England ergötzt sich am dramatischen Finish der Premier League, die erstmals seit 1989 durch die Tordifferenz entschieden wurde – und in Manchester City einen mit einer Milliarde Euro aufgemotzten Meister bekommen hat.
Viele Man-City-Fans hatten nach 90 Minuten genug gesehen. Dutzende verliessen weinend, fluchend, kopfschüttelnd das Etihad-Stadion, weil sie den peinlichsten Kollaps in der Geschichte des englischen Fussballs nicht mehr ertragen konnten. Roberto Mancinis Team schien es tatsächlich zu schaffen, der eigenen Karikatur auf den letzten Drücker doch noch gerecht zu werden. Gegen zehn Spieler von Queens Park Rangers, die statistisch schlechteste Auswärtsmannschaften der Liga, lag man nach Ablauf der regulären Spielzeit 1:2 zurück.
Die Lokalrivalen von Manchester United gewannen gleichzeitig 1:0 beim FC Sunderland. City, der Verein der es seit Jahrzehnten zielsicher schafft, jeden Vorteil in ein Desaster umzuwandeln, blieb sich mal wieder treu.
Mancini sprang an der Seitenlinie auf und ab, mal die Hände in den Sakkotaschen versteckt, dann wieder wild gestikulierend, ein Gemälde von impotenter Wut. «Ich fühle mich, als ob ich 90 Jahre alt geworden bin», sagte der 47-Jährige später. Da niemand mehr auf ihn hörte, fing er bald an, auf italienisch zu schreien. So hörte erst recht keiner auf ihn. Citys Spiel hatte jegliche Struktur verloren.
Das surreale Comeback der Citiziens
Die Bälle wurden nahezu blind in den Strafraum gekloppt. Ein wahres Ecken-Bombardement ging auf QPR-Keeper Patrick Kenny nieder, das Pech schien den Hellblauen dabei treu zu bleiben. Doch dann stieg Edin Dzeko zum Kopfball hoch. Mancini hat den ehemaligen Wolfsburger spärlich eingesetzt; der Bosnier kam mit der distanzierten Art des Italieners nicht zurecht und tauchte am Sonntag in vielen Zeitungen in der Liste der möglichen Abgänge in diesem Sommer auf.
Aber das war: vor seinem Tor. Das 2:2 in der 92. Minute gab City wieder Hoffnung. Zwei Minuten später machte Sergio Agüero das surreale Comeback perfekt. Mit dem quasi letzten Kick der Saison erzielte der Argentinier, das Tor, das City zum Meister krönte. Zum ersten Mal seit 1989 wurde das Titelrennen auf Grund der besseren Tordifferenz entschieden. «Es war das verrückte Ende einer verrückten Saison», sagte Mancini.
Schon vor dem letzten Spieltag war 2011/12 vielerorts als die beste Premier-League-Saison überhaupt eingeschätzt worden. Aber das Drama am Sonntag sprengte alle medialen Superlative. Dass sich letztlich die mit Abstand teuerste, von einer guten Milliarde Euro aus Abu Dhabi hochgezüchtete Startruppe auf der Insel gegen Konkurrenz von überschaubarer Qualität durchgesetzt hatte, wurde angesichts der historischen Dimension dieses Siegs ebenfalls übersehen.
Für City ging eine 44-jährige Wartezeit zu Ende, und zwar auf die denkbar schönste Weise – man gewann in jenem Last-Minute-Stil, den man eigentlich im Old Trafford für sich gepachtet hat. «Wunder passieren ja in Manchester», sagte City-Captain Vincent Kompany, «aber dieses Mal war es auf unserer Seite der Strasse.»
Spezialisten für komödiantisches Scheitern
In Sunderland gratulierte Alex Ferguson mit verbissener Miene. «Man konnte davon ausgehen, dass sie gewinnen würden», sagte der Schotte, «aber sie haben gegen zehn Mann gespielt und fünf Minuten Nachspielzeit gebraucht.» Das war ein wenig abschätzig gemeint, doch der Schotte besann sich bald auf die eigene Vorliebe für fulminante Pointen und bekam doch noch durch die Kurve zu einer aufrichtigen Würdigung: «Die Premier League ist die stärkste Liga der Welt. Wer sie gewinnt, hat es auch verdient.» In Erinnerung an unzählige späte Siege von United sangen die Ciyt-Fans derweil hämisch: «We won it in Fergie-Time.»
Fünf Minuten lagen letztlich zwischen einem psychologisch wohl kaum zu verschmerzenden Zusammenbruch und einem Titelgewinn, der den Anfang einer Machtverschiebung signalisieren könnte. «So lange ich lebe, werden sie uns nicht überholen», hatte Ferguson vor zwei Jahren prophezeit. Aber City, die einstigen Spezialisten für komödiantisches Scheitern, sind nun eine Elf, die auch in Sir Alex’ Paradedisziplin reüssieren kann: es war, so wird man es im Nachhinein deuten, Willens- und Nervenstärke, die Mancinis Elf über die Ziellinie brachte.
«Die erste Meisterschaft nach 44 Jahren war sehr wichtig, nächstes Jahr wollen wir so weitermachen», sagte Mancini, als er sich nach den Feierlichkeiten wieder einigermassen in den Griff bekommen hatte. Zusammen mit ihren Ehefrauen und Kindern hatten die City-Spieler noch auf dem Rasen für Erinnerungsfotos mit der Trophäe posiert; ganz so, als ob sie es selber nicht glauben konnten
In hundert Jahren nicht
«Ich bin mit einer Siegermedaille um meinen Hals aufgewacht, scheint ein guter Abend gewesen zu sein», verkündete Kompany am Montagnachmittag via Twitter. Mancini erteilte dem Gerücht, dass er sich demnächst das City-Wappen tätowieren lasse, eine klare Absage («dafür bin ich zu alt, vielleicht eher was für Mario (Balotelli)» und liess sich demonstrativ mit Carlos Tévez ablichten. Keine Meinungsverschiedenheit war am Sonntag gross genug, um Citys Freude zu trüben.
«Sie werden 100 Jahre brauchen, um an unsere Historie heranzukommen», grantelte Ferguson ein letztes Mal, bevor er die «Nachbarn» ausdrücklich beglückwünschte. Das sonst bei dieser Gelegenheit gern benützte Adjektiv «laut» liess er bei der Beschreibung der Störenfriede in diesem Fall weg. Es hilft ja auch nichts. Mit der angenehmen Ruhe, die der alte Abstand zwischen den Clubs mit sich brachte, ist es nun erstmal vorbei in der Stadt.