Der rote Teppich für eine Momentaufnahme

Wer zum Schweizer Sportler des Jahres gewählt wird, ist noch kein Star. Aber beredt Auskunft über Zustand und Eigenheiten der Nation geben die Gekürten trotzdem.

Viel Lärm um fast nichts: Die Sports Awards. (Bild: RF/Paolo Foschini)

Wer zum Schweizer Sportler des Jahres gewählt wird, ist noch kein Star. Aber beredt Auskunft über Zustand und Eigenheiten der Nation geben die Gekürten trotzdem.

Das Wochenende klingt aus, der TV läuft und mitten hinein in die gute Stube bittet Rainer Maria Salzgeber: «Rufen Sie jetzt an für Ihren Kandidaten im Bundesrat.» Via TED-Voting die Landesregierung wählen? Ein abwegiges Szenario.

Ja, aber: Drei Tage vor der Wahl des Bundesrats werden am Sonntag an den «Credit Suisse Sports Awards» die Schweizer Sportler des Jahres erkoren (SF1, 20.05 Uhr). Die Fernsehzuschauer werfen während der Ausstrahlung ihre Stimmen in die virtuelle Urne ein. Bereits Mitte November steuerten die Sportjournalisten und die von Swiss Olympic unterstützten «Top Athletes» ihre Vota bei und bestimmten damit gleichzeitig die Nominierten (siehe nächste Seite). Qua Einschaltquote und Marktanteil sind die Sports Awards und die Bundesratswahl auf ungefähr gleicher Höhe: Die letzte Sportgala war hierzulande mit einem Schnitt von über 850 000 Zuschauern immerhin die erfolgreichste TV-Show des Jahres.

Die beiden Medienereignisse lassen sich auch auf einer symbolischen Ebene vergleichen: Wie die sieben Bundesräte geben unsere Sporthelden ein Bild davon ab, wer wir sind. Ein Schweizer Bode Miller, der mehr Lebemann als Skifahrer ist? Ein Zampano à la Cristiano Ronaldo? Eine Exzentrikerin ähnlich der Leichtathletin Florence Griffith-Joyner, mit Fingernägeln in Überlänge? Schwer vorstellbar hier.

Auf keinen Fall: exaltiert

Schon der Blick über die Grenze reicht: Oliver Kahn oder Mario Cipollini – das sind Sportstars, wie sie die Schweiz in den wechselseitigen Resonanzräumen Medien, Öffentlichkeit und Publikum nicht hervorbringt, da sie nicht als Vorbilder taugen. Bescheiden und bodenständig will die Helvetia ihre Helden, so wie es Dario Cologna und Carlo Janka sind. Oder Ariella Kaeslin war. Aber auf keinen Fall exaltiert.

Stilvolles Auftreten auf öffentlichem Parkett und weltmännisches Benehmen genügen. Schon das ist suspekt. Das weiss Roger Federer nur zu gut. Das Modell eines neuen Schweizer Sportstars, in den 1950er-Jahren vom glamourösen Radrennfahrer Hugo Koblet verkörpert, hat sich nicht durchgesetzt. Roger Federer ist früh der urigen Eidgenossenschaft entwachsen, was nicht per se dem Ruhm im eigenen Land abträglich sein muss: Im Jahr 2003, nach seinem ersten Wimbledon-Sieg, wurde der Baselbieter nicht nur zum Schweizer Sportler des Jahres gewählt, sondern gleich auch noch zum «Schweizer des Jahres».

Spätestens 2005 aber war die Grandezza, die der Tennisstar auf und neben dem Court ausstrahlte, unheimlich: «Töffli-Bub» Tom Lüthi gewann den Titel und zog eine schmerzhafte Bremsspur auf die zurecht erhobene Brust King Rogers.

Natürlich, 2006 und 2007 folgten weitere nationale Ehrungen für Federer. Den renommierten Laureus-Award für den Weltsportler des Jahres nahm der 30-Jährige von 2005 bis 2008 viermal persönlich entgegen – der Schweizer Wahl hingegen bleibt er seit Jahren fern. Mag sein, dass der Startypus «Roger Federer» eine zweite Chance bekommt: Jetzt, wo Federer das Verlieren und Wiederaufstehen kennt.

Denn das Volk begünstigt vor allem den, der ihm nahe ist. Das hat die Vergangenheit gezeigt. Ab 1999 teilten das TV-Publikum und die Sportjournalisten die Ernennung der Vorzeigesportler des Jahres in gleichen Massen unter sich auf. Davor, seit 1950, hatte diese Aufgabe einzig den Medien oblegen. 2004 kamen zum Stimmenpool der Presse die Spitzensportler selbst hinzu.

Publikumswahl zurückgestuft

Doch nachdem 2005 Lüthi statt Federer obenaus schwang und letztes Jahr Schwingerkönig Kilian Wenger dank TED-Voting vom siebten Rang aus den Vorwahlen (durch Presse und Spitzensportler) in zwei Wahlgängen hinter Sieger Simon Ammann zum Vize-Sportler des Jahres vorpreschte, haben die Macher der Sendung reagiert: Neu machen die Stimmen der Medien, Sportler und des Publikums je ein Drittel aus. 76 Redaktionen haben eine Stimme, wobei nach Auflage gewichtet wird, und 506 Sportler. Die Beteiligung am TED jedoch wird nicht kommuniziert.

Man habe das Wahlprozedere geändert, um der Meinung der Spezialisten mehr Gewicht zu geben, sagt die Mediensprecherin der Awards. Es gibt also weniger zu bestimmen zu Hause auf der Couch.

Damit zollen die Veranstalter Tribut an den Sport als globales Phänomen. Die erzielten Erfolge sollen in einem grösseren Referenzrahmen als dem nationalen objektivierend verordnet werden – was eher den Medien und Spitzensportlern zugetraut wird als der zufälligen Gunst einer Publikumsbefragung. Wohl zu Recht. Aber das mächtigere Korrektiv zur Massregelung des Volkes wird nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Sport in der Schweiz seit jeher eine besondere Stellung einnimmt und ein nationaler Sportstar stets die leitenden Mentalitäten und Diskurse seines Landes spiegelt. Kilian Wenger ist, zumindest zurzeit, als ein solcher Star einzustufen.

Es überrascht nicht, dass in Zeiten, da Konstitution und Konstruktion der eidgenössischen Identität prekär sind und Unsicherheit vorherrscht, das «Nationalspiel» Schwingen mit seinen urschweizerischen Grundwerten an Zugkraft gewinnt und damit auch der Schwingerkönig in besonderem Masse populär wird. Die Anlage der Sports Awards ist letztlich widersprüchlich: Der rote Teppich wird zwar ausgerollt, die Athletinnen pudern sich zu Sternchen, das mediale Setting ist das einer Glamour-Show – aber Stars für die Schweiz werden in dieser Aufmerksamkeits-Maschine, auf HD Suisse kristallklar in Szene gesetzt, nicht gemacht.

Was nicht falsch sein muss. Aber das Brimborium täuscht: Die Auszeichnung «Schweizer Sportler des Jahres» ist nicht mehr als eine Momentaufnahme. Oder würden Sie den Kunstturner Daniel Giubellini (1990 gewählt) oder den Hürdenläufer Marcel Schelbert (1999) auf der Strasse erkennen?

Es liegt mitunter in der Geschichte des Landes begründet, welche Athleten im Wechselspiel mit den Medien zu Berühmtheiten werden. Der Schweizer Sport ist seit seiner Geburt Anfang des 19. Jahrhunderts ausgerichtet auf das Volk. Er ist Breitensport. Und noch immer ist das nationale Selbstverständnis dominiert von der Idee, dass die Qualität des Kollektivs eher vom harmonischen Zusammenhalt und der Unterordnung bestimmt wird als durch Autorität und Ausstrahlung Einzelner. Eine Überzeugung, die auch auf das Fehlen einer monarchischen Tradition, die Herausbildung aristokratischer Regierungsformen und den Entscheid für die Konkordanzdemokratie zurückzuführen ist. Sport und Politik sind eben doch nur schwer zu trennen.

So gelingt es nur wenigen ehemaligen Sportstars, ihre Karrieren nach dem Rücktritt mit Breitenwirkung erfolgreich fortzuführen. Nur wer sich über viele Jahre im kollektiven Bewusstsein verankert und im Spiel der dynamischen Aushandlungsprozesse zwischen Medien, Publikum und Öffentlichkeit besteht – wie es etwa Bernhard Russi als Sportler, Werbeträger und Co-Kommentator gelingt –, entwickelt ein nachhaltiges ­Identifikationspotenzial. Welches wiederum, indem breite Gesellschaftsschichten ansprochen werden, aus dem Sportler erst eine nationale Ikone macht.

Die Nominierten:

Sportler: Simon Ammann (Skispringen), Fabian Cancellara (Rad), Dario Cologna (Ski-Langlauf), Didier Cuche (Ski alpin), Roger Federer (Tennis), Daniel Hubmann (Orientierungslauf), Carlo Janka (Ski alpin), Iouri Podladtchikov (Snowboard), Nino Schurter (Mountainbike), Xherdan Shaqiri (Fussball).

Sportlerinnen: Lara Dickenmann (Fussball), Tiffany Géroudet (Fechten), Ursina Haller (Snowboard), Ariella Kaeslin (Kunstturnen), Sarah Meier (Eiskunstlauf), Swann Oberson (Schwimmen), Fanny Smith (Skicross), Caroline Steffen (Triathlon), Giulia Steingruber (Kunstturnen), Lisa Urech (Leichtathletik).

Teams:HC Davos (Eishockey), Schweizer Männerstaffel (Ski-Langlauf), U-21-Nationalteam (Fussball).

Behindertensportler: Jean-Marc Berset (Handbike), Heinz Frei (Rollstuhl), Marcel Hug (Rollstuhl).

Newcomer: Fabian Frei (Fussball), Juliana Robra (Judo), Giulia Steingruber (Kunstturnen).

Trainer: Arno Del Curto (Eishockey), Martin Rufener (Ski alpin), Pierluigi Tami (Fussball).

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09/12/11

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