Das Problem wird gleich am Anfang deutlich, als Manel Gamper auf der Bühne steht. Man habe wenig gesprochen über den «Avi», sagt er. «Avi» ist katalanisch für Opa, und der von Manel hiess Joan Gamper, eigentlich Hans Gamper. Der Schweizer, der im November 1899 den FC Barcelona gründete.
Nur ein paar Strassen von der Stätte der damaligen Zusammenkunft entfernt wird im prächtigen Teatre Romea in Barcelonas schummriger Altstadt an diesem Montagabend ein neuer Dokumentarfilm («Gamper – der Erfinder Barças») über einen Mann uraufgeführt, der, so viel sei vorweggenommen, auch danach zu grossen Teilen ein Mysterium bleibt. Denn das Problem ist eben, dass jahrzehntelang nicht über ihn gesprochen wurde. Und dass darüber wohl so manches verschüttging.
Nach dem Suizid war er aus den Familiengesprächen verbannt
«Der ‹Avi› war ein Tabu», sagt Emma Gamper. «Bis ich 16 war, wusste ich nicht wirklich, wer mein Grossvater war», sagt auch Xavier Gamper. Und Manel, dem ältesten der drei lebenden Enkel, scheint auf dem in den blau-roten Vereinsfarben ausgeleuchteten Podium unter den Fotos des Gründers die Stimme zu stocken, als er sich an den Tag erinnert, an dem seine Mutter das Thema dann doch mal anschnitt: Ihr sollt wissen, was passiert ist – habe sie da gesagt –, denn es könne sein, dass sie es sonst von anderen erfahren.
Passiert war, dass sich Hans Gamper im Juli 1930 das Leben nahm, was damals in katholischen Landen als äusserst unehrenhaft galt, und so war es wohl eine Mischung aus Scham, Schmerz und Selbstschutz, die ihn für viele Jahrzehnte aus den Familienunterhaltungen verbannte. Erst nach und nach erarbeiteten sich die Enkel seine Figur. Emma – 20 Jahre nach seinem Tod geboren – hat darüber sogar ein Buch geschrieben: «Von Hans Gamper zu Joan Gamper: eine emotionale Biografie».
Die Enkel leiten auch durch den Dokumentarfilm, eine katalanisch-schweizerische Koproduktion, die von Gampers Geburtshaus in Winterthur zu Stätten seiner Jugend in Zürich führt. Bevor er der Geschäfte wegen nach Barcelona auswanderte, widmete er sich dort enthusiastisch dem Sport, hielt Schweizer Rekorde über 400 und 800 Meter und verliebte sich speziell in den Fussball. 1896 gehörte er zu den Gründern des FC Zürich, damals noch mit mehreren Abteilungen.
Auch der Museumsdirektor des FC Zürich ist deshalb ins Teatre Romea gekommen. Allerdings räumt Saro Pepe ein, dass Gamper in Basel bekannter sei, weil es da immer dieses Missverständnis gegeben habe, wonach er aus Basel stamme. «Erst in den letzten zehn Jahren haben wir (in Zürich) begonnen, ihn zu entdecken. Und wir alle beginnen jetzt zu entdecken, wie wichtig er für den gesamten Schweizer Sport war.»
Das «Missverständnis» rührt nicht zuletzt von der Sache mit den Trikotfarben. Blau-Rot die des einen FCB, Blau-Granatrot die des anderen. Da Gamper ausserdem vor seiner Emigration zeitweise als Mitglied in Basel geführt wurde, vereinzelt Spiele für den Verein bestritt und darüber hinaus überliefert ist, dass er während seiner insgesamt fünf Amtszeiten als Barça-Präsident mal Matchplakate aus Basel benutzte (1908) und die Basler für zwei Freundschaftsspiele verpflichtete (1916), gibt es wohl schlechtere Hypothesen, als die Leibchengleichheit (auch) mit einer Sympathie für den FC Basel zu erklären. Furchtbar kann er den Klub jedenfalls kaum gefunden haben.
Barcelona sei eine spannende Metropole, schrieb Hans Gamper kurz nach der Ankunft in die Heimat – es fehle nur der Sport.
Verein, Familie und auch die in dem Film befragten Historiker vertreten nach Jahrzehnten der Debatte inzwischen folgende Version: Die englischen Gebrüder Witty, seit der zweiten Vereinssitzung im Dezember 1899 bei Barça an Bord, hätten bei ebenjener Sitzung die blau-granatroten Farben vorgeschlagen, weil sie in diesen für ihre Schule Merchant Taylors in Liverpool einst Rugby gespielt hätten. Und Gamper habe dem wegen seiner Basler Connection gern zugestimmt.
Mangels schriftlicher Belege wird es weiterhin Raum für Glaubensfragen geben – das Tessiner Wappen, Kugelschreiber der Epoche: Bei der Suche nach Erklärungen hatte die Fantasie schon immer freien Lauf. Warum auch nicht – Mythen gehören zum Fussball, und immerhin besteht über viel anderes Einigkeit. Nicht zuletzt darüber, dass Gamper in jenem November 1899 im Prinzip nichts anderes wollte als Fussball spielen. Aber dafür musste er eben erst mal einen Verein gründen. Barcelona sei eine spannende Metropole, schrieb er kurz nach der Ankunft in die Heimat – es fehle nur der Sport.
Nirgendwo in Kontinentaleuropa hatte sich das Spiel so früh ausgebreitet wie in der Schweiz, wo englische Studenten schon um 1870 erste Vereine am Genfersee und 1879 den FC St. Gallen als ältesten, heute noch bestehenden Klub gründeten. Schweizer Reisende, insbesondere Geschäftsleute, wurden so ihrerseits im übrigen Europa zu Pionieren des Spiels. «Gampers Geschichte ist nur eine von vielen ähnlichen», erklärte Pepe in Barcelona: «Aber seine ist die beste. Denn er hat den grössten Klub gegründet.»
Von 38 Mitgliedern zu 900 Millionen Jahresumsatz
Gegründet – und gerettet, das betonten seine Enkel mehrfach. Nachdem sich der Klub unter anderer Führung von einem mehrheitlich protestantischen (weil britisch-schweizerischen) zu einem katholischen (und damit den lokalen Eliten offenstehenden) Verein gewandelt hatte, war Gamper zunächst aussen vor. Die Heirat mit einer katholischen Frau näherte ihn wieder an, und bald wurde er auch dringend gebraucht. Der Verein war komplett pleite, im Sommer 1908 gab es nur noch 38 Mitglieder.
Gamper gewann die Abtrünnigen persönlich von Haustür zu Haustür zurück und investierte aus seinem mittlerweile aufgrund erfolgreicher Geschäfte stattlichen Vermögen in den Klub. 1909 konnte man das erste Stadion für 5000 zahlende Zuschauer eröffnen.
«Nur seine Hartnäckigkeit hat das alles möglich gemacht», sagte Josep Maria Bartomeu, Präsident eines heutigen Megaklubs, anlässlich des Abends in der Barça-Familie, Gampers Familie gewissermassen. «Erschrecken» würde er – der überzeugte Amateurverfechter Hans Gamper, der über der Verweigerung von Gehaltzahlungen sogar einen Star wie den Torwart Ricardo Zamora verlor –, wenn er sehen würde, was aus Barça geworden sei, glaubt derweil Enkel Xavier. 900 Millionen Jahresumsatz, bis zu 100 Millionen Jahresgehalt allein für Lionel Messi. Aber eben auch viel Ruhm und Ehre. «Wir werden ihm nie genug danken können», findet Bartomeu.
Es waren politische Motive, die das traurige Ende von Hans Gamper beim FC Barcelona einleiteten.
Andere Dinge haben sich hingegen weniger verändert, die Politik etwa mit ihren schon zu seiner Zeit virulenten Spannungen zwischen katalanischer Nationalbewegung und Madrider Zentralstaat. «Fem esport, fem patria», habe Gamper bei der Eröffnung des zweiten Stadions Les Corts im Jahr 1922 verkündet, erinnerte Bartomeu: «Machen wir Sport, machen wir Heimat.»
Die Quellen legen nahe, dass Gamper die Rolle des Vereins als Ort katalanischer Identitätsbildung von Beginn an begrüsste. Direkt politisch betätigte er sich nicht. «Ihm wurde vorgeworfen, dass er katalanischer Separatist sei», sagt Enkel Manel in dem Film. «Aber wie soll das gehen? Separatist ist doch einer, der sich trennen will. Wie soll sich ein Schweizer von Spanien trennen?»
Da lachte das Publikum, aber es waren in der Tat politische Motive, die das traurige Ende von Hans Gamper beim FC Barcelona einleiteten. 1925 buhten die Zuschauer vor einem Freundschaftsspiel die spanische Nationalhymne aus, woraufhin Diktator Primo de Rivera die Vereinsführung absetzen und für ein halbes Jahr das Stadion schliessen liess.
Wer mag, kann in dieser Intervention eine kuriose Parallele zum Notstandseingriff der spanischen Regierung in Kataloniens Amtsgeschäfte vorigen Herbst sehen. Allerdings darf die Hymne im heutigen Spanien ohne drastische Folgen niedergepfiffen werden: Vor dem Finale um den Königspokal tut das bei jeder Beteiligung Barças (oder einer baskischen Mannschaft) regelmässig das halbe Stadion.
Die Weltwirtschaftskrise brachte sein Ende
Gamper jedenfalls ging vorübergehend ins Exil, zurück in die Schweiz, nach Aarau. 1929 kehrt er nach Barcelona zurück und, so jedenfalls die Überlieferung, verspekulierte sich in der beginnenden Weltwirtschaftskrise an der Börse. Die Verzweiflung darüber führte zu seinem Selbstmord im Juli 1930.
Der Suizid war der letzte Baustein einer Persönlichkeit, die in so ziemlich allem dem widersprach, was sich ab 1939 nach gewonnenem Bürgerkrieg das nationalkatholische Regime auf die Fahnen schrieb. Selbstmörder, Ausländer, Protestant, Katalanist – so einer hatte im Spanien des faschistischen Diktators Franco keine Hommagen zu erwarten.
Als Barcelona im Jahr 1957 das Stadion Les Corts zugunsten einer neuen, grösseren Heimat verliess und Mitglieder eine Benennung zu Ehren Gampers anregten, verfügte die Madrider Regierung an die Provinzpräfektur: «Denkt nicht mal an diesen Namen, der da die Runde macht.» Auch deshalb heisst Barcelonas weltberühmtes Stadion bis heute einfach nur Camp Nou: «Neues Feld».
Gehuldigt wird dem Klubgründer inzwischen trotzdem. Jeden Sommer wird eine internationale Mannschaft zum Saisoneröffnungsspiel um den «Gamper-Pokal» eingeladen. Das Barça-Museum, jährlich von fast zwei Millionen Menschen besucht, ist nach ihm benannt. Und auch das Klubgelände vor den Toren der Stadt, auf dem der Messi von heute trainiert und die Messis von morgen gezüchtet werden.
Seine Persönlichkeit bleibt trotzdem Geheimnis und Legende, zwischen protestantischem Glauben und katholischer Gesellschaft, zwischen der Schweiz und Katalonien, zwischen Abenteuergeist und einem möglichen Hang zur Depression. Das alles passt durchaus ins Bild. Barça sei oft ein widersprüchlicher Verein, resümiert der Film am Ende angenehm untriumphalistisch, und auch in diesem Vermächtnis spiegele sich eben sein Gründer: «Ein Hans, der zum Joan wurde.»
Am Ende des Abends im Teatre Romea kommen alle Nachfahren auf die Bühne. Enkel, Urenkel, die Grossfamilie. Sie sind genau zu elft. Hans Gamper hätte das gereicht, um einen Fussballklub zu gründen.