Der Goldmann vom Drive-in

2009 noch hielt er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Jetzt führt Dai Greene die britischen Leichtathleten als Captain an die Olympischen Spiele.

Weg vom Fastfood, hin zu bewusster Ernährung. Bevor der Erfolg kam, hat Dai Greene sein Leben umgestellt: «Man tankt auch nicht den falschen Treibstoff und hofft, dass das Auto schnell fährt.» (Bild: Guardian/Levon Biss)

2009 noch hielt er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. 2012 führt Dai Greene die britischen Leichtathleten als Captain an die Olympischen Spiele.

Er hat bei McDonald’s gearbeitet, um sein mageres Einkommen als Sportler aufzubessern. Er hat seine Epilepsie bezwungen und Selbstzweifel, indem er sein Leben völlig verändert hat. «Ich habe an der Armutsgrenze gelebt – man gewöhnt sich daran», sagt Dai Greene. «Aber nach einer gewissen Zeit willst du nicht mehr so leben. Du kannst nicht mehr so leben, wenn du auch nur die kleinste Hoffnung hast, einmal ein Elite-Athlet zu werden. Das wenige Geld, das ich hatte, ging für Lebensmittel drauf, weil ich nicht bereit war, mich jeden Tag nur von Bohnen auf Toast zu ernähren.»

2008 stand Greene kurz vor dem Ende seiner Karriere als Hürdenläufer. Drei Jahre später schlug er an den Weltmeisterschaften von Daegu ein Feld, in dem fünf Athleten eine bessere Jahresbestleistung hatten als er. Es war kein isolierter Titel für den heute 26-Jährigen. Gewinnt er an den Olympischen Spielen in London Gold über 400 Meter Hürden, dann komplettiert er seine Medaillensammlung als amtierender Olympia-Sieger, Welt-, Europa- und Commonwealth-Meister. Er wäre einer der grössten Leichtathleten der Welt – obwohl ihm so viele Hindernisse im Weg gestanden haben.

Frustration und Geldprobleme

Greene war einst ein typischer Student in Cardiff, er überlebte dank eines Darlehens. Aber 2008 geriet er ernsthaft in die Bredouille, kurz nachdem er die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Peking verpasst hatte. «Es gab Momente, in denen ich glaubte, dass ich es nie packen werde», sagt er mit Blick zurück auf die Zeit, als sich seine Frustration über die eigene Leistung mit finanziellen Problemen mischte, die nur noch schlimmer wurden, als er versuchte, Profisportler zu werden: «An den britischen Ausscheidungen wurde ich in diesem Jahr Dritter mit derselben Zeit, die ich als Ju­nior gelaufen war. In diesem Augenblick dachte ich, dass ich vielleicht mein ­Limit erreicht haben könnte.»

«2008 bis 2009 waren meine Einkünfte auf 8000 Pfund gesunken, und ich verdiente vielleicht ein paar Hundert Pfund extra bei Rennen und ein paar Tausend durch Teilzeitarbeit. Ohne dass es mir bewusst war, befand ich mich in einer Saison, in der es um alles oder nichts ging. Hätte ich mich nicht verbessert, wäre es kaum möglich gewesen, weiterzumachen.»

Greenes ruhige, ernsthafte Art weicht der Belustigung, als er die Jobs beschreibt, die er aus Verzweiflung annahm: «Ich habe drei Jahre bei McDonald’s gearbeitet, als ich im College war, und dann habe ich mich von Teilzeitjob zu Teilzeitjob gehangelt.»

«Manchmal war ich am Burger-Grill»

Der amtierende Weltmeister hat also tatsächlich bei McDonald’s Burger gewendet? «Manchmal war ich tatsächlich am Grill. Aber meistens stand ich am zweiten Fenster des Drive-in. Ich habe an Wochenenden gearbeitet und war der Typ, der das Essen herausgab. Sie wollten, dass ich sagte (er wechselt zu einem amerikanischen ­Akzent): ‹Hallo, willkommen bei McDonald’s!› Bei Next (ein Kleider­laden) ging es bloss darum, einem ­Typen einen Anzug oder einen Pullover zu reichen und zu fragen: ‹Wie finden Sie den?›»

Greene verzieht sein Gesicht. Den unvergänglichen Verkäufersatz «Das passt, Sir!», hat er nie ausgesprochen. Auch nicht, um sich einfach ein wenig zu amüsieren: «So viel Spielraum habe ich mir nicht genommen. Es war einfach unglaublich monoton. Ich hasse Aufgaben, die mich nicht fordern – aber ich brauchte das Geld.»

Er selbst entschied, die Epilepsie-Medikamente abzusetzen

Wirklich gefordert war Greene zwei Jahre früher, als er sich entschied, seine Epilepsie-Medikamente abzusetzen. Er stellte 2006 nach einem beunru­higenden Anfall, der ihn ins Spital gebracht hatte, fest, dass Alkohol und Schlafmangel die wichtigsten Auslöser für seine epileptischen Anfälle sind. Und er war sich sicher, dass die verschriebenen Pillen seine Leistung beeinträchtigten.

«Für meine Eltern war es hart», gibt Greene zu, «weil mein Bruder Darren ebenfalls Epileptiker ist. Aber es ging ihnen besser, nachdem ich mit meinem Spezialisten gesprochen hatte und dieser in die Absetzung der Medikamente einwilligte, weil ich mein Leben dramatisch geändert hatte. Ich trank keinen Alkohol mehr. Darum war ich mir auch sicher, dass ich mich nicht mehr in Situationen begeben würde, in denen ich einen weiteren Anfall haben würde. Auch jetzt trinke ich nur noch ganz selten Alkohol. Manchmal nach dem Abschluss einer Saison. Aber solange ich am nächsten Tag ausschlafe, geht es mir gut. Meine Freundin trinkt sowieso nicht, das hilft auch.»

Da blaffte er die Freundin an

Seine Freundin, Sian Davis, begleitete ihn schon in seinen Tagen als mittel- und erfolgloser Athlet. «Sian hat alle Tiefpunkte miterlebt. Als es mir schlecht ging, war ich ruppig und habe sie angeblafft. Ich bin nicht stolz darauf. Aber solche Sachen tust du nur Menschen an, die etwas für dich empfinden. Es ist merkwürdig, wie diese Dinge funktionieren. Aber sie hat mich durch wirklich harte Zeiten begleitet.»

Erneut getestet wurde Greene, als sein Trainer Benke ­Blomqvist 2009 nach Schweden zurückkehrte. «Ich war wirklich erschüttert, weil er sehr gut auf mich aufgepasst hat. Und weil wir uns als Partner entwickelt haben. Aber Benke hat mir geraten, zu Malcolm Arnold nach Bath zu gehen. Ich wusste damals nicht viel über Malcolm – aber er ist unglaublich.» Der heute 72-jäh­rige Arnold hatte schon viele grosse Hürdenläufer gecoacht, Olympiasieger John Akii-Bua etwa oder den zweimaligen Weltmeister Colin Jackson.

Als Greene den WM-Final 2009 als Siebter beendete, war er sich sicher, dass er einmal Weltmeister werden könnte. «Ich hatte so hart gearbeitet, um den Final überhaupt zu erreichen. Ich war mental ausgelaugt, aber ich wusste, der Sieg war in Griffweite. Ich habe zu Malcolm gesagt: Das nächste Mal kann ich gewinnen.»

Seine Erfolge schreibt er einem trostlosen Hügel in Bath zu

Es brauchte dazu allerdings immer noch ein mörderisches Trainingsprogramm in Bath. Ständige Läufe den gnadenlosen Hügel von Claverton Down hoch und wieder hinunter. «Malcolm sagt mir immer: ‹Oh, als ich mit John Akii-Bua in Uganda war, hatten wir nichts ausser der roten Sonne und dem Himmel.› Und ich sage dann jeweils: ‹Yeah, aber das ist mehr, als wir hier in Bath haben.› Normalerweise ist es nass und der Wind heult. Es ist rau. Dafür kann kein Rennen jemals so hart sein, wie wenn du mitten im Winter einen vereisten Hügel in Bath hochrennen musst.»

Seine drei Goldmedaillen an gros­sen Titelkämpfen schreibt Greene diesem trostlosen Hügel zu. «Mein Selbstvertrauen fusst auf dieser Vorbereitung. Wenn ich an der Startlinie stehe, weiss ich, dass ich alles getan habe, um bereit zu sein. Wenn jemand mich schlagen will, dann muss er schon ein ganz besonderes Rennen laufen. Viele Menschen sind abergläubisch – aber ich brauche keinen Glücksteddy. Und ich muss auch nicht meine Schuhe in einer bestimmten Reihenfolge anziehen. Ich glaube an mich. Ein paar Jungs mögen bei perfekten Bedingungen, die wir in unserem Land sowieso nie haben, schneller laufen als ich. Aber ich konzentriere mich immer darauf, die Rennen zu gewinnen, die wirklich zählen.»

Nach dem Weltmeistert-Titel hatte er kein besonderes Gefühl

Nach seinem Weltmeistertitel in Daegu brauchte der Maurersohn aus Llanelli lange, um seinen Erfolg zu verarbeiten. «Es war merkwürdig. Mein Vater rief mich zwei Stunden danach an und sagte: ‹Gut gemacht.› Ich wusste nicht, was ich anderes antworten sollte als: ‹Danke.› Ich hatte alles erreicht, was ich mir je vorgenommen hatte, aber ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich hatte nur das Gefühl, eine Aufgabe erledigt zu haben. Wenn meine Eltern da gewesen wären, wäre ich wahrscheinlich in Tränen ausgebrochen. Aber ohne sie dachte ich bloss, dass ich sieben Typen geschlagen hatte, die ich bereits früher im Jahr bezwungen hatte. Das verhindert, dass du überwältigt wirst.»

Der Morgen danach allerdings war anders. Greene lehnt sich nach vorne, als er erzählt, mit einem fast begeisterten Lächeln: «Es war ein unglaublicher Moment. Ich bin aufgewacht und dachte: ‹Ja, du bist wirklich Weltmeister. Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der das, was ich tue, besser kann.›»

«Ich werde nicht an mir zweifeln»

Inzwischen hat Greene genügend Sponsoren und keine Geldsorgen mehr. An den Olympischen Spielen in der Heimat führt er die Britischen Leichtathleten als Teamcaptain an. Und in seinem Rennen über 400 Meter Hürden ist er der grosse Favorit. Aber das scheint ihn überhaupt nicht zu berühren: «Malcolm denkt, dass du entweder mit solchen Situationen umgehen kannst – oder eben nicht. Ich persönlich denke, dass du lernen kannst, damit umzugehen. Und ich wurde von persönlichen Erfahrungen geformt. Ich denke nicht, dass ich ein Problem haben werde. Ich habe mich sehr wohl gefühlt, als an den Weltmeisterschaften alle eine Medaille von mir erwartet haben. Ich werde jetzt nicht anfangen, an mir zu zweifeln.»

Wie es sich für einen Mann geziemt, der an der Universität eine 10 000 Wörter starke Diplomarbeit über das Hürdenlaufen geschrieben hat, weiss Greene, «dass du deine Höchstleistungen im Alter von 26 bis 29 erreichst. Und das durchschnittliche Alter eines Olympiasiegers über 400 Meter Hürden liegt bei 26,5 Jahren. Ich bin während den Olympischen Spiele exakt 26,5 Jahre alt.» Greene lächelt und es ist in diesem Moment einfach, daran zu glauben, dass er den Druck aushält, der auf ihm lastet.

«Ich glaube, als Fussballer würde ich mich nicht mögen»

Er mag einst bei Swansea City Fussball gespielt und sogar einmal gegen die Altersgenossen von Real Madrid ­einen Penalty verwandelt haben. Aber Greene ist froh, blieb ihm eine Karriere als Fussballprofi verwehrt. Er möchte all die Kämpfe nicht missen, die er gewinnen musste, um Weltmeister zu werden. «Ich mag den Menschen, der aus mir geworden ist. Ich glaube nicht, dass ich mich als Fussballer genauso mögen würde. Als Leichtathlet kannst du dich nicht verstecken. Und all die harten Zeiten, die ich durchgemacht habe, haben mich nur mental stärker werden lassen. Ich möchte meine Vergangenheit für nichts in der Welt tauschen, weil sie mir auch heute noch hilft, mit dem Erfolg umzugehen. Wenn du so wie ich einmal ganz unten warst, fällt es dir leicht, dich auf dein nächstes Ziel zu fokussieren.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.07.12.

Donald McRaes Artikel «I sometimes was on burger duty» erschien erstmals im «Guardian». Übersetzung: Florian Raz.

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