf der Planai: Start auf 1753 Metern (Ziel: 777), Höhendifferenz: 976 Meter, maximale Neigung: 72 Prozent.
(Bild: schladming2013.at)