Sabine Lisicki zieht als erste Deutsche seit Steffi Graf ins Wimbledon-Final ein. Das Halbfinal zeigte das Leben der 23-Jährigen in drei dramatischen Tennis-Akten.
Es war das Spiel ihres Lebens. Das Spiel, das ihr ganzes Leben in drei dramatischen Tennis-Akten und 138 Minuten verdichtete. Das Spiel, in dem Sabine Lisicki erst höchste Höhen erklomm, dann durch tiefste Täler marschierte, dann schon fast aussichtslos geschlagen schien und schliesslich doch mit beeindruckender Courage deutsche Tennisgeschichte schrieb – als erste stolze Wimbledon-Finalistin seit Steffi Graf 1999: «Heute ist mein grosser Traum in Erfüllung gegangen. Ich bin einfach nur überglücklich», sagte die 23-Jährige nach dem gewonnenen 6:4, 2:6, 9:7-Spektakel gegen die polnische Weltranglisten-Vierte Agnieszka Radwanska. Das Spiel riss die 13.000 Zuschauer im Herzen des All England Club pausenlos von den Sitzen – mit atemraubenden Kehrtwendungen und emotionalen Achterbahnfahrten im Minutentakt.
Mit einem Aufschrei der Erleichterung ging Lisicki nach dem Tennis-Donnerschlag unter heiterem Himmel zu Boden, geschüttelt von Tränen der Rührung und des Glücks am vorläufigen Ende einer langen, schweren Reise in der Welt des Wanderzirkus – nach all den Aufs und Abs der letzten Jahre, nach euphorischen und enttäuschenden Karrierstationen, nach Verletzungspech und schweren Rückkehrmissionen. «Ich war nahe dran an einem Herzinfarkt», sagte der sichtlich mitgenommene Trainervater Richard Lisicki, der Mann, der seiner Tochter über das letzte Jahrzehnt mit unermüdlichem Einsatz und grosser Umsicht den Weg in die Weltspitze geebnet hatte.
Nur ein Wort wird der Leistung gerecht
Derweil fasste Bundestrainerin Barbara Rittner den Tag, der auch die Krönung dieses neuen deutschen Frauenwunders auf den Centre Courts bedeutete, mit einem einzigen Wort des verdienten Lobes für Lisicki zusammen «grandios». Und das spielte vor allem auf die letzte von vielen magischen Aufholjagden der Drama-Königin an, auf das wichtigste Comeback in Lisickis Laufbahn – jenen sagenhaften Umschwung im dritten Satz nach einem 0:3-Rückstand bis zu jenem aufwühlenen Augenblick um genau 17.58 Uhr deutscher Zeit, als die Berlinerin eine Vorhand unerreichbar ins gegnerische Feld drosch. Zum 9:7 in diesem Drama zwischen Himmel und Hölle, zur Finalverabredung mit der Französin Marion Bartoli – und zur Chance, als erste deutsche Spielerin seit 1996 (Graf-Sieg gegen Sanchez-Vicario) hier im grünen Grand Slam-Paradies zu triumphieren.
Konnte ihren Sieg kaum fassen: Sabine Lisicki. (Bild: TOBY MELVILLE)
Niemals aufgeben, selbst nicht in Situationen, in denen andere innerlich das Handtuch werfen – es war auch und mehr denn an diesem denkwürdigen 4. Juli 2013 das Tennis-Lebensmotto der Eisernen Lady Sabine Lisicki. «Ich habe einfach an das Match gegen Serena Williams gedacht», sagte sie später, von Tränen geschüttelt, «ich habe mit ganzem Herzen gekämpft und den Glauben nicht verloren. So bin ich eben.» So ist sie tatsächlich. Die auf grosser Bühne stärkste Erbin einer gewissen Stefanie Graf, die Spielerin, die eine Attitüde der Beschwingtheit und Furchtlosigkeit auf den Platz bringt, die in Wimbledon ihren ganz besonderen Charme entfaltet – Publikumsliebling ist Sabine Lisicki nicht erst seit gestern, seit dem Vorstoss ins erste Grand Slam-Finale überhaupt. «Die Fans hier wollen, dass sie das Turnier gewinnt. Kein Zweifel», sagte die grosse, alte Tennisdame Martina Navratilova am Abend des Lisicki-Coups, «ich glaube auch, dass sie nun endgültig bereit ist dafür.» Keine habe Wimbledon jenseits von Andy Murray so begeistert in diesen Tagen wie Lisicki, sagte Englands früherer Star Tim Henman, «sie ist der Darling, der allen gute Laune macht.»
Abfuhr für McEnroe
Doch welches Gefühlschaos musste die Berlinerin durchleben in einem Spiel, das sie später ungewohnt martialisch als «Schlacht» bezeichnete – ein Duell, in dem sie beide, Lisicki wie Radwanska, den Sieg vor Augen hatten, dann am Abgrund der Niederlage balancierten und sich bekämpften wie Schwergewichtsboxer in der 12. Runde. «Es war eine Frage des Willens, der grösseren Zähigkeit, der Power im Kopf», analysierte Amerikas Altmeister John McEnroe. Er hatte gleich zu Beginn des Tages einen bezeichnenden Dialog mit Lisicki gehabt, beim Herausmarschieren auf den Centre Court. Da gratulierte der ehemalige Centre Court-Genius der Deutschen in einem Blitzinterview noch einmal höflich zum Viertelfinalgewinn, doch den Small Talk brach Lisicki dann ganz schnell ab und sagte: «Two more to go» (Zwei Spiele bis zum Sieg). Sie hielt sich nicht mit dem Vergangenen auf, mit dem Gestern, war im Hier und Jetzt nur auf den Sieg fokussiert.
Und das auch zunächst mit imponierender Konsequenz, denn der erste Satz war klar von Lisickis souveräner Regie bestimmt. Es wirkte fast absurd, mit welcher Selbstverständlichkeit die 23-jährige die Nummer vier der Welt beherrschte, diese ungemein schlaue Strategin Radwanska, die im Vorjahr im Finale erst von Serena Williams gestoppt worden war. 6:4 hiess es nach nur 33 Minuten, verdientes Abbild einer Demonstration von Zuversicht und Entschlossenheit, von Kraft und Eleganz aber auch. «Das war vielleicht der beste Satz, den ich überhaupt je gespielt habe», sagte Lisicki hinterher. Doch nach einer übermütig vergebenen Chance zur 2:0-Führung im zweiten Durchgang fiel Lisicki jäh hinein in ein tiefes Leistungsloch, kassierte Break um Break bis zum 2:6-Satzverlust und 1:1-Satzausgleich. Fast eine geschlagene Stunde brachte die Aufschlag-Spezialistin, Markenname «BumBum Bine», nicht einmal ihr Service durch. Und als dieser Negativrekord gerade in der Statistik erfasst war, stand es schon 0:3 im dritten Satz. Alarmstufe Rot auf dem heiligen Grün.
Doch Lisicki ist Lisicki, die Spezialistin für die unglaublichsten Entfesselungsnummern der Tenniswelt, die Centre Court-Entsprechung des legendären Harry Houdini. Das 3:3-Remis in diesem Zermürbungskampf für Nerven und Geist besorgte sie in nur acht Minuten, servierte dann bei 5:4 sogar zum Matchgewinn. War bloss noch zwei Punkte vom Wimbledon-Glück entfernt, war aber selbst nur kurze Zeit später selbst vor dem bitteren Scheitern – bei 5:6 und 40:40. «Aufregender ging’s nicht. Ich musste mich zwingen, irgendwie die Ruhe zu behalten», sagte Lisicki später. Bei 6:7-Rückstand vermied sie noch einmal den Knockout, holte sich den 7:7-Ausgleich. Dann, bei einer 8:7-Führung, liess sie sich den Sieg nicht mehr nehmen. Sie wirkte auf einmal wieder wie die Souveränin des Centre Court. Wie jemand, der diesen Platz einmal als zweites Wohnzimmer bewohnen will – Wie einst Boris Becker und Steffi Graf.