Der perfekte Wurf zwischen Party-Volk und VIP-Snobs

Die Weltmeisterschaft ist vorbei, und der Schotte Gary Anderson hat seinen Titel verteidigt. Darts erfreut sich immer grösserer Beliebtheit bei den Zuschauern. Mehr als der perfekte Wurf interessiert das Drumherum. Ein Augenschein.

epa04546818 Phil Taylor of England before the PDC World darts final against Scotland's Gary Anderson at the Alexandra Palace in London, Britain, 04 January 2015. EPA/SEAN DEMPSEY

(Bild: SEAN DEMPSEY)

Die Weltmeisterschaft ist vorbei, und der Schotte Gary Anderson hat seinen Titel verteidigt. Darts erfreut sich immer grösserer Beliebtheit bei den Zuschauern. Mehr als der perfekte Wurf interessiert das Drumherum. Ein Augenschein.

Der niederländische Darts-Spieler Raymond van Barneveld steht auf einem kleinen Podest in der Mitte des «Alexandra Palace». Als aus den Musikboxen «Eye of the Tiger» von Survivor erklingt, bahnt sich van Barneveld seinen Weg durch die etwa 3000 Zuschauer auf die Bühne für das Halbfinale dieser 23. Weltmeisterschaft der Professional Darts Corporation.

Die Ehrengäste strecken ihm vom linken Rand des Laufstegs ihre Hände entgegen, gegenüber hat sich das Fussvolk platziert. An dieser drei Meter schmalen Gasse spaltet sich die Darts-Szene – und Barry Hearn, der Direktor des Verbands, schwimmt gerade verbal in diesem Zwischenbecken herum. «Wir müssen an irgendeinem Punkt gucken, die Veranstaltung grösser zu machen, aber ich will die Atmosphäre nicht verlieren.»

Physisch steht Hearn, 67, in einem massgeschneiderten Anzug mit Lederschuhen an den Füssen in der überdimensional grossen Empfangshalle. Sein äusseres Erscheinungsbild passt so gar nicht zu der karnevalsartig kostümierten Feiergemeinde im Spielsaal Ally Pally. Nicht mal ein winziges modisches Zubehör lässt ihn abweichen von seiner funktionärstypischen Präsenz – aber der Vermarkter von Darts ist ja auch weniger Fan, als vielmehr Verkäufer und Botschafter der Sportart.

Absolut keine Begabung habe er für das Spiel mit den Pfeilen, sagt er: «Ich kann nicht erzählen, wie schlecht ich bin.» Sein Geld verdient der passionierte Angler in Nischensportarten. Zu seinen grössten Fängen gehörten Bowling, Snooker und Boxen. Die Kleinen haben ihn gross werden lassen. Zu einem Millionär gemacht. Seit Neuestem gehört Darts dazu.

Ein paar Schallwellen transportieren das Gegröle des Publikums zu ihm herüber. Das Finale zwischen dem Schotten Gary Anderson, der seinen Status als Weltmeister mit 7:5 verteidigt, und seinem englischen Kumpel Adrian Lewis geht auf die Entscheidung zu, was Hearn nicht zu stören scheint. Seine Zielscheibe sind die Fernsehkameras, er sucht sie auf, wie die Pfeile des im Achtelfinale ausgeschiedenen Altmeisters Phil Taylor das rote Feld der Triple 20.

Einmal sagt Hearn, dass Darts momentan das heisseste Ticket sei und dreht sich weg vom Aufnahmegerät im Stile von Taylor, wenn dieser im Jubel der Fans baden möchte für die geworfene Höchstpunktzahl 180. «Manchmal muss ich mich selber zwicken, wie sich das Turnier entwickelt hat», sagt Hearn.

epa05087106 The fans during the William Hill World darts world championship final between Gary Anderson and Adrian Lewis at the Alexandra palace in North London, Britain, 03 January 2016. EPA/SEAN DEMPSEY

Trotzdem interessiert sich der Grossteil der Gäste dann doch mehr für sich selbst und diese seltenen Momente der Perfektion als für die Protagonisten selbst. Hohe Punktzahlen – speziell der Bestwert 180 – animieren nämlich dazu, eigenhändig beschriftete Papierschilder, die der Veranstalter neben Schaumstoffhänden vorab verteilt hat, in die Kameras zu halten. Die Ordnungskräfte sind angewiesen, Plakate zu entsorgen, die keine Fernsehtauglichkeit aufweisen.

«Ich mag es nicht, die Zuschauer einzuschränken», sagt Hearn, deshalb sei die einzige Restriktion der «gesunde Menschenverstand». Über den Abend hinweg werden ziemlich viele Plakate zerrissen. Auf einem Poster, das den Qualitäts-TÜV bestanden hat, steht: «Wir sind deutlich reicher als ihr.» Eine Botschaft aus dem Ehrengastbereich an die Zuschauer auf den grünen Plastikschalen der provisorisch aufgebauten Tribünen.

Die konternden Gesänge zielen auf Spiessigkeit ab. Die Eintrittspreise pendeln zwischen 40 und 150 Pfund pro Veranstaltung. Das gegenseitige Necken der verschiedenen Publikumsschichten gehört zum Standard-Repertoire der Darts-Gesellschaft wie das Trinken von Alkohol und die karnevalsartige Kostümierung. In der anonymen Hülle eines Superman oder Teletubby fällt es eben leichter, jegliches Schamgefühl zu unterdrücken.

Das Interesse wächst, aber die seriösen Medien machen einen Bogen um Darts.

Diese Schwerelosigkeit auf dem Sockel eines Sportereignisses findet das Partyvolk nicht beim Fussball und auch nicht beim Boxen – sondern lediglich beim Darts. Der diskothekartige Ally Pally dient mittlerweile als Plattform der Selbstinszenierung wie sonst vielleicht nur das Münchner Oktoberfest oder ein gewisser Strandabschnitt auf der Ferieninsel Mallorca. Als die Sicherheitskräfte zu Beginn eines Spiels die Menge zum Hinsetzen auffordern, grölt sie zurück: «Steht auf, wenn ihr Darts liebt!» Auffallen tut, wer nicht auffällt.

Barry Hearn fällt mit seinen Superlativen auf. Die Veranstaltung sei ein einzigartiger Kuchen, der köstlich schmecke, sagt er. Zum ersten Mal seien Spiele auf dem asiatischen Fernsehmarkt übertragen worden und überhaupt träume er von einem chinesischen Spitzenspieler. Der Drang von Hearn, Darts in andere Länder und Kontinente zu transportieren, überfliegt die Probleme auf dem heimischen Gelände.

Die seriösen Tageszeitungen in England halten sich fern und überlassen die Berichterstattung lieber den Boulevard-Blättern. Dabei kündigt Hearn hinsichtlich des Standorts fürs nächste Jahr an: «Wir werden bleiben, wo wir sind.» Dort, wo der Kunde König ist: im «Ally Pally» – auch «The People’s Palace» genannt.

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