Der eigenen Hoffnung weit voraus

Mit einer für die Konkurrenz beängstigenden Lust und Laune am Risiko ist Roger Federer am Werk. Er steht nach dem Sieg gegen Stan Wawrinka bei 90 Turniersiegen, ist der älteste Gewinner eines ATP-Events und in der Weltrangliste bereits wieder auf Rang sechs platziert. Ein Gegner fragt angesichts dessen zu Recht: «Sind wir zu 100 Prozent sicher, dass Fed vom Planeten Erde stammt?»

Mar 19, 2017; Indian Wells, CA, USA; Roger Federer (SUI) celebrates as confetti falls after he defeated Stan Wawrinka (not pictured) 7-6, 6-4 in the men's final in the BNP Paribas Open at the Indian Wells Tennis Garden. Mandatory Credit: Jayne Kamin-Oncea-USA TODAY Sports

(Bild: Reuters/Jayne Kamin-Oncea)

Mit einer für die Konkurrenz beängstigenden Lust und Laune am Risiko ist Roger Federer am Werk. Er steht nach dem Sieg gegen Stan Wawrinka bei 90 Turniersiegen, ist der älteste Gewinner eines ATP-Events und in der Weltrangliste bereits wieder auf Rang sechs platziert. Ein Gegner fragt angesichts dessen zu Recht: «Sind wir zu 100 Prozent sicher, dass Fed vom Planeten Erde stammt?»

Der Mann hat eigentlich den Überblick gepachtet. Schliesslich blickt John Isner aus der lichten Höhe von 208 Zentimetern hinaus in die Welt. Was er allerdings dieser Tage an seinem Arbeitsplatz sieht, auf den Centre Courts des Tennisbetriebs, kann der aufgeweckte Amerikaner nicht so ganz verstehen.

«Sind wir zu 100 Prozent sicher, dass Fed vom Planeten Erde stammt», twitterte der Gigant am Sonntagabend an seine Internetjünger – es war der in Worte gefasste Kniefall vor dem Mann, der längst für den verrücktesten Saisonstart im modernen Profitennis steht: Roger Federer.

Ein halbes Jahr Verletzungspause, ein halbes Jahr Unsicherheit, Zweifel, Fragen, Skepsis, und was kommt dann bei jenem Federer: erst der Sieg am Australian Open wie aus dem Nichts, ein beispielloser Glücksmoment, der unwahrscheinlichste Pokalcoup einer Traumkarriere. Und nun noch hinterher, kaum weniger sensationell, auch noch der Triumph beim ersten Masters dieser Spielserie. 

In der kalifornischen Wüste, in Indian Wells, an einem Schauplatz, der im Tennis als fünfter Grand Slam gilt. «Es ist die nächste Märchenwoche für mich», sagte Federer nach dem 6:4, 7:5-Sieg über seinen Freund, über seinen langjährigen Weggefährten, Doppelpartner und professionellen Rivalen Stan Wawrinka.

Niemand ist über Federer mehr erstaunt als Federer selbst

Das Australian Open, Indian Wells: Es hätten die ersten schwierigen, heiklen Comeback-Schritte für Federer sein müssen, ein langsames Herantasten an die enteilte Weltspitze. Doch nun wurden die beiden Turniere zu Stationen eines Erfolgszuges des 35-Jährigen, der so mitreissend und leidenschaftlich aufspielte, als wäre er einem Jungbrunnen entstiegen.

Keiner könnte über Federer, den Mann der Stunde, mehr erstaunt sein als Federer selbst: «Ich bin allen meinen Hoffnungen weit voraus. Für mich kommt das völlig überraschend», sagte der vierfache Familienvater. Bis zur Saisonhälfte hätte er sich im für ihn denkbar günstigsten Fall wieder «unter den ersten Acht der Weltrangliste» gesehen, nun rückte er mit dem Sieg in der kalifornischen Wüste, beim Tennisspektakel des Internetmilliardärs Larry Ellison, bereits auf Platz sechs vor.



Die ersten zehn der Weltrangliste, Stand: 20. März 2017

Die ersten zehn der Weltrangliste, Stand: 20. März 2017 (Bild: Screenshot atpworldtour.com)

Selbst die Geschlagenen und Enttäuschten können ihrem sympathischen Spielverderber nicht wirklich böse sein, diesem legendären Virtuosen: «Der lacht doch tatsächlich, das A…loch», entfuhr es Verlierer Wawrinka, als er bei der offiziellen Abschlusszeremonie etwas schwer und stotternd zu den Zuschauern sprach.

Aber schon im nächsten Moment bekannte er dann, in Richtung des erheiterten Federer: «Ich bin dein grösster Fan.» Was trotz aller Liebenswürdigkeit des Herrn Federer nicht selbstverständlich ist, wenn man, wie Wawrinka, 20 von 23 Matches gegen ihn verloren hat, auch auf den allergrössten Bühnen. Und in diesem Jahr eben auch schon wieder in Melbourne und Indian Wells.

Federer ist ein Phänomen, mehr denn je. Denn das fortgeschrittene Profialter, aber auch seine Verletzungen zuletzt haben ihn noch einmal zum Radikalreformer des eigenen Spiels gemacht. Was unter dem Zwang zur Innovation entstanden ist: der aggressivste, offensivste, energischste Federer überhaupt, ein noch stürmischerer Federer als der ganz junge, gerade an den ersten Grosstaten feilende Federer.

Geplagt von manchen Zipperlein, auch immer wieder vom schmerzenden Rücken, hat Federer aktuell keine Zeit zu verschwenden in den grossen Duellen, er muss die Entscheidung suchen. Und er tut das mit einer fast beängstigenden Lust und Laune am Risiko – stets unter dem Motto: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.

Über seine Taktik in Indian Wells sagte Federer: «Viel Zug nach vorn. Viel Risiko. Genau wie in Melbourne.» Aber eigentlich genau so wie immer in diesen Tennistagen, in dieser gefühlten Alles-oder-nichts-Epoche von Federer.



epa05859093 Roger Federer of Switzerland poses with the trophy and the Swiss national flag after defeating Stan Wawrinka of Switzerland in the men's final match at the 2017 BNP Paribas Open tennis tournament at the Indian Wells Tennis Garden in Indian Wells, California, USA, 19 March 2017. EPA/PAUL BUCK

Roger Federer mit der Flagge seiner Heimat und dem Pokal, den er für seinen 90. Turniersieg erhält. (Bild: Keystone/PAUL BUCK)

Allerdings hat die Sache auch einen Haken für alle Federer-Afficionados. Denn der Künstler, der neuerdings auch stets ein grosser Kämpfer ist, braucht für seine Parforce-Auftritte einen richtig frischen, gut ausgeruhten Körper. Und er braucht keine Starts bei Turnieren, wo er sich, kühl kalkulierend, wenig ausrechnet.

Federer wird sich also seine längeren Pausen gönnen, er wird sie als Teil seines grösseren Plans begreifen, immer wieder im richtigen Moment mit voller Kraft zuschlagen zu können. Um die Sandplatzserie wird er daher einen ziemlich grossen Bogen machen und dann den Fokus auf das naheliegende Ziel richten, auf Wimbledon, auf den Traum vom Rekordtitel in seinem grünen Tennisparadies. Stuttgart und Halle werden ihm dabei als perfektes Vorspiel dienen.

90 Turniersiege – und noch lange nicht Schluss

Als Federer kürzlich in Dubai gegen den Russen Donskoy verlor, sagte er selbstkritisch, «nicht mit der absoluten Hingabe» gespielt zu haben, «mit ein paar Prozent zu wenig». Das soll ihm nicht wieder passieren. Es wird einen selteneren Federer geben, kein Wunder für einen Mann, der nun mit 35 auch der älteste Masters-Sieger überhaupt ist. 

Aber es wird dann, wo immer er startet, erst recht den 100-Prozent-Federer geben. Einen, für den mit 90 Turniersiegen noch immer und noch lange nicht Schluss ist.

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