Das Spektakel in der Langweilergruppe

Die grosse Sause in Polen und der Ukraine beginnt mit einer Dramaturgie, die man den vier Mannschaften gar nicht zugetraut hätte. Die Polen sind froh, wenigstens nicht verloren zu haben, die Griechen erweisen sich einmal mehr als zäh und Russland wird über Nacht zu einem Kandidaten für Höheres.

Russisches Feuerwerk mit vier Toren zum Turnierstart. (Bild: Reuters/SERGIO PEREZ)

Die grosse Sause in Polen und der Ukraine beginnt mit einer Dramaturgie, die man den vier Mannschaften gar nicht zugetraut hätte. Die Polen sind froh, wenigstens nicht verloren zu haben, die Griechen erweisen sich einmal mehr als zäh und Russland wird über Nacht zu einem Kandidaten für Höheres.

Was ist über Gruppe A im Vorfeld nicht gelästert worden. Für manchen beginnt die Euro 2012 ja erst am Samstag so richtig mit Deutschland gegen Portugal, oder am Sonntag mit Spanien–Italien oder spätestens am Montag mit Frankreich gegen England.

Und dann so etwas: In der Langweilergruppe A fliegen die Fetzen, erreicht der Spannungsbogen und die Dramatik gleich im Eröffnungsspiel einen ersten Höhepunkt: Ein frühes Tor, dass Gastgeber Polen erst in Ekstase stürzt, dann in Lethargie verfallen lässt, zwei Platzverweise, der griechische Ausgleich in Unterzahl, ein gehaltener Elfmeter. Macht unter dem Strich ein 1:1 zwischen Polen und Griechenland. Viel mehr kann man in ein 90-minütiges Drehbuch nicht packen.

Die Russen – über Nacht ein Kandidat für Höheres

Und dann erst diese Russen. Spielen beim 4:1 einen Fussball, der sie über Nacht in den Rang eines Kandidaten für Höheres erhebt, was nur dadurch relativiert wird, dass man ab dem Viertelfinal nicht mehr auf Mannschaften treffen wird, die derart hüftsteif verteidigen wie die Tschechen. Kein Wunder sind sie auf dem absteigenden Ast.

Bei der Euro 2004 spielte Tschechien noch einen hinreissenden Fussball, aber schon 2008 kamen sie an ihre Grenzen. Es reichte noch zu einem Sieg, dem 1:0 im Eröffnungsspiel in Basel gegen die Schweiz, die mit ihrem früh verletzt ausgeschiedenen Torjäger Alex Frei weinte. Inzwischen ist Tschechien in der Weltrangliste auf Platz 27 abgerutscht (Schweiz: 21) und nur noch die beiden Euro-Gastgeber Ukraine (52) und Polen (62) sind schlechter platziert.

«Das Eröffnungsspiel in einem solch grossen Turnier endet oftmals Unentschieden», tröstete sich Franciszek Smuda. Der Trainer der Polen ist mit seinen knapp 64 Jahren alt genug, um sich noch an die 0:0-Serie der WM-Startspiele von 1966 bis 1978 zu erinnern. Und an drei aufeinanderfolgende 1:1 bei der EM von 1988 bis 1996. Ansonsten gab es jede Menge Siege, und den verpassten die Polen am Freitag, weil sich offenbar irgendwann dieser kleine Teufel in ihre Köpfe geschlichen hatte, der viele Mannschaften heimsucht, die plötzlich in Überzahl spielen dürfen.

Platzverweis ein schlechter Witz

Dabei hätten sie gewarnt sein können. Denn es war ein schlechter Witz, wofür der fassungslose Sokratis Papastathopoulos, Verteidiger von Werder Bremen, vom spanischen Schiedsrichter vom Platz gestellt wurde. Carlos Velasco Carballo gilt schon in der Primera Division als Mann, der schnell mit Rot bei der Hand ist: 45 Platzverweise in 146 Spielen sind seine Bilanz des Schreckens. Diesmal war der polnische Gegenspieler schlicht ausgerutscht.

Entsprechend geladen kamen die Griechen nach dem Seitenwechsel aus der Kabine. Der eingewechselte Dimitrios Salpingidis von Paok Saloniki packte die ganze Routine eines 30-Jährigen in den Ausgleich und holte auch den Strafstoss heraus, der Polens Schlussmann Wojciech Szczesny einen Platzverweis eintrug – diesmal korrekt vom Unparteiischen taxiert.

Held und Niete

Die 71. Minute gebar einen Helden – den eingewechselten polnischen Torhüter Przemyslaw Tyton (PSV Eindhoven) – und eine Niete. Georgios Karagounis, 35 Jahre alt, bei seinem Verein Panathinaikos Athen nur noch Ergänzungsspieler, aber immer noch Captain der Griechen, scheiterte in seinem 118. Länderspiel mit dem Penalty an Tyton. Und hinterliess damit beide Mannschaften mit zwiespältigen Gefühlen. Die Hellenen durften sich zwar über ihr grossartiges Comeback freuen, verpassten aber den Sieg. Und die Polen trösteten sich mit Smudas Erkenntnis: «Wirklich schlimm wäre nur, wenn wir verloren hätten.»

Deutlich wurde im Eröffnungsspiel, warum die Griechen in der Qualifikation nicht zu schlagen waren. Die Mannschaft des portugiesischen Trainers Fernando Santos hielt sich in etwa so zäh im Spiel wie das Land sich im Euroraum und machte es ansonsten wie vor acht Jahren: ein Tor aus dem Nichts heraus. Allerdings wird es mit einem Torhüter wie Konstantinos Chalkias schwer werden, den Husarenritt von 2004 auch nur annährend zu kopieren.

Eine Schokoladenseite allein reicht nicht

Und die Polen werden erkennen müssen, dass ihre Dortmunder Schokoladenseite – mit Lukasz Piszczek und Captain Jakub Blaszczykowski auf dem rechten Flügel und Torschütze Robert Lewandowski – allein noch keinen Überraschungs-Europameister macht.

Der kommt, wenn schon, dann von noch weiter östlich. Russlands Demonstration des ultraschnellen und präzisen Umschaltens war eindrücklich. Vier Jahre nach dem herzerfrischenden und erst vom späteren Europameister Spanien gestoppten Auftritt bei der Euro in der Schweiz und Österreich unter dem holländischen Lehrmeister Guus Hiddink sind die Russen unter Hiddinks etwas spröderen Landsmann Dick Advokaat immer noch spielerisch stark und vor allem eines: reifer.

Mit einem Durchschnitt von 30,5 Jahren stellt die Sbornaja die älteste Mannschaft des Turniers. Und in Alan Dsagojew den ersten Doppeltorschützen dieses Turniers. Der Stürmer von ZSKA Moskau wird am 17. Juni erst 22 Jahre alt – und dann wird sich Russland, dazu gehört nach diesem Auftritt keine prophetische Gabe mehr, sich bereits auf die Viertelfinals einstimmen.

Euro 2012, Vorrunde, Gruppe A
Polen–Griechenland 1:1 (1:0)
Nationalstadion, Warschau. – 56’070 Zuschauer. – SR Velasco Carballo (Sp).
Tore: 17. Lewandowski 1:0. 51. Salpingidis 1:1.
Polen: Szczesny; Piszczek, Wasilewski, Perquis, Boenisch; Murawski, Polanski; Blaszczykowski, Obraniak, Rybus (70. Tyton); Lewandowski.
Griechenland: Chalkias; Torossidis, Papastathopoulos, Avraam Papadopoulos (37. Kyriakos Papadopoulos), Holebas; Maniatis, Katsouranis, Karagounis; Ninis (46. Salpingidis), Gekas (68. Fortounis), Samaras.
Bemerkungen: 37. Avraam Papadopoulos verletzt ausgeschieden. 44. Gelb-Rote Karte gegen Papastathopoulos (Foul). 68. Platzverweis Szczesny (Notbremse). 71. Tyton hält Foulpenalty von Karagounis. 73. Tor von Salpingidis wegen Offside aberkannt. Verwarnungen: 35. Papastathopoulos (Foul). 45. Holebas (Reklamieren). 54. Karagounis (Hands).

Russland–Tschechien 4:1 (2:0)
Miejski, Wroclaw. – 40‘000 Zuschauer. – SR Webb (Eng).
Tore: 15. Dsagojew 1:0. 24. Schirokow 2:0. 52. Pilar 2:1. 79. Dsagojew 3:1. 82. Pawljutschenko 4:1.
Russland: Malafejew; Anjukow, Alexej Beresuzki, Ignaschewitsch, Schirkow; Schirokow, Denissow, Syrjanow; Dsagojew (85. Kokorin), Kerschakow (73. Pawljutschenko), Arschawin.
Tschechien: Cech; Gebre Selassie, Hubnik, Sivok, Kadlec; Plasil, Jiracek (75. Petrzela); Pilar, Rosicky, Rezek (46. Hübschman); Baros (86. Lafata).
Bemerkungen: 15. Kopfball von Kerschakow an den einen Pfosten, Dsagojew verwertet im Nachschuss. Keine Verwarnungen.

 

Nächster Artikel