Das meisterhafte Gelsenkirchen

Gelsenkirchen, Heimat des FC Schalke 04, hat ein Image nahe dem Nichts. Dabei ist die Stadt mitten im Ruhrpott eine Gemeinde voller Superlative – mit Meistern überall.

Freies Projekt, v.l.n.r Portrait Semy Harrathi (28), Brandmeister, Manfred Gajor (52), Oberbrandmeister, Frank Wiedenhˆfer (43), Hauptbrandmeister, Hardy Corbeck (43), Hauptbrandmeister, Feuerwache Gelsenkirchen Bulmke-H¸llen, Deutschland, Gelsenkirchen, (Bild: Andreas Teichmann)

Gelsenkirchen, Heimat des FC Schalke 04, hat ein Image nahe dem Nichts. Dabei ist die Stadt mitten im Ruhrpott eine Gemeinde voller Superlative – mit Meistern überall.

Seit 1958 läuft der FC Schalke 04, am Dienstag Gegner des FC Basel in der Champions League, manisch einem deutschen Meistertitel hinterher. Mehrfach scheiterte man knapp, 2001 sogar tragisch, als der Meistensmeister FC Bayern am letzten Spieltag durch ein Tor in der Nachspielzeit den Gelsenkirchenern den Triumph wegschnappte. Zehntausende hatten im alten Parkstadion schon ekstatisch gefeiert – und dann kollektiv geweint.

Und die Stadt hat ein Image tief im Grauen. Hohe Arbeitslosigkeit, kaum Attraktionen, Rekordverschuldung, die Bronx des Westens. Das Ruhrgebiet hat den Umschwung vom Kohlerevier in die technologische Neuzeit vielfach grossartig gewuppt – das gesichtslose Gelsenkirchen läuft hinterher. Eine Loserstadt? Von wegen!

Gelsenkirchener Barock – Eiche mundgebissen

Schon der Blick in die Geburtsregister zeigt Gelsenkirchen als einen durchaus bedeutenden Ort. Ohne Grünen-Urgestein Ludger Volmer und Filmemacher Heinrich Breloer wäre die Welt sicher ärmer. Andere gebürtige Gelsenkirchener wie die Fussballreporter Ulli Potofski und Jörg Dahlmann sind Geschmackssache, sicher aber prägt der Gelsenkirchener Barock (Volksmund «Eiche mundgebissen») die deutsche Alltagskultur.

Der einmalige Tierpark mit seinen Erlebniswelten Alaska, Afrika und Asien war 2009 in Deutschland «Zoo des Jahres» und ist wirklich eine Wucht. Gelsenkirchen ist Falschparkerparadies (kaum sonst wo gibt es weniger Knöllchen) und hat als einzige Stadt in Deutschland – wie wichtig für das Ruhrpott-Ego – laut Telefonbucheintrag zwei echte Horst Schimanskis.

In der Viertelmillionenstadt laufen viele Fäden des öffentlichen Lebens in Deutschland zusammen. Hier residieren die Bundesgeschäftsstellen der deutschen Heilpraktiker, der Tierphysiotherapeuten und der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands.

Das Einweckglas – eine Gelsenkirchener Erfindung

Lebensumspannend ist die Liaison der Floristen, die von Gelsenkirchen aus das Erblühen des Landes organisieren, und dem Bundesverband der deutschen Pathologen, der sich um korrektes Ableben kümmert. Kürzlich hat die deutsche Baugewerken-Innung einem Gelsenkirchener Bauunternehmen das seltene Qualitätssiegel «Meisterhaft. Fünf Sterne Betrieb» verliehen. Zudem ist Gelsenkirchen traditionellerweise auf der Pole im Taubenzüchtersport.

Und wenn Schalke seine Gegner mal richtig einkocht, hat auch das seinen Grund: Der Erfinder des Einweckglases, Rudolf Rempel, stammt aus Gelsenkirchen.

Mit Torwart Manuel Neuer (jetzt beim FC Bayern) und Mesut Özil (Arsenal) nahmen zwei gebürtige Gelsenkirchener und Ex-Schalker im DFB-Team an der Fussball-WM 2010 teil. Zwei Söhne der Stadt – das schaffte kein anderer deutscher Ort. Mit 95 Fussballvereinen, das ist einer pro 2600 Einwohner, schlägt Gelsenkirchen ganz Deutschland.

Jenseits des Fussballs sportelten sich schon viele Gelsenkirchener zu Meisterehren, zuletzt im Boxen Schwergewichts-Weltmeister der Junioren, Deutscher Meister im Computer-Fussball, im 200 Meter Sprint, im Dreisprung der Senioren, im Billard-Einband, im Kegeln für Blinde, Sektion Schere.

Und es gibt noch andere beeindruckende Meister. Wir stellen ein Gelsenkirchener Meister-Team in sechs Portraits vor.

 

ELSE LEMMES, 87, 19 Meisterschaften im Rettungsschwimmen

(Bild: Andreas Teichmann)

 Wie kann man mit 87 Jahren ein solches Energiebündel sein, vital, schlagfertig, redelustig? «Ich schwimme seit der Grundschule», sagt Else Lemmes, «und ziehe jeden Morgen von 7 bis 8 Uhr meine Bahnen.» Für die DLRG Gelsenkirchen-Mitte hat sie im Rettungsschwimmen 19 Senioren-Meistertitel im Einzel geholt und ein halbes Dutzend in der Vierer-Mannschaft Ü280. Zuletzt schaffte Lemmes 25 Meter mit der mit der Wasser gefüllten, einen Zentner schweren Puppe «Karl-Heinz» in 39 Sekunden. Jahr um Jahr überreicht ihr Gelsenkirchen die Goldene Stadtsportmünze.

Die gelernte Schwimmmeisterin war Gaumeisterin Westfalen über 200 Meter Brust und hätte 1952 beinah die Olympiateilnahme geschafft. Bei der Rettungsschwimmer-WM zuletzt in Ägypten ging sie nicht an den Start. Weil so Jungspunde um die 70 dabei sind. Gemeinerweise ist die älteste Altersklasse bei der WM nämlich Ü60. «Da ist die Konkurrenz doch zu hart.» Dafür ist sie national in der Klasse Ü85 mittlerweile ohne jeden Konkurrenten.

Mehrfach hat Lemmes wirklich Leben gerettet. «Einmal war ein kleiner Junge in einen Feuerwehrteich gefallen», erzählt sie, «ich sofort rein. Der wär verloren gewesen.» Später auf einer Ruhr-Brücke grosse Aufregung: «Da ist jemand untergegangen, riefen die Leute. Ich runtergetaucht, den hochgeholt und wiederbelebt. Und der lebt.»

Meisterfeier? Bei ihrem letzten Titelgewinn 2013 in Stuttgart wurde Else Lemmes mal wieder mit La Ola, Standing Ovations und Chorälen gefeiert. «Ach», sagt sie, «das ist doch alles nur Blödsinn, weil ich so alt bin. Aber wenn es Ansporn für die Jüngeren ist, nicht aufzuhören, dann ist es gut so.»

 

THILO PASCH, 45, und KATRIN GÜTH, 29, vielfache Bodybuilding-Meister

(Bild: Andreas Teichmann)

Thilo Pasch sieht sich auf den Fotos und sagt: «Boh, bin ich ne fette Sau!» Das wirkt verstörend angesichts seiner wohlgeformten Muskelberge. Aber Pasch hat Argumente: Momentan ist er im «Off»-Modus – 11 Kilo mehr als bei Wettkämpfen, 14 Prozent Körperfettanteil statt 4. Pasch ist dreifacher Weltmeister und sechs Mal Deutscher Meister gewesen, zuletzt Paar-Weltmeister mit seiner Lebenspartnerin, der Gymnastiklehrin Katrin Güth.

Meister werden muss eine wahre Qual sein: Ein halbes Jahr knallhartes Training, perfekt abgestimmte Ernährung und «vier Tage lang vor dem Wettkampf jeden Tag 14 Liter Wasser trinken, damit der Körper das Entwässern lernt und die letzten 24 Stunden gar nichts mehr.» Dann geht alle Flüssigkeit raus für den perfekten Muskelkörper. Meisterfeier? «Der schönste Titel war der gemeinsame WM-Titel mit der Lebenspartnerin. Da ist geteiltes Glück doppeltes Glück. Im Studio gab es für alle Mineraldrinks umsonst und für mich – kein Witz – nichts als Currywurst und Pommesmajo.» Das ist lukullischer Standard in Gelsenkirchen.

Die Vorurteile kennen beide zur Genüge. Anabolikafresser, Kunstkörper, Muckimonster – das, sagt Katrin Güth, seien «noch die netteren Begriffe». Niemals Chemie, beteuern beide. Figur-Bodybuilder wie sie seien ohnehin die Leichtgewichte unter den Muskelmenschen, «die ästhetische Klasse». Pasch sagt allen Ernstes: «Ich bin doch nur ein 90-Kilo-Wurm.» Als dreifacher Mr. Universe ist er der Nachfolger von Arnold Schwarzenegger, Sean Connery und Lex Barker, die den gleichen Titel holten.

Pasch ist Inhaber eines riesigen Fitness-Centers in Gelsenkirchen mit 5000 Quadratmetern, einer der grössten in Europa. Das Geschäft laufe ganz gut, sagt er: «Aber du musst in Gelsenkirchen immer am Puls vom Pott sein, nie Schickimicki.» Indes, ohne ganz banale Krankengymnastik auf Krankenschein käme der gelernte medizinische Bademeister und Physiotherapeut nicht über die Runden. Ist das nicht komisch, als Körperästhet grauselig verfettete Mitmenschen zu mobilisieren? Pasch lächelt: «Der Wunsch gesund zu werden ist bei den Menschen eben viel grösser als gesund zu bleiben.»

Und Schalke? «Hier im Fitness-Center must du jederzeit up to date sein und bereit zum Fachgespräch. Die Stadt ist so kaputt, ein Titel für Schalke würde ihr sooo gut tun.»

 

MAIK ECKHARDT, 42, Meister des Schiesssports

(Bild: Andreas Teichmann)

Luftgewehrsportler Maik Eckhardt, 39, kann seine Meistertitel für den BSV Buer-Bülse nicht mehr zählen. «Der erste war mit 14, mit der Bundesliga-Mannschaft waren es drei, aber im Einzel…?» Sicher ist: Der ehemalige Weltcupsieger war vier Mal bei Olympia und verpasste in Sydney die Bronzemedaille im Liegendschiessen um den Hauch von 0,5 Punkten.

Er schwämt von Schiesssport: «Präzision, Konzentration, Wiederholung – sich selbst so zu beherrschen, dass man 120 Schuss am Stück einen nach dem anderen genau ins Ziel bringt.» Geschossen wird aus zehn Metern auf ein Ziel von schlanken 0,5 Millimetern Durchmesser. 116 bis 117 muss man bei grossen Meisterschaften treffen, sonst hat man keine Titelchance.

Eckhardt hat sein Sporthobby zum Beruf gemacht: Seine Firma mec-shot stellt feinmechanische Komponenten für Hochpräzisionswaffen her. «Früher war ein Gewehr eine Holzplanke mit einem Stück Stahlrohr», sagt Eckhardt, «heute wird jedes Teil auf den Besitzer perfekt adaptiert, die Mechanik auf einen hunderstel Millimeter eingestellt». Für Laien wirken die grazilen Waffen wie Requisiten aus dem Science-Fiction-Film.

Der 1. Vorsitzende des BSV, Klaus Lindner, warnt: «Der Maik, dat iss ne Zecke». Soll heissen: Der lebt in der unaussprechlichen Stadt Dortmund, in Gelsenkirchen meist «Vorort von Lüdenscheid» genannt. Eckhardt leugnet sein Borussen-Herz nicht und war als Kind sogar «anerzogener Bayern-Fan». Aber Meister ist er für Gelsenkirchen geworden, «und heute geht es auf allen Ebenen immer gegen die Bayern».

Nicht nur im Fussball hier wie da sondern auch «in unserer Randsportart, weil im Süden die besten Vereine und Schützen leben». Soll denn Schalke mal wieder Meister werden? Die Antwort eines Dortmunders ist für das Sozialgefüge im Ruhrpott eine Sensation: «Ja, natürlich!»

 

HOLGER AUGUSTIN, 44, Friseurmeister und Kreishandwerksmeister

(Bild: Andreas Teichmann)

Als Holger Augustin 2005 zum Kreishandwerksmeister gewählt wurde, war er mit zarten 36 Jahren der jüngste in ganz Deutschland. Der Friseurmeister vertritt die Interessen der 1630 Gelsenkirchener Meisterbetriebe aus gut 60 Gewerken «politisch und gesellschaftlich», wie er sagt.

In seinem Ehrenamt geht es um Hilfe bei der Bekämpfung der Schwarzarbeit («Wir haben da schnelle Drähte zu den Behörden») und zum Beispiel um «kleinteilige Ausschreibungen», damit bei einem grösseren Neubauprojekt viele ortsansässige Firmen zu Aufträgen kommen. 20 Stunden die Woche gehen für den gebürtigen Gelsenkirchener drauf. Immerhin hat er einen Juristen als bezahlten Geschäftsführer.

Die Arbeit im eigenen, vom Grossvater 1922 gegründeten Salon im Stadtteil Feldmark liebt Augustin. «Das ist Leidenschaft und Lebensunterhalt, die Arbeit ist handwerklich anspruchsvoll, kreativ und abwechslungsreich.» Denn: «Jeder Kopf ist anders, inhaltlich und äusserlich».

Seine Frau und er bändigen den Haarwuchs «konventionell mit Solidität, nicht ausgeflippt wie andere, auch wenn wir jeden Schnitt können». Ist Feldmark Arbeiterviertel? «In Gelsenkirchen gibt es bis auf wenige Strassen nur Arbeiterviertel.»

 

Die vier BRANDMEISTER von Wache 1

(Bild: Andreas Teichmann)

Man kann in Gelsenkirchen, zudem mit Zigarette im Mund, unangemeldet bei der Feuerwehr Wache 1 anklopfen, binnen einer halben Minute sein Begehr vortragen («Wir brauchen einen Brandmeister») und Hauptbrandmeister Hardy Corbeck, 46, wird sagen: «Kommen Sie rein. Meister-Elf? Wie viele hätten Sie denn gerne? Wir tun doch alles für die Bürger.»

Dann erzählt er vom Alltag der 230 städtischen Männer und Frauen der Berufsfeuerwehr. «Wir machen alles, wir helfen jedem.» Nur jeder vierte Einsatz hat mit Feuer zu tun, ansonsten retten, schützen und immer wieder Wasserschäden. «Manchmal kriegen die Leute den Hahn nicht zu und rufen in Panik an. Viel mehr als früher. Keine Ahnung warum.» Aber egal, bei Alarm wird ausgerückt, und wie gesagt: «Wir tun doch alles für die Bürger.»

Corbeck, kein Zweifel, liebt seinen Job. «Jeder Einsatz ist anders, immer spannend und hoch interessant». Ein Kollege ruft dazwischen: «Aber nur bei Erfolg.» Corbeck weiss das, er ist in der Taucherstaffel: «Da rettest du nicht oft, weil zwischen Ereignis, Alarmierung und Eintreffen meist zu viel Zeit liegt. Wenn man mit 60 fertig ist, kannst du dich an alle Toten einzeln erinnern. Da bin ich sicher. Das bleibt im Kopf.»

Brandmeister zu werden sei wahrlich nicht leicht: «Man muss eine richtig gute Allgemeinbildung haben in allen Bereichen und körperlich topfit sein. Das passt bei vielen nicht zusammen.»

Die grösste Heldentat? «Held? Wenn ich das sagen würde, wäre ich es nicht mehr.» Immerhin halten alle heldenhaft einen Dortmund-Fan in ihren Reihen aus. Der frotzelt: «Jungs, ich hab schon Meisterschaften miterlebt.» Dann schweigen von links nach rechts die spätgeborenen Schalke-Freunde Brandmeister Semy Harrathi, Oberbrandmeister Manfred Gajor, Hauptbrandmeister Frank Wiedenhöfer und Corbeck.

 

Familie MEISTER, Imbissbudenbesitzer und Meistermacher

(Bild: Andreas Teichmann)

Gelsenkirchen kennt sogar Doppelmeister wie den Fleischermeister Norbert Baumeister («der-partymeister.de») oder KfZ-Meister Frank Meister. Unter den zwei Dutzend Gelsenkirchnern mit Namen Meister stechen Marion, 48, und Dieter, 56, hervor. Sie führen die Imbissbude «Meister´s Heisse Kiste».

Die steht quasi im Vorgarten des eigenen Hauses, gegenüber dem früheren Thyssen-Stahlwerk Schalker Verein. Spezialitäten: Eintöpfe, Lieblingsschnitzel nach Wahl und «Currywurst mit Pommes in der Meisterschale». «Wir werden nich raich damit», sagt Dieter Meister, «kommen abba klar.»

Meisters sind die Supermeister von Gelsenkirchen. Dieter Meister ist eigentlich Maurermeister («Im Betrieb hab ich immer gesagt, ich bin der Meister Meister – dat war schon komisch»), die wirklich meisterliche Currysosse hat Sohn David, 25, komponiert. Der ist gelernter Koch, machte bei der Bundeswehr eine Ausbildung zum Küchenmeister und hätte sich den Vornamen sparen können. «Der stellt sich immer vor ´Tach, ich bin der Meister´», sagt Mutter Meister, «und so hat er den Spitznamen Meister weg, alle sagen nur ´Meister, was machen wir?´ und solche Sachen.»

Meisters Leidenschaft sind Katzen. Früher haben sie selbst gezüchtet, norwegische Waldkatzen. Heute sorgen beide für Meistertitel – als internationale Juroren bei Schönheitskonkurrenzen. «Neulich», sagt Marion Meister, «waren wir in Mailand, jetzt geht’s nach Göteborg, dann nach Moskau.» Das klingt schon wie Champions League.

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