Der Anfang einer beklemmenden Normalität

Frankreich und England trugen am Dienstagabend ein Freundschaftsspiel aus. Eindrücke von der absoluten Stille während der niederschmetternden Schweigeminute und zwei Protagonisten, die von den Anschlägen in Paris direkt betroffen sind.

epa05030391 France and England players pose for a mix photo during the international soccer friendly match between England and France in Wembley stadium London, Britain, 17 November 2015. EPA/FACUNDO ARRIZABALAGA

(Bild: Keystone/FACUNDO ARRIZABALAGA)

Frankreich und England trugen am Dienstagabend ein Freundschaftsspiel aus. Eindrücke von der absoluten Stille während der niederschmetternden Schweigeminute und zwei Protagonisten, die von den Anschlägen in Paris direkt betroffen sind.

Als «technisch schwierig» hatte Englands polyglotter Nationaltrainer Roy Hodgson vorab die Verse der Marseillaise eingestuft. Viele englische Zuschauer hatten sich dennoch aufrichtig bemüht, aus Solidarität mit den Gästen die französische Nationalhymne mitzusingen.

Der noch lautere Ruf zu den Waffen erschallte im rot-weiss-blau beleuchteten Wembley-Stadion allerdings nach der Musik. 71’000 Zuschauer brüllten begeistert, trotzig, stolz auf sich selbst und auf die wuchtig zelebrierten Werte der Brüderlichkeit und Freiheit, als die beiden Mannschaften Arm in Arm zu einem gemischten Teamfoto unweit der Gedenkkränze für die Opfer der Terroranschläge in Paris posierten.

Die anschliessende Schweigeminute am Mittelkreis war in ihrer absoluten Stille niederschmetternd. Allein die Rotoren des Polizeihubschraubers knatterten sanft irgendwo oben, im windumtosten Himmel. 

Die Schweigeminute (ab 25“):

Ein Freundschaftsspiel im Zeichen der Normalität

«Das war ein herzzerreissender, spezieller Moment der Gemeinschaft», sagte später der erschöpft wirkende Coach der Franzosen, Didier Deschamps sehr blass. «Wir möchten uns bei den Leuten in Wembley und dem ganzen Land für die Unterstützung bedanken. Es gab eine sportliche Seite, aber ich denke, die menschliche Dimension dieser Veranstaltung hat heute eine viel grössere Bedeutung gehabt.»

Der französische Verband, teilte Hodgson mit, habe nach dem Horror des vergangenen Freitags auf der Austragung des Freundschaftsspiels als Zeichen der Normalität und Renitenz bestanden; die Spieler wurden dabei nicht befragt. Man wolle zeigen, dass die Welt weitergehe und gegen den Terror stehe, betonte auch Englands Kapitän Wayne Rooney. Das von schwer bewaffneten Anti-Terror-Einheiten bewachte Spiel war ein symbolisches Statement – und deswegen mit dem Anpfiff im Grunde schon wieder vorbei. 

Die Tränen in den Augen der Spieler

Hodgsons Elf hatte sich ausdrücklich vorgenommen nach den «Bekundungen des Respekts, der Solidarität und der Einheit» auch Fussball zu spielen, erklärte der 68-Jährige. Zu Letzterem waren Les Bleus aber nur sehr bedingt in der Lage.

Innezuhalten nach dem Terror von Paris, das schien im Sport keine Alternative, schreibt Redaktor Christoph Kieslich in seinem Kommentar zum Thema:

Zu Trauer und Trauma nach den fürchterlichen Geschehnissen am Stade de France und in der Pariser Innenstadt kamen am Dienstagabend die kaum zu bewältigende Rührung über die Anteilnahme der Briten hinzu. Als gefühlsstarke Empathen sind die Nachbarn von der anderen Seite des Ärmelkanals in Frankreich nicht verschrien.

«Ich hatte Tränen in den Augen wie meine Mannschaftskameraden auch», sagte Bacary Sagna, der bei Manchester City in der Premier League engagierte Verteidiger. «Es ging gar nicht anders. Alle haben geweint.»

Für Hodgson war die Spielabsage in Hannover kaum der Rede wert

Die zutiefst beunruhigenden Nachrichten aus Hannover, vom kurzfristig abgesagten Spiel zwischen Deutschland und den Niederlanden, hatte der 47-jährige Deschamps seinem Team vor Anpfiff absichtlich vorenthalten, denn die Atmosphäre sei in London für seine Männer «bereits bedrückend genug, wir hatten schon genug durchgemacht».

Für den unerschütterlichen Hodgson war die Spielabsage in Niedersachsen dagegen kaum der Rede wert: «Wir haben auf das Sicherheitskonzept der Behörden im Wembley vertraut und uns nicht anders als sonst auch verhalten.»

Die Franzosen taugen nicht zum sportlichen Gegner

Englands «business as usual»-Professionalität hatte auf dem Rasen schnell zu deutlicher Überlegenheit geführt. Youngster Dele Alli (19, Tottenham Hotspur) wurde wegen seines Treffers als sportlicher Gewinner der Partie gefeiert. Aber als Arsenals Laurent Koscielny kurz nach der Pause vor dem 2:0 träge unter einer Flanke durchsprang und sich danach nicht einmal mehr zum Torschützen Rooney umdrehte, war wohl dem letzten Besucher klar geworden, dass die Franzosen an diesem sehr ungewöhnlichen Abend nicht zum Gegner taugten. 

Die Gastgeber wollten den Franzosen in der Folge nicht mehr weiter unnötig wehtun und die englischen Fans wussten daraufhin nicht so recht, was sie mit sich anfangen sollten. «Steht auf, wenn ihr Isis hasst», intonierte eine Gruppe junger Männer in der Kurve mit klassisch britischem Halbernst, aber es wollte keiner mitsingen.

Mit Griezmann und Diarra stehen zwei Direktbeteiligte auf dem Feld

Umso lauter fiel der bewundernde Applaus aus, als mit Lassana Diarra (Marseille) und Antoine Griezmann (Atlético Madrid) zwei Spieler auf den Rasen kamen, die persönlich von den Attentaten betroffen sind. Griezmanns Schwester war den IS-Killern unverletzt aus der Konzerthalle Bataclan entkommen, Diarras Cousine Asta Diakité starb in der Rue Bichat.

Bonsoir à tous,À la suite des événements dramatiques survenus hier à Paris et à Saint Denis, c’est avec le coeur lourd…

Posted by Lassana Diarra on Samstag, 14. November 2015

«Diarras Präsenz war wichtig für uns», sagte Deschamps, «wir stehen vereint gegen einen Horror, der keine Hautfarbe und keine Religion hat, für Liebe, Respekt und Frieden», hatte der 30-jährige Mittelfeldspieler am Tag zuvor in einer bewegenden Facebook-Nachricht verkündet. 

All dies gelang in London ganz eindrucksvoll. Aber für den jetzt dezidiert in die Schusslinie geratenen Lieblingssport der Welt war die brüderliche Nacht im Wembley kein Triumph. Sondern wohl nur der Anfang einer sehr schwierigen, beklemmenden Normalität.



epa05030365 France Lassana Diarra (R) and Antoine Griezmann (L) in action during the international soccer friendly match between England and France in Wembley stadium London, Britain, 17 November 2015. EPA/FACUNDO ARRIZABALAGA

Lassana Diarra (Vordergrund) und Antoine Griezmann, zwei von den Anschlägen in Paris direkt betroffene Spieler der französischen Nationalmannschaft. (Bild: Keystone/FACUNDO ARRIZABALAGA)

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