Als Jahrhundertpferd gefeiert, für einen Rekordpreis verkauft, beim Deckakt verletzt – bei der Europameisterschaft im Pferdesport in Aachen (bis 23. August) ist Totilas zurück und mit ihm der Hype um den Wunderhengst der Dressur.
Es war einmal ein Pferd, das war etwas grösser als alle anderen und es war sehr beeindruckend. Totilas. Der lackschwarze Riese. Das Dressurpferd aller Dressurpferde, der «Popstar unter den Pferden» (Norddeutscher Rundfunk). Kurz vor den Reit-Europameisterschaften in der Aachener Soers (bis 23. August) wird «das Jahrhundertpferd» («Die Welt») gehypt als wäre es ein Wiedergänger von Fury und dem schwarzen Hengst Bento in einem.
Totilas, 15, ist ein «königliches Warmblut» aus den Niederlanden. Der eigenwillige Riese hat eine sehr wechselvolle Vita: Noch mit sechs Jahren galt er als kaum reitbar und beherrschte nur bei guter Laune die Grundarten des Dressursports. Dann begann Toto, so sein Spitzname, Rekordpunktzahlen und Weltmeistertitel zu sammeln.
Zurück in Wettkampfform: Totilas mit Reiter Matthias Alexander Rath am 17. Juli 2014 beim CHIO in Aachen. (Bild: Keystone/ROLF VENNENBERND)
Mit seinen immensen 1,75 Metern Stockmass war er eine der höchsten Erhebungen des pannekoekenflachen Landes – bis ihn der deutsche Exreiter und Pferdeunternehmer Paul Schockemöhle 2010 den Holländern wegkaufte. Man spricht von 10 bis 15 Millionen Euro. Die Summe wurde nicht dementiert. Nie war ein Vierbeiner so teuer.
Im Lustrausch vom Ledergestell gerutscht
Kurz vor London 2012 verletzte sich der Favorit auf Olympiagold, dann war Reiter Matthias Rath langfristig erkrankt. Totilas wandte sich anderen Aufgaben zu. Zur Abfederung der Kaufsumme sollte sein wertvolles Sperma etwas abwerfen. 4000 Euro kostet eine Portion; kommt es zur Trächtigkeit, wird der gleiche Betrag noch einmal fällig.
Doch der unbändige Kraftbolzen rutschte 2013 vom Ledergestell, das ihm eine Stute vorgaukeln soll und verletzte sich im Lustrausch am Knie. Deckakt und Kostendeckung gescheitert. Saison gelaufen.
Ein Fohlen aus der Zucht mit dem Dressurpferd Totilas. Aufgenommen im Juni 2011 bei der «Paul Schmockemöhle Pferdehaltung GmbH» auf dem Gestüt in Lewitz. (Bild: Keystone/Danny Gohlke)
«Seitdem hatte er keinen Deckeinsatz mehr», erklärt Matthias Rath, 31, «und das soll auch so bleiben bis Ende nächsten Jahres.» Leistungssport ist Selbstkasteiung. Alles für Gold. Alles für Deutschland. Erst die EM, dann Rio.
Je grösser die Kulisse, desto präsenter das Pferd
Bei seinem ersten Auftritt seit einem langen Jahr Anfang Juli liess Totilas seinen massigen Corpus in solcher Eleganz durchs Viereck tänzeln, dass er gleich ins EM-Team nominiert wurde. Quasi eine Wildcard für den früher fast Unzähmbaren. Nicht eben zur Freude derer, die jahrelang geritten und jetzt nur noch Reserve sind. Deutschland, einst unangefochten, lechzt nach Jahren mässigen Erfolgs wieder nach Dressurgold. Und Totilas ist eben Totilas.
Der Reiter und sein Dressurriese: Matthias Rath bedankt sich bei Totilas. (Bild: Imago)
Aachen sei «das Grösste», teilt Matthias Rath mit. Die Dressurbewerbe im voll besetzten Hauptstadion («Eine solche Arena gibt es kein zweites Mal auf der Welt») werde schier «gigantisch». Und das Riesenpferd wächst weiter: «Je grösser die Kulisse», so Rath, »desto grösser und präsenter ist er. Für Totilas kann es gar nicht gross genug sein.» «Hürra Totilas» schmettert ihm «Bild» entgegen.
Der Vorwurf der Tiequälerei wurde abgeschmettert
Das Pferd hat längst ein eigenes Wappen (ein ältlich geschwungenes T), eine eigene Website totilas.com (Pferdefuss: letzte Aktualisierung 2012) und tatsächlich eine eigene Mode-Collection (Pferdefuss: keine Pferdemotive). Er schuftet angeblich freiwillig: Als die Tierschutzorganisation Peta 2013 Strafanzeige wegen angeblich umstrittener Trainingsmethoden stellte («Rollkur»), schmetterte ein Gericht das Verfahren wegen Tierquälerei ab.
Dressurreiter Matthias Rath im Aktuellen Sportstudio über die Arbeit mit Totilas, umstrittene Methoden und die EM in Aachen (mit einem Klick aufs Bild geht es zur ZDF-Mediathek oder hier):
Dressurreiten ist eine vielfach komplexe Disziplin. Piaffen, Passagen und Traversalen sind, sagen Kritiker, vom natürlichen Bewegungsverhalten eines Pferdes so weit entfernt wie Furys Broken Wheel Ranch von der Aachener Soers. Über die Art und Weise der Auftritte streiten Insider heftig: Klassisch schön oder markant spektakulär wie bei Totilas. Rath und Pferd arbeiten mit dem niederländischen Ausbilder Sjef Janssen und seinen grenzlegalen Trainingsmethoden zusammen.
Die EM im pferdeverrückten Aachen
Frank Kempermann, Turnierleiter in Aachen, wird dazu mit solchen Sätzen zitiert: «Unsere Dressurreiter müssen spektakulär sein. Wenn die Richter hohe Noten geben, wenn Pferde Stars sind und für volle Stadien sorgen, dann ist der Veranstalter froh.» Es will, klar, sein Event «besser verkaufen». Es geht um Aufmerksamkeit und Sendezeit im TV.
Die Aachener Soers – mit Platz für 40’000 Zuschauern eines der grössten Reitstadien der Welt und Schauplatz der EM. Im Hintergrund das Fussballstadion Tivoli. (Bild: Keystone/FRISO GENTSCH)
Die Reit-WM macht das pferdenarre Aachen derweil völlig kirre. Bei einer Pressekonferenz vergangene Woche im historischen Rathaus fielen Sätze wie «Der Soerser Sonntag findet am Dienstag statt.» Oder: «Deutschland ist dieses Jahr unser Partnerland.» Oder, so der Oberbürgermeister, «das Kulturprogramm September special ist in den August verlegt.»
Totilas, so Matthias Rath, sei «in sehr positiver Stimmung», man müsse nur «noch am Feintuning arbeiten». Diesen Mittwoch geht es los.
Schwarzer Hengst, weisser Hai
Nüchtern betrachtet ist Totilas mit seinen 15 Jahren schon an der Grenze zum reiterischen Seniorenalter, das Turnier jetzt und womöglich Rio 2016 sind die letzten Chancen, die lange unterbrochene Karriere zu retten. Der «schwarze Schönling» (ZDF) wird eine geheime, noch nie gerittene Kür vorstellen – zu einem Melodienmix von John Williams. Der hat die Filmmusik zu «Star Wars» geschrieben und zum «Weissen Hai».
Schwarzer Hengst, weisser Hai – geht es prickelnder? Alle fiebern. Und auf der Website des «Aktuellen Sportstudios» steht die womöglich entscheidende symbiotische Sensation – über Reiter Matthias Rath heisst es da: «Er stammt aus einer Pferdefamilie.»
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» Rutschi rutscht nach, weil Steve Guerdats Goldpferd Nino gesperrt bleibt
» Die Webseite der Europameisterschaft 2015 in Aachen
Das Programm:
Legende: E = Einzelwertung, M = Mannschaftswertung, P = Pas de deux-Prüfung. – Blau = Prüfungen, Gelb: Entscheidung. Violett = Vielseitigkeitsreiten.