Der FC Barcelona rätselt über den Verfall der fussballerischen Sitten

Der FC Barcelona wird auf dem Platz seinen identitätsstiftenden Grundsätzen untreu und steht nach dem schmeichelhaften 1:1 in San Sebastián in der Primera Division so schlecht da wie seit 2003 nicht mehr. Das sind beunruhigende Vorzeichen vor dem Clásico am Samstag gegen Real Madrid.

Football Soccer - Real Sociedad v Barcelona - Spanish Liga Santander - Anoeta, San Sebastian, Spain - 27/11/2016 Barcelona coach Luis Enrique reacts. REUTERS/Vincent West

(Bild: Reuters/VINCENT WEST)

Der FC Barcelona wird auf dem Platz seinen identitätsstiftenden Grundsätzen untreu und steht nach dem schmeichelhaften 1:1 in San Sebastián in der Primera Division so schlecht da wie seit 2003 nicht mehr. Das sind beunruhigende Vorzeichen vor dem Clásico am Samstag gegen Real Madrid.

Das Estadio Anoeta in der schmucken Küstenstadt San Sebastián gilt seit Jahren als verfluchte Wiese für den FC Barcelona: mysteriöserweise hat die weltbeste Fussballmannschaft des letzten Jahrzehnts seit 2007 nicht beim nationalen Mittelklasseklub Real Sociedad gewonnen.

Oft war es Pech, manchmal Sorglosigkeit oder auch beides. Nie jedoch hatte sie dabei so schlecht ausgesehen wie beim 1:1 am Sonntagabend. Eigentlich hat der FC Barcelona überhaupt nirgendwo so schlecht ausgesehen. «Wir haben einen Punkt mitgenommen, obwohl wir nichts verdient hatten», gestand Trainer Luis Enrique, «das Unentschieden grenzt an ein Wunder.»

» Die Primera Division

In der Tat: Als Barça in der 40. Minute seinen ersten Torschuss abgab, lag es im Eckenverhältnis schon 0:7 zurück. Die Fehlpassquote von über 30 Prozent war angesichts der einstigen Virtuosität im Kombinationsspiel geradezu historisch. Erstmals seit 2013 ging in der Liga eine Ballbesitzstatistik mit 54 zu 46 Prozent an den Gegner.

Als wären die Trikots vertauscht

Es waren die vom ehemaligen Barça-Spieler Eusebio Sacristán – als Coach der zweiten Mannschaft vor knapp zwei Jahren stillos vom Hof gejagt – trainierten Basken, die durch ihr Pressing den Gegner zu planlosen Befreiungsschlägen zwangen, es waren seine Spieler, die ein wunderbar harmonisches Offensivspiel aufzogen, und es war die Real Sociedad, die eine Viertelstunde vor Schluss vom Schiedsrichter durch Aberkennung eines regulären Treffers um das überfällige Siegestor gebracht wurde. «Hätte sich ein Ausserirdischer hierher verirrt, er hätte denken müssen, wir haben die Trikots vertauscht und sie sind Barcelona» – so Luis Enrique.

Football Soccer - Real Sociedad v Barcelona - Spanish Liga Santander - Anoeta, San Sebastian, Spain - 27/11/2016 Barcelona's Lionel Messi reacts. REUTERS/Vincent West

Offenbar traut der Trainer nach etlichen Gegentoren durch frühe Ballverluste in den letzten Spielen seiner eigenen Mannschaft nicht mehr zu, was in der Klub-Fibel immer als unverhandelbar galt: die Angriffe sauber von hinten aufzubauen.

Der Verzicht fügt sich in den Trend der Saison: Barça demontiert seine eigenen Grundsätze. Das Mittelfeld – seit Johan Cruyffs Zeiten das Herzstück der Barça-DNA – ist vom Hauptbahnhof zur Durchgangsstation verkommen. In Anoeta traute man sich nun nicht mal mehr das einst ebenso identitätsstiftende Offensivpressing.

Der Dreizack Messi-Neymar-Suárez hängt in der Luft

Sind die Beine zu müde oder ist es der Kopf? Mittelfeldspieler wie Sergio Busquets und Ivan Rakitic (in San Sebastián zur Pause ausgewechselt) mussten in den letzten Jahren permanent an ihre Grenzen gehen, um der Sturmreihe aus Messi, Neymar und Luis Suárez den Luxus einer dosierten Defensivarbeit zu ermöglichen. Ohne ein kompaktes Pressing sind sie beim Stopfen der dann umso grösseren Lücken erst recht überfordert. Der famose Dreizack hängt dadurch in der Luft.



Football Soccer - Real Sociedad v Barcelona - Spanish Liga Santander - Anoeta, San Sebastian, Spain - 27/11/2016 Barcelona's Luis Suarez fights for the ball with Real Sociedad's Inigo Martinez. REUTERS/Vincent West

Barcelonas Dreizack – hier Luis Suarez – hängt derzeit in der Luft. (Bild: Reuters/VINCENT WEST)

Was die Alternativen angeht, ist man auch nach 120 Millionen Euro Transferausgaben im Sommer so weit wie zuvor. Die Neuen passen entweder nicht ins Profil wie der orientierungslose Mittelfeldspieler André Gomes, oder Luis Enrique traut ihnen nicht. Am Sonntag nahm er nur eine Auswechslung vor, Piqué und Linksverteidiger Jordi Alba mussten angeschlagen durchspielen.

Auf der Weltbühne Clásico spielt Barça nun nicht nur um die Optionen der Titelverteidigung – sondern auch gegen den Eindruck, sein eigenes Fussball-Modell nicht mehr zu beherrschen. Luis Enrique versprach immerhin schon mal, «Krieg zu liefern», und eine bessere Leistung als in Anoeta. Seine Begründung klang so einfach wie deprimierend: «Schlechter gehts ja nicht.»

Die Tabelle der Primera Divison vor dem Clásico:

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